Über die Weltanschauung

Anschauen tut immer ein Augenpaar, aber sehen kann dieses Augenpaar alles. Wenn es der Kopf zulässt. Ich kann meine Weltanschauung einem anderen mitteilen, einen ausreichenden Grund, anzunehmen, sie sei die richtige, gibt es jedoch nicht.

Das Bild zeigt die Statue von Immanuel Kant vor der Universität Kaliningrad. Das Bild illustriert einen Kommentar zur Weltanschauung.
Statue von Immanuel Kant vor der Universität Kaliningrad. © Getty Images

Was sehe ich, wenn ich die Welt anschaue?

Ludwig Wittgensteins Antwort: „… alles, was der Fall ist.“ Das ist viel, bei Gott! Wobei Gott in der Welt noch gar nicht unbedingt enthalten ist – in Wittgensteins Antwort auf jeden Fall nicht, lehnte er doch alles Sprechen über Metaphysisches ab. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Zwischen diesen beiden Zitaten breitete er als junger Mann in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs seine Philosophie aus: den Tractatus logico-philosophicus.

Der Dichter aber – dies meinte der 15 Jahre ältere Hugo von Hofmannsthal – soll gerade das besingen, worüber wir nicht sprechen können.

Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,
Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,
Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,
Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht

Und jedes Menschen wechselndes Gemüth,
Ein Strahl ist’s, der aus dieser Sonne bricht,
Ein Vers, der sich an tausend and’re flicht,
Der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.

Und doch auch eine Welt für sich allein,
Voll süß-geheimer, nie vernomm’ner Töne,
Begabt mit eig’ner, unentweihter Schöne,

Und keines Andern Nachhall, Widerschein.
Und wenn Du gar zu lesen d’rin verstündest,
Ein Buch, das Du im Leben nicht ergründest.

So gut wie jeder besitzt eine Weltanschauung. Und so gut wie jeder versteht darunter so etwas wie eine seinen Meinungen übergeordnete Meinung. Genaueres können wir dazu nicht sagen. Müssen wir auch nicht. Die Weltanschauung resultiert ja mehr aus einem Gefühl als aus der rationalen Analyse dessen, was der Fall ist. Wichtiger ist, dass wir uns unserer Weltanschauung gemäß benehmen. Daran werden wir gemessen. Wie wir die Welt sehen, daraus leiten wir ab, wie wir in ihr handeln wollen und sollen. „Der bestirnte Himmel über mir“, wie Immanuel Kant so schön formulierte, „und das moralische Gesetz in mir.“

Vom Basteln der Weltanschauung

Tatsächlich hat Kant die Weltanschauung in die Welt gebracht – aber nicht mit Trommeln und Fanfaren, sondern eher nebenhin. In seiner Kritik der Urteilskraft streute er den Begriff ein. Nachdem er in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft seine Theorien des Wahren und Guten dargelegt hatte, widmete er sich nun der Theorie des Schönen. Im zweiten Buch des ersten Teils heißt es unter § 26 – ich zitiere:

Denn nur durch dieses …, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt in der reinen intellektuellen Größenschätzung unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt …

Gewiss hat der vor 300 Jahren geborene Kant nicht geahnt, welche Karriere sein Wort machen wird. Schon bald sinnierte der Erzromantiker Novalis: Die „eigne innere Pluralität“ sei „der Grund aller Weltanschauung“. – Anschauen tut immer ein Augenpaar, aber sehen kann dieses Augenpaar alles. Wenn es der Kopf zulässt. Das wiederum liegt, im Unterschied zu Religion und Ideologie, ganz im Belieben eines Individuums. Ich kann meine Weltanschauung einem anderen mitteilen, einen ausreichenden Grund, anzunehmen, sie sei die richtige, gibt es jedoch nicht.

Ich muss niemanden missionieren, ich muss niemanden überzeugen. Ich bin ich.

Wir wollen Religion und Ideologie nicht mehr haben. Beide erinnern uns an all das Furchtbare, das damit gerechtfertigt wurde. Außerdem war darin nur wenig „eigenes Inneres“ zu finden. Das Ich beschränkte sich auf bloße Teilnahme. Ich bin Katholik, ich bin Kommunist – das hieß: Ich nehme am Katholizismus teil, ich nehme am Kommunismus teil. Im Katechismus und im Parteiprogramm war vorgegeben, was erlaubt war und was nicht. Von „Anschauung“, gar kontemplativer Anschauung, war dort nichts gestanden. Meine Weltanschauung hingegen kann ich mir nach meiner Fasson basteln. Und wenn sie aus purem Unsinn besteht, wen geht es etwas an? Ich muss niemanden missionieren, ich muss niemanden überzeugen. Ich bin ich. Das ist bei Gott mehr als Himmel, Hölle, Geisterwelt!

Grau ist alle Theorie

Der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey fasste zusammen: Sobald eine Weltanschauung in ein metaphysisches System gepresst werde, verliere sie ihre Rückbindung an den konkreten Lebenszusammenhang. Damit schloss er an Goethes ironisch heitere Bemerkung an: „… wenn ich mir die Menschen, die ich näher gesehen, alle vergegenwärtige, so gibt es der Weltanschauung reichen Gewinn …“ – Das tut gut! Goethe hat sich nie wohlgefühlt in der lebensfeindlichen, menschenleeren reinen Luft theoretischer Begriffe – „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“. So belehrt Mephisto den Schüler. Vielleicht ist dieser alsdann stracks ins Seminar gespurtet und hat mit seinen Kommilitonen diskutiert, ob der Baum des Lebens nun grün oder golden ist.

Man muss nicht gleich einer Meinung sein mit dem spanischen Diplomaten und Philosophen Juan Donoso Cortés (1809–1853), der da zwischen den Zähnen hervorstieß: „Die Diskussion ist die Visitenkarte des Todes, wenn er inkognito reist.“

Podcast: Warum Kant jetzt (noch) wichtig ist

„Selbstständig denken bedeutet, in Gemeinschaft mit anderen zu denken, andere Perspektiven wahrzunehmen. Das ist der Prozess der Aufklärung, von dem Kant spricht.“ So formuliert unser Gast Georg Cavalla die Quintessenz des Kantschen Denkens. Anlässlich des 300. Geburtstages des Philosophen Immanuel Kant ist dieser Podcast mehr als eine spannende Einführung in Leben und Werk, sondern zeigt, warum seine Erkenntnistheorie, Ästhetik und Ethik so relevant wurden.

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