„Wir stehen vor großen Veränderungen“
Seit 2016 forscht Elly Tanaka in Wien an Axolotln und deren Regenerationsfähigkeit. Nun hat sie dafür den Wittgenstein-Preis erhalten. Ein Gespräch über Regeneration, neue Erkenntnisse und den Wissenschaftsstandort Wien.

Elly Tanaka ist Herrin über mehr als 3.000 Axolotl, Leiterin des Instituts für Molekulare Biotechnologie, vielfach preisgekrönte Wissenschaftlerin – und nun auch mit dem Wittgenstein-Preis des FWF 2025 ausgezeichnet. Er ist mit 1,9 Millionen Euro Preisgeld der höchstdotierte österreichische Forschungspreis. Seit 2016 forscht die US-Amerikanerin Elly Tanaka in Wien an Axolotl, weil diese die Fähigkeit haben, verlorene Gliedmaßen wieder nachwachsen zu lassen. Ihr Ziel ist es, die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen zu verstehen und letzten Endes auch auf den Menschen zu übertragen.
Der Pragmaticus: Sie arbeiten seit Jahrzehnten an Axolotln, erst kürzlich konnten Sie einen Durchbruch bei der Regenerationsforschung erzielen.
Elly Tanaka: Ja, wir konnten herausfinden, wie beim Axolotl die Regeneration gesteuert wird. Wenn man eine Gliedmaße amputiert, beginnen die Zellen des Axolotls zu wuchern, aber anstatt einen Tumor zu bilden, regenerieren sie die richtige Struktur – etwa eine Hand oder einen ganzen Arm. Sie wissen, wo ein kleiner Finger und wo ein Daumen sein sollte.
Woher wissen sie es also?
Elly Tanaka: Es gibt molekulare Anweisungen, die den Zellen sagen, was sie wieder aufbauen sollen.
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Und wie haben Sie das herausgefunden?
Elly Tanaka: Es war eine Reihe von Studien. Zunächst haben wir festgestellt, welche Zellen in den Gliedmaßen diese molekularen Anweisungen tatsächlich tragen – denn nicht alle Zellen tun das. Wir entdeckten, dass eine bestimmte RNA in einem bestimmten Teil des Arms sehr viel stärker exprimiert wurde. Das heißt, diese RNA produziert ein Protein, das als „Hauptregulator“ fungiert – eine Art Kommandozentrale, die der Zelle sagt, welche Gene sie aktivieren soll. Dieses Protein sagt quasi: „Du bist dieser Teil des Arms“. Und wenn der Arm abgetrennt wird, hilft er, sich mit den umliegenden Zellen abzustimmen, um die richtige Struktur wiederherzustellen – also zum Beispiel den kleinen Finger und nicht den Daumen.
Dieser Hauptregulator sagt den Zellen, dass sie ein kleiner Finger sind – interessanterweise unabhängig davon, wo sie sich tatsächlich befinden.
Elly Tanaka: Genau. Wenn wir ihn an einer anderen Stelle des Arms einsetzen – etwa wo der Daumen wäre–, verhalten sich die Zellen trotzdem so, als ob sie ein kleiner Finger wären. Und sie bauen einen kleinen Finger. Sie behalten ihre Identität als kleiner Finger bei. Umgekehrt können sich Daumenzellen, die auf der Seite des kleinen Fingers platziert werden, in Zellen des kleinen Fingers verwandeln. Einige Zellidentitäten sind also flexibler als andere.
Warum ist das so?
Elly Tanaka: Das liegt an diesem Hauptregulator, den wir „Hand2“ nennen. Er setzt die Identität als kleiner Finger durch. Selbst in einem anderen Kontext sagt er der Zelle immer wieder: „Du bist ein kleiner Finger“, und so verhält sie sich entsprechend.
Das ist nur die jüngste Erkenntnis aus Ihrer jahrelangen Regenerationsforschung an Axolotl. Warum sind sie so einzigartig in ihrer Regenerationsfähigkeit?
