Warum Europa nicht wehrfähig ist
Dass die EU militärisch aufrüstet, macht sie noch lange nicht wehrfähig. Dazu bräuchte es auch eine Kehrtwende in der Industrie- und Energiepolitik. Kriege gewinnt nur, wer genug Energie für die Fabriken hat.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden Kriege an zwei Orten entschieden: Am Schlachtfeld und in der Fabrikhalle. Nur wenn letztere in ausreichendem Maße die notwendigen militärischen Güter produzieren kann, ist auch ein Erfolg an der Front möglich. Aber die Fabriken existieren nicht in einem Vakuum, sondern hängen ihrerseits an einer ganz besonderen Ressource: Energie.
Einer der ersten, der dies durchschaute, war der Vater der bolschewistischen Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin. Die Revolution von 1917 wäre beinahe an einem Mangel an Treibstoff gescheitert, als die Mobilität der noch jungen Roten Armee zentral für den Sieg im Bürgerkrieg war: „Wir müssen die Treibstoffkrise um jeden Preis überwinden“, schrieb Lenin, „wir brauchen Öl, und wer sich uns in den Weg stellt, wird liquidiert.“ Neben den Bolschewisten waren es die Nationalsozialisten, die sich der Bedeutung fossiler Brennstoffe bewusst waren.
Hitler hatte eine nahezu krankhafte Obsession mit den Ölfeldern Rumäniens und des Kaukasus, und viele militärische Entscheidungen des Dritten Reiches wurden von der Energiefrage bestimmt. Kaum eine Schlacht ist so bekannt wie jene um Stalingrad im Süden Russlands, doch nur selten wird die Frage gestellt, warum die deutsche Offensive 1942 entlang dem Kaukasus und der Wolga verlief, und nicht ein erneuter Vorstoß auf Moskau unternommen wurde. Sowohl Hitlers als auch Stalins Generäle wurden von dieser Entscheidung überrascht, da in militärischen Kreisen die Eroberung der gegnerischen Hauptstadt traditionell höchste Priorität hatte.
Energie hat den Verlauf von WWII entschieden
Für Hitler jedoch war der Krieg gegen die Sowjetunion nicht nur ein rassistischer Vernichtungskrieg, sondern auch ein Krieg um Ressourcen, insbesondere um die Ölfelder des heutigen Aserbaidschan. Rückblickend wirkt es oft so, als hätte der 2. Weltkrieg nur den Verlauf nehmen können, den wir in den Geschichtsbüchern lesen. In Wirklichkeit war der Ausgang jedoch zumindest bis 1942 relativ offen. Man spricht in Russland nicht gern darüber, aber hätten die USA die massiven Energie- und Rohstoffverluste der Sowjetunion nicht mit dem Lend-Lease-Act ausgeglichen, wären sowohl die Schlacht um Moskau 1941 als auch die Schlacht um Stalingrad 1942 wahrscheinlich anders ausgegangen.
Und hätten die Alliierten darüber hinaus die Bedeutung der Energieversorgung besser verstanden, wäre der Krieg möglicherweise schon 1940 mit einer Niederlage sowohl Deutschlands als auch der Sowjetunion zu Ende gegangen.
Nach Stalins Einmarsch in Finnland im November 1939 begannen London und Paris mit der Planung der „Operation Pike“, der strategischen Bombardierung der kaukasischen Ölfelder um Baku. Sowohl die deutsche als auch die sowjetische Kriegsmaschinerie waren von diesen Ölreserven abhängig, und deren Neutralisierung hätte womöglich nicht nur den deutschen Sieg über Frankreich, sondern auch die Einverleibung der baltischen Staaten durch Moskau im Sommer 1940 verhindert. Der Plan wurde jedoch nie umgesetzt, und von 1939 bis zur deutschen Invasion der USSR im Juni 1941 konnte sich Hitler auf regelmäßige Energielieferungen aus Russland verlassen.
Deutschland und Japan verloren den Krieg nicht zuletzt, weil die notwendigen Energiereserven für eine mobile Kriegführung schlicht nicht vorhanden waren. Selbst die besten Panzer, Flugzeuge und Schiffe sind nutzlos, wenn der Treibstoff fehlt. Auch das tatsächliche Ende des Krieges ist eng mit der Energiefrage verknüpft: Die zivile und militärische Führung der USA erkannten das enorme Potenzial der Kernenergie. Auf angsteinflößende Weise bestätigte der Einsatz der ersten beiden Atomwaffen das Axiom moderner Kriegführung: Der Krieg ist bestimmt durch die Erschließung primärer Energiequellen, ihrer effizienten Umwandlung in Waffen und deren gezielter Einsatz gegen den Feind.
Deutschland und Japan verloren den Krieg nicht zuletzt, weil die notwendigen Energiereserven nicht vorhanden waren.
