Die Zelle ist das neue Versuchskaninchen
Tierversuche für Medizinprodukte sollen bald Geschichte sein. An diesem Ziel arbeitet Elisabeth Mertl am OFI.

Ob Pflaster, Hautcremen oder die Schutzmasken, die wir alle noch aus den Pandemietagen kennen: Jedes Medizinprodukt, auch wenn es nur mit der Haut in Kontakt kommt, muss getestet werden. Für die Prüfung dieser Produkte werden immer noch Tierversuche herangezogen. Darunter leider viele Tiere. „Ein klassisches Hautkontaktprodukt wird an rund 20 Tieren getestet“, sagt Elisabeth Mertl. Wenn es ein komplexeres Medizinprodukt ist, ein Hüftimplantat etwa, oder ein Herzschrittmacher, dann sind es noch viele Tests mehr.
Mehr Forschungsreisen
Und Mertl hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Sie steht in ihrem Labor am Österreichischen Forschungsinstitut für Chemie und Technik (OFI), gleich beim Arsenal im dritten Wiener Gemeindebezirk; und was sie hier seit einigen Jahren macht, ist Tests für Medizinprodukte zu entwickeln, die Tierversuche überflüssig machen. In den Probengefäßen vor ihr lagern Produkte, die hier getestet werden: Zahnprothesen oder Spiralen etwa.
Getestet wird an Millionen von Tieren
Laut der Wirtschaftskammer Österreich sind derzeit 750.000 Medizinprodukte allein hierzulande am Markt. Das mit mindestens 20 multipliziert ergibt mehr als 15 Millionen Tiere, an denen diese Medizinprodukte getestet wurden. Elisabeth Mertl sagt, dass es für die meisten dieser Tierversuche Alternativen gibt. Nicht nur das: „In den meisten Fällen sind sie nicht nur günstiger als der Tierversuch, sondern auch – und das ist in vielen Fällen sogar der größte Antrieb – schneller“, erklärt sie. Jeder Tierversuch muss genehmigt werden; es gibt viele Vorschriften – ein Hase etwa, an dem ein Produkt getestet wird, muss genau zwischen zwei und fünf Wochen alt sein.
Die Herausforderung sind mögliche Kontaminationen aus den Rohmaterialien oder dem Herstellungsprozess.
Elisabeth Mertl
Aber auf den ersten Blick überrascht es, dass jedes einzelne Produkt überhaupt getestet werden muss: Kennt man mittlerweile nicht alle Bestandteile und Inhaltsstoffe? „Grundsätzlich stimmt das schon, dass man das bei sehr vielen Materialien weiß. Die Herausforderung sind mögliche Kontaminationen aus den Rohmaterialien oder dem Herstellungsprozess. Lassen sich zum Beispiel Reste von Schmieröl nachweisen?“, erklärt Mertl.

Mit ihren beiden Labor-Kollegen Sanja Savic und Stefan Weissensteiner entwickelt sie deshalb In-vitro-Methoden, die mindestens genauso zuverlässig sind wie Tierversuche – grob gesagt werden die Medizinprodukte hier an Zellen anstatt an Tieren getestet. Sie stammen von Zellkulturen, die man sich wie Sauerteig-Starter vorstellen kann: Sie wachsen stetig nach und wann immer Zellen benötigt werden, können sie von dieser Kultur entnommen werden. Im Gegensatz zum Sauerteig lagern sie allerdings in flüssigem Stickstoff.
Wie Tierversuche vermieden werden können
Mit diesen Methoden werden am OFI vor allem Produkte getestet, die mit Haut in Berührung kommen. „Man kann die Zellen so züchten, dass sie die Schichten einer Haut bilden, das heißt, man hat hier wirklich oben eine Hornhaut“, erklärt sie. Diese wird dann mit den Stoffen oder Materialien in Kontakt gebracht, die auch in der Realanwendung mit der Haut in Berührung kommen. „Mit diesen In-vitro-Methoden können Veränderungen des Stoffwechsels und der Lebensfähigkeit von Zellen sichtbar und messbar gemacht werden“, sagt Mertl.
Für alle Produkte mit Hautkontakt bräuchte es keine Tierversuche mehr.
Schwieriger wird es, wenn es darum geht, komplexere Vorgänge abzubilden. „Wenn man sich eine allergische Reaktion anschaut, dann muss man die in mehrere Teile runterbrechen“, sagt Mertl: „Das Allergen kommt mit den Zellen in Kontakt, die schicken ein Signal ans Immunsystem, das Immunsystem reagiert.“ Das alles, sagt sie, funktioniert auch in-vitro schon sehr gut – für alle Produkte mit Hautkontakt bräuchte es keine Tierversuche mehr.

