Alles Nazi, oder was?

Charlie Kirk kämpfte wortgewaltig für sein stramm konservatives Weltbild. Nicht nur linke Medien verbreiten ein Zerrbild des Ermordeten, das nichts mit der Realität gemeinsam hat. 

Charlie Kirk wirft nach seiner Ankunft an der Utah Valley University Hüte in die Menge. Orem, Utah, 10.9.2025.
Charlie Kirk wirft nach seiner Ankunft an der Utah Valley University Hüte in die Menge. Orem, Utah, 10.9.2025. © Getty Images

Prove me wrong. Beweise mir, dass ich falsch liege. Ein Satz, der über einer Vorlesung zu Karl Popper und den Kritischen Rationalismus stehen könnte. Ein Satz, der das Wesen der demokratischen Auseinandersetzung beschreibt: Ich konfrontiere dich mit meiner Meinung und stelle mich deinem Argument. Wahrscheinlich werden wir einander nicht überzeugen, aber unsere Debatte wird zur Meinungsbildung der Zuhörer beitragen. 

„Prove me wrong“ stand über der Tournee durch die Hochschulen der USA, in denen der Presbyterianer Charlie Kirk seinen stramm konservativen Lebensentwurf bewarb und sich in öffentlichen Debatten lebhafte Wortduelle mit Gegnern und Anhängern lieferte. Am 10. September wurde der brillante Rhetoriker auf dem Campus der Utah Valley University während einer solchen Debatte erschossen. Mit Kirk starb der bei der amerikanischen Jugend wirkungsmächtigste konservative Aktivist.

Ein erzkonservatives Programm

Kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol, keine Drogen. Dafür Bibel und Gebete. Ich kann mich an keinen Zeitpunkt meines Lebens erinnern, an dem ich ein solches Programm für attraktiv erachtet hätte. Ich hätte bei Kirk wohl kaum einen Stich gemacht und er keinen bei mir. 

Und doch: Wäre die Welt denn eine schlechtere, wenn mehr Jugendliche seinem Beispiel folgten? Ist es verwerflich, wenn Männer Verantwortung übernehmen und ihre Familie versorgen, wie er es immer gefordert hat? Wem sollte es schaden, wenn Kinder in intakten Familien aufwachsen und mit christlichen Werten erzogen werden? Zumal – und das ist ein entscheidender Punkt – Kirk seinen Lebensentwurf zwar propagierte, aber seinem Gegenüber nicht aufzwang. 

Der tiefgläubige Christ verteidigte Homosexuelle ebenso wortgewaltig gegenüber Mitdiskutanten, wie er die Existenz von genetisch determinierten Rassen bestritt. „Race“ war für ihn ein soziales Konstrukt, soziale Unterschiede betrachtete er als Resultat unterschiedlicher Kulturen. 

Rassistisch, frauenfeindlich, rechtsradikal?

Dennoch wird Kirk in unzähligen Nachrufen mit dem gesamten Vokabular bedacht, mit dem die Linke alles rechts von ihr diffamiert. Die Methode ist immer dieselbe: Kirks Aussagen werden aus dem Zusammenhang gerissen und ins Gegenteil entstellt; die eigene Wertung des Gesagten wird als Zitat wiedergegeben. 

Einen Höhepunkt öffentlich-rechtlicher Desinformation setzte Elmar Theveßen, Leiter des ZDF-Studios in Washington, in der Talkshow von Markus Lanz. Er unterstellte Kirk die Forderung, „dass Homosexuelle gesteinigt werden müssten“ und anderes mehr. Natürlich hat Kirk das nie gesagt. Was Theveßen behauptet hat und wie es wirklich war, kann man unter diesem Link im Magazin Cicero nachlesen

Wer sich einen Eindruck von der Häme verschaffen möchte, die sich posthum über Kirk ergießt, bis hin zur unverhohlenen Freude über seine Ermordung, möge auf Bluesky nach dem Stichwort „Charlie Kirk“ suchen, ich zitiere das hier nicht. Zur Erinnerung: Das ist die Social-Media-Plattform der selbsternannten Guten, die vor Hass und Hetze auf X geflüchtet sind.