Elly Tanaka: Bei den meisten Tieren werden die Anweisungen, die die Entwicklung der Gliedmaßen im Embryo steuern, im Erwachsenenalter abgeschaltet. Aber Axolotl behalten auch im Erwachsenenalter eine gewisse Expression einiger wichtiger Regulatoren bei. Wenn sie verletzt werden, werden diese Regulatoren wieder hochgefahren. Das ermöglicht es differenzierten Zellen, sich in einen Stammzell-ähnlichen Zustand zu versetzen und die Regeneration zu organisieren. Beim Menschen wie bei anderen Säugetieren verwandeln sich solche Zellen nicht in Stammzellen, und es fehlen ihnen auch die Anweisungen, wie Gliedmaßen oder sogar Organe wieder aufgebaut werden können. Unser Labor untersucht deshalb, wie Axolotl-Zellen es schaffen, differenzierte Zellen in Stammzellen umzuwandeln – und warum dies bei menschlichen Zellen nicht geschieht.

Haben Menschen – beziehungsweise Säugetiere insgesamt – diese Regenerationsfähigkeit im Laufe der Evolution verloren?
Elly Tanaka: Das ist jedenfalls die beste Vermutung. Fische können Flossen und sogar Gehirngewebe regenerieren. Bei Lungenfischen, die die nächsten lebenden Verwandten jenes Fisches ist, der vor Urzeiten an Land gegangenen ist, wurde kürzlich nachgewiesen, dass er sich regenerieren kann. Salamander können sich regenerieren, und Frösche können dies zumindest als Kaulquappen tun. Es ist also wahrscheinlich, dass die Regenerationsfähigkeit vorhanden war und im Laufe der Zeit verloren ging. Wir glauben auch, dass Salamander interessanterweise bei der Regeneration weitere Verbesserungen über die ursprüngliche Fähigkeit hinaus entwickelt haben.
Haben wir diese Fähigkeit verloren, weil Menschen einfach zu komplex für diese Art der Regeneration sind?
Elly Tanaka: Strukturell ist der grundlegende Gewebeaufbau von Salamandern und Menschen ziemlich ähnlich. Aber Menschen haben mehr Zellsubtypen. Diese Komplexität könnte die Regeneration erschweren. Sowohl aus organisatorischer Sicht als auch im Hinblick darauf, wie man das Genom kontrolliert. Mehr Zelltypen bedeuten mehr Spezialisierung – und möglicherweise weniger Zellen, die in einen stammzellähnlichen Zustand zurückkehren können. Das könnte das Genom beim Menschen weniger flexibel machen als beim Axolotl.
Der Mensch hat keine Regenerationsfähigkeit, aber natürlich die Fähigkeit, Organe und Gliedmaßen zu bilden – so entsteht aus dem Embryo ein kompletter Mensch.
Elly Tanaka: Es gibt aber einen großen Unterschied: In der Gebärmutter, wenn der Embryo noch sehr klein ist, gibt es nur wenige Stammzellen; und diese können nur über sehr kurze Entfernungen miteinander kommunizieren. Wird jetzt einem Axolotl eine Gliedmaße amputiert, ist die Fläche viel größer, die Zellen müssen sich über viel größere Entfernungen koordinieren als während der Embryonalentwicklung. Diese Unterschiede sind entscheidend, wenn wir bei Säugetieren größere Gewebe, Gliedmaßen oder sogar Organe züchten wollen.
Das große Ziel ist also trotzdem: Die Regenerationsfähigkeit beim Menschen irgendwie zu aktivieren.
Elly Tanaka: Genau, das wäre das Ziel. Wenn wir menschliche Zellen dazu bringen könnten, sich nach einer Amputation zu regenerieren, würde uns das unglaubliche Möglichkeiten eröffnen. Aber es reicht wahrscheinlich nicht aus, einfach nur diese Anleitungen, die Salamander-Zellen haben, beim Menschen einzufügen – wir müssen auch bestimmte Zelltypen selektiv umprogrammieren oder sogar verhindern, dass andere Zellen sich einmischen. Die Lösungen werden also wahrscheinlich eine ziemlich ausgeklügelte Technik erfordern.

Im Gegensatz zu Menschen bilden sich beim Axolotl bei Wunden keine Narben – logischerweise, könnte man sagen, weil das Gewebe ja nachwächst. Aber könnte Ihre Forschung dazu beitragen, die Narbenbildung beim Menschen zu verhindern?