Aber die Mühlen der Regulatoren mahlen langsam. Wer ein Medizinprodukt auf den Markt bringen will, muss mehrere Schritte durchlaufen und sein Produkt unterschiedlichen Prüfungen unterziehen, z. B. am OFI. Die Tests orientieren sich an aktuellen Standards. Wenn der Tierversuche vorschreibt, bleibt den Herstellern gar nichts anderes übrig. 2013 passierte der erste Paradigmenwechsel: Die Europäische Union verabschiedete ein Gesetz, das Tierversuche bei Kosmetika verbot. „Das war der Startschuss, auch bei Medizinprodukten daran zu arbeiten, Tierversuche zu vermeiden“, sagt Mertl.
Herzschrittmacher sind schwierig
Fast zehn Jahre später wurde die erste In-vitro-Methode bei Medizinprodukten äquivalent zum Tierversuch in den Standard aufgenommen, erzählt sie. „Es wäre natürlich schön, wenn da irgendwann nur noch der In-vitro-Versuch steht“. Von einem Ende der Tierversuche ist man trotzdem noch weit entfernt, denn je komplexer das Produkt, desto strenger sind die Vorschriften. „Bei einem Herzschrittmacher ist man immer noch ein bisschen konservativer“, sagt sie.

Zunächst einmal gilt es da herauszufinden, welche Substanzen sich aus dem Herzschrittmacher herauslösen könnten. Denn diese Substanzen können mit dem Blut, das durch den Schrittmacher fließt, durch den ganzen Körper und in sämtliche Organe gepumpt werden – und für all diese Substanzen muss gesichert sein, dass sie in keinem unserer Organe irgendwelchen Schaden anrichten.
Ein ganzer Körper in einer Petrischale
In Zukunft könnte allerdings auch all das tierversuchsfrei passieren; das Zauberwort dafür heißt Organ-on-a-Chip. „Da hat man wirklich so eine Art Organ als 3D-Modell auf einem Chip“, erklärt Mertl. Dieses Modell kann die Funktionsweise eines Organs nachbilden und damit auch die Reaktionen auf etwaige Stoffe und Substanzen. Dem nicht genug: Mehrere dieser Organ-Modelle könnten zu einem „Body-on-a-Chip“ verbunden werden. „Man kann dann vor und nach jedem Organ noch Proben ziehen und schauen, was da eigentlich passiert“, sagt Mertl.

Bis das möglich ist, wird es noch einige Jahre dauern. Aber das heißt nicht, dass bis dahin keine Produkte ohne Tierversuche auf den Markt kommen: „Wir haben mit tierversuchsfreien Methoden am OFI bereits rund 1.300 Produkte getestet und ich gehe davon aus, dass rund 80 Prozent davon auch auf den Markt gekommen sind“, sagt Mertl. Das allein wären schon fast 25.000 Tiere, denen ein Tierversuch erspart blieb.
Über diese Serie
Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast beim „Austrian Space Weather Office“ in Graz, bei Markus Hengstschläger, der gerade an Embryoiden forscht, beim ISTA in Klosterneuburg, wo Francesco Locatello an kausaler KI forscht und im Naturhistorischen Museum, wo am Bestand der Blatthornkäfer geforscht wird. In der nächsten Folge erzählt Philipp Tschandl, wie Künstliche Intelligenz bei der Diagnose von Hautkrebs helfen kann.