Wenn Worte zur Waffe werden

Die Titelgeschichte des aktuellen Pragmaticus handelt vom Kampf um die Meinungshoheit und den unlauteren Mitteln, mit denen dieser Kampf geführt wird. Diffamierung ersetzt das Argument, Zuspitzung die journalistische Redlichkeit. Begriffe werden beliebig umgedeutet. Wer dem Gegner das schlagkräftigere Etikett verpasst, hat sich die inhaltliche Auseinandersetzung erspart. Der politische Gegner wird zum Feind. Auf der Strecke bleiben Anstand und Respekt – und letztlich die Demokratie selbst. Das Dossier finden Sie hier.  

Wenn Trump der neue Hitler ist, wäre dann Thomas Matthew Crooks, der das Attentat auf den US-Präsidenten verübt hat, nicht ein neuer Georg Elser?

Sebastian Kurz wurde als „Baby-Hitler“ bezeichnet. Donald Trump wurde auf den Titelblättern europäischer Magazine wahlweise mit Ku-Klux-Klan-Kapuze („Das wahre Gesicht des Donald Trump“, Spiegel), als Hitler-Bärtchen (TIME), mit Nazi-Gruß (Stern) oder als Schlächter der Freiheitsstatue (Spiegel) dargestellt. Wenn die Linke den politischen Gegner zum Nazi erklärt oder mit einem IS-Schlächter gleichstellt: ist es dann verwunderlich, wenn ein verwirrter Jugendlicher zur Waffe greift, im Glauben, den Faschismus zu bekämpfen? Wäre Gewalt nicht legitim, wenn es gilt, das ultimativ Böse aufzuhalten? Wenn Trump der neue Hitler ist, wäre dann Thomas Matthew Crooks, der das Attentat auf den US-Präsidenten verübt hat, nicht ein neuer Georg Elser?

Natürlich nimmt ein solches Framing kein Jota von der persönlichen Verantwortung des Attentäters für seine Tat. Aber er könnte sich zum Beispiel auf Robert Misik berufen, der immerhin hierzulande als Intellektueller gilt. Bezugnehmend auf Elon Musks Äußerungen bei einer Demonstration in London, wo dieser unter anderem die Linke als eine Partei des Mordens bezeichnete, kommentierte Misik auf Bluesky: „Gegen Musk muss ein Haftbefehl ausgestellt werden. (sic!) Aber pronto! Zieht endlich die Samthandschuhe aus, ihr Feiglinge in London, Paris, Brüssel, Berlin...! Wir werden auch diese Faschisten ihrem gerechten Ende zuführen, wie Mussolini, Hitler ua.“ 

Benito Mussolini wurde mit seiner Geliebten Clara Petacci von Partisanen ohne Gerichtsverfahren erschossen, ihre Leichen wurden kopfüber öffentlich aufgehängt. Es fällt schwer, Misiks Posting nicht als Aufruf zum Mord zu interpretieren. Der vielgerühmte Autor merkt nicht, wie klar er den Satz von Elon Musk bestätigt. 

Ein konservativer Gegenpol

Charlie Kirk war gerade deshalb so erfolgreich, weil er für Amerikas Jugend einen klaren Gegenpol verkörperte. Zu den Geschöpfen mit blaugefärbten Haaren, die jeden zum Rechtsradikalen erklären, der die Existenz von 72 Geschlechtern bezweifelt. Zu den Männern, die sich als Frauen fühlen und bei olympischen Boxkämpfen Frauen verprügeln. Zu den „Feministinnen“, die jene Frauen schmähen, die bei diesem Unfug nicht mitmachen und ihre hart erkämpften Schutzräume nicht preisgeben wollen. Zu einer amorphen Gesellschaft, die zusehends orientierungslos geworden ist. Zur Erosion der traditionellen Familien. Und zu einer linken Academia, die Andersdenkende aus dem Diskurs ausschließt, statt sich dem offenen Meinungsaustausch zu stellen. Damit vermittelte er auch jenen Halt, die seinen Anschauungen vielleicht nur zum Teil folgen mochten. 

Man muss Kirk inhaltlich nicht zustimmen, um zu erkennen, dass er den Kern der amerikanischen Demokratie verkörperte: Die freie Rede und den offenen Wettstreit von Positionen. Wer immer ihn für antidemokratisch oder was auch immer hält, möge sich vier Minuten Zeit nehmen und sich diese Rede von Bernie Sanders auf X anhören. Ausgerechnet ein alter Sozialist hat einen Tag nach Kirks Ermordung genau die richtigen Worte gefunden. 

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