Elly Tanaka: Ja, das ist etwas, das wir aktiv erforschen. Beim Menschen verursachen Fibroblasten die Narbenbildung. Bei Axolotl werden dieselben Zellen stattdessen zu einer Art Stammzelle. Ein Teil des Geheimnisses des Axolotls besteht also darin, die Fibroblasten von der Bildung von Narbengewebe weg und hin zur Regeneration zu lenken. Wir sind sehr daran interessiert, wie man menschliche Zellen dazu bringen kann, dass sie dasselbe tun.
Es gibt eine Qualle namens Turritopsis dohrnii, die sich mit ähnlichen Mechanismen selbst verjüngen kann. Wenn wir menschliche Zellen auf diese Weise umprogrammieren könnten, würde das nicht auch eine längere Lebenserwartung bedeuten?
Elly Tanaka: Möglicherweise. Das ist eine wirklich interessante Frage: Ist der Arm, der sich regeneriert, jünger als der Rest des Körpers? Es gibt aktuelle Forschungen, die das nahelegen, dass also regenerierte Gliedmaßen tatsächlich biologisch jünger sind als der Rest des Körpers. Wenn man das Gedankenspiel weiterspinnt und darüber nachdenkt, dass sich der gesamte Körper regenerieren könnte... dann könnte das tatsächlich sein.
Wenn wir Menschen eine Wunde haben, die heilen muss, haben wir Schmerzen. Wissen wir, ob Axolotl auch Schmerzen empfinden oder ob es ihnen wehtut, Gliedmaßen nachwachsen zu lassen?
Elly Tanaka: Wir wissen es nicht. Was wir wissen: Die Tiere fressen sich gegenseitig und beißen sich ständig Gliedmaßen ab. Vieles daran, wie genau Schmerzwahrnehmung von Axolotln erfolgt, ist noch unklar. Wir haben das Genom sequenziert, und es scheint, dass sie Sequenzen für Rezeptoren haben, die an der Schmerzwahrnehmung beteiligt sein könnten, aber wir wissen es nicht. Wir beobachten die Tiere nach dem Verlust von Gliedmaßen, und es scheint ihnen danach gut zu gehen. Im Labor geben wir den Tieren trotzdem bei allen Experimenten Schmerzmittel.
Hat das Axolotl außergewöhnliche Regenerationsfähigkeiten oder könnte man zum Beispiel einfach auf andere Salamander ausweichen?
Elly Tanaka: Fast alle Salamander regenerieren sich. Die verschiedenen Arten unterscheiden sich leicht darin, wie oder was sie regenerieren, aber grundsätzlich regenerieren sich die meisten. Wir haben uns für den Axolotl entschieden, weil er einfach in der Haltung ist und weil es eine natürliche Mutation gibt, die der Haut ihre Pigmente entzogen hat, wodurch sie durchsichtig wird. Das erlaubt es uns, mit dem Mikroskop in die Zellen zu schauen.
Stimmt es, dass Axolotl das Endstadium der Entwicklung nicht erreichen?
Elly Tanaka: Das hängt davon ab, wie man es definiert. Sie werden geschlechtsreif, haben Muskelfasern, all das. Aber sie verlieren ihre Kiemen nicht, es sei denn, sie bekommen Schilddrüsenhormone gespritzt, was Hautveränderungen und Kiemenverlust auslöst. Man könnte also sagen, sie sind dann reifer. Aber sie sind eben auch ohne diese Schilddrüsenhormone voll funktionsfähige Tiere.
Das ist natürlich immer Spekulation, aber wann denken Sie, wird Ihre Forschung für den Menschen relevant sein?
Elly Tanaka: Das ist schwer zu sagen. Und es hängt davon ab, was Sie meinen. Wenn damit die Regeneration einer menschlichen Gliedmaße gemeint ist, ist das kaum vorherzusagen. Es gibt weltweit Wissenschaftler, die an Organoiden von Gliedmaßen arbeiten, aber es wird noch eine ganze Weile dauern, bis das möglich sein wird.
In unserem Labor haben wir bei der Untersuchung der Axolotl-Regeneration versucht, aus Stammzellen von Mäusen und Menschen Rückenmark zu erzeugen, was uns, ohne dass wir es darauf angelegt hätten, menschliche Zellen bescherte, die zu Netzhautzellen wurden. Wir verwenden diese Zellen jetzt zur Untersuchung von Netzhautdegenerationskrankheiten. Das heißt, auch wenn die direkte Regeneration von Gliedmaßen beim Menschen noch in weiter Ferne liegt, beeinflusst unsere Forschung die Art und Weise, wie die Menschen über die Regeneration von Geweben denken.
Zu den Netzhautzellen sind Sie also per Zufall gekommen – wie viel der Forschung ist geplant und wie oft entstammen die Erkenntnisse Zufallsentdeckungen?
Elly Tanaka: Es ist definitiv eine Mischung aus beidem. Normalerweise beginnen wir mit grundlegenden Fragen: Wie regeneriert sich eine Gliedmaße, welche Faktoren lösen das regenerierende Gewebe aus, wie regeneriert es den richtigen Teil? Wir entwickeln Methoden, um diese Fragen zu beantworten, und erhalten dann die Antworten. Dabei stoßen wir auf unerwartete Entdeckungen - zum Beispiel auf ein Protein, das der Kommunikation zwischen zwei Zelltypen dient und die Zellen auf seltsame Weise verlässt.
Wir untersuchen das jetzt, weil wir vermuten, dass es für viele biologische Prozesse wichtig sein könnte. Wenn ich schätzen müsste, gehen vielleicht zwanzig Prozent unserer Arbeit auf solche Zufallsfunde zurück. Sie sind jedenfalls sehr wertvoll. Immer wenn ich junge Wissenschaftler betreue, betone ich, wie wichtig es ist, auf unerwartete Ergebnisse zu achten, sie nicht zu verwerfen und Zeit darauf zu verwenden, ihnen nachzugehen.

Wie sind Sie in Wien gelandet?
Elly Tanaka: Ich habe meinen Bachelor in Harvard gemacht und an der University of California in San Francisco promoviert, ein sehr inspirierendes wissenschaftliches Umfeld. Danach erschien es mir langweilig, irgendwo anders in den USA zu forschen. Ich begann mich für Regeneration zu interessieren, ein Nischenbereich. Die beste Person, mit der ich arbeiten konnte, war in London, also habe ich dort meinen Postdoc gemacht.
Als ich mich später nach einer Stelle umsah, stellte ich fest, dass das amerikanische Wissenschaftssystem nicht zu mir passte - es verlangt sofortige Ergebnisse und Sicherheiten bei der Vergabe von Stipendien. Aber ich brauchte die Freiheit, länger an dem Problem der Regeneration zu arbeiten. Ich hatte die Gelegenheit, als Gruppenleiterin ein Labor an einem Max-Planck-Institut in Deutschland zu gründen, wo ich gute Unterstützung für den Aufbau einer Axolotl-Kolonie erhielt. Ich hatte immer wieder die Möglichkeit, in die USA zurückzukehren, aber ich ging nie zurück. Stattdessen entschied ich mich 2016 nach Wien ans Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie zu kommen.
Warum?
Elly Tanaka: In den europäischen Ländern gibt es mehr akademische Freiheit und mehr Wertschätzung für die Regeneration als Grundlagenwissenschaft, die keine unmittelbare medizinische Rechtfertigung braucht. Außerdem gibt es in den deutschsprachigen Ländern eine starke zoologische Tradition. Wien blüht außerdem seit den 1990er Jahren besonders in der Molekularbiologie auf: Das Vienna BioCenter ist weltweit für seine hervorragende Forschung bekannt. Auch der Bereich der Stammzellen ist hier stark und sehr offen – viele verschiedene Gruppen und Bereiche kommen zusammen, was den Fortschritt und die Zusammenarbeit fördert.
Wie Sie wissen, versucht Österreich, Wissenschaftler aus den USA zu rekrutieren, die aufgrund des politischen Klimas in den USA auswandern wollen. Glauben Sie, dass dies realistisch ist?
Elly Tanaka: Wir wurden bereits von US-Amerikanern aus verschiedenen Bereichen wie RNA-Biologie, Stammzellbiologie oder Neurowissenschaften kontaktiert, die diesen Ort als sehr attraktiv ansehen. Und wir sehen das auch bei den Studenten, Postdoc-Bewerbern, die am MIT, Harvard oder Caltech promoviert haben. Wir stehen also vor großen Veränderungen.