Die Atombombe ist die Verkörperung dieses Grundsatzes, da ihre Energiedichte und dadurch auch ihr Zerstörungspotential unübertroffen sind. Aber Kernenergie ist nicht nur destruktiv: Die Vorherrschaft der USA auf hoher See wird durch über 100 nuklear betriebene U-Boote und Flugzeugträger abgesichert. Die Geschichte der Antriebstechnik auf See ist eine kleine Zusammenfassung der historischen Energie Entwicklung: Windgetriebene Segelschiffe wurden durch kohlebetriebene Schiffe abgelöst, die wiederum von dieselbetriebenen Schiffen verdrängt wurden, die schließlich von Schiffen abgelöst wurden, die sich die Kerntechnik zunutze machten.
Wie sich Europa (nicht) bewaffnen kann
Im Lichte dieses historischen Exkurses lässt sich die Frage nach dem Potenzial europäischer Aufrüstungspläne sowohl stellen als auch beantworten: Laut der „Statistical Review of World Energy“ verbrauchten die 27 EU-Staaten im Jahr 2023 etwa 60 Exajoule Energie. Zwei Drittel dieser Gesamtmenge, also etwa 40 Exajoule, stammten aus Öl, Erdgas und Kohle. Ungefähr 6 Exajoule dieser fossilen Brennstoffe werden intern produziert, während die restlichen 34 Exajoule durch Importe abgedeckt werden müssen.
Basierend auf bestmöglichen Berechnungen liegt der Anteil der EU an der weltweiten Ölförderung unter 0,4 Prozent. Bei Erdgas liegt dieser Anteil bei nur 2,3 Prozent. Bei Kohle entfielen 2021 von den weltweit insgesamt 8.057 Millionen Tonnen 309 Millionen Tonnen auf die EU, was nur 3,8 Prozent der weltweiten Produktion entspricht.
Während Russland und die Vereinigten Staaten zu den führenden Produzenten und Exporteuren von Energie zählen, ist die EU ein Zwerg in der Produktion und nahezu komplett von Importen abhängig. Die EU mag zwar führend in der Dekarbonisierung sein, aber dieser Erfolg hat auch seinen Preis. Wie eine Studie von JP Morgan feststellt, sind die Energiepreise innerhalb der EU im Schnitt viermal so hoch wie in den USA und teilweise fünf- bis siebenmal so hoch wie in Indien und China. Den Autoren zufolge liegen „die europäischen Verteidigungskapazitäten nur auf zehn Prozent des US-Niveaus. Höhere Energiepreise, unzuverlässige Stromversorgung und Deindustrialisierung werden die Aufgabe einer Wiederbewaffnung Europas nicht einfacher machen.“
Dekarbonisierung und Wiederaufrüstung schließen sich gegenseitig aus.
Schulden aufzunehmen und Euros zu drucken ist leichter als Kriegsmaterial herzustellen. Ein Europa, das aus der Kernenergie aussteigt, wird auf lange Sicht auch bei Nuklearwaffen oder nuklear betriebenen Flugzeugträgern nicht den Ton angeben. Ohne Schwerindustrie und der Möglichkeit, volle Auftragsbücher abzuarbeiten, hilft auch der steigende Aktienkurs europäischer Rüstungskonzerne nur wenig.
Der europäische Steuerzahler wird wohl oder übel nicht daran vorbeikommen, die Waffenschmieden in den USA und China zu finanzieren, da die Strukturen in Europa keinen massiven Ausbau der Schwerindustrie erlauben werden. Dekarbonisierung und Wiederaufrüstung schließen sich gegenseitig aus, und solange die EU eine Energiewende hin zu 100 % Erneuerbare verfolgt, werden keine Panzer und Flugzeuge von den Förderbändern rollen.
Was getan werden muss
In anderen Worten, die Klimaagenda auf der einen und die Verteidigungsagenda auf der anderen Seite stehen in direktem Widerspruch. Dieser Zustand hat sich durch den Krieg in der Ukraine nicht wesentlich geändert. Laut dem britischen Guardian gab die EU im Jahr 2024 mehr für fossile Brennstoffe aus Russland aus (22 Milliarden Euro) als sie der Ukraine an Hilfsgeldern zukommen ließ (19 Milliarden Euro). Natürlich wären Alternativen möglich: Am ersten Tag nach der Invasion im Jahr 2022 hätte die Europäische Union einen strategischen Energieplan nach japanischem Vorbild entwickeln können, der die oben genannten Zahlen sowie die veränderte geopolitische Lage berücksichtigt.
Dann hätte die EU ihren Mitgliedstaaten raten müssen, Notfallmoratorien für alle vorgeschlagenen Schließungen strategischer Energiequellen zu erlassen. Die ersten beiden Punkte auf dieser Liste wären die 25 GW Strom, die von den deutschen Kernkraftwerken bereitgestellt wurden, und das Groningen-Gasfeld in den Niederlanden (das größte Erdgasfeld Europas) gewesen. Passiert ist leider genau das Gegenteil: die deutschen Kernkraftwerke wurden 2023 stillgelegt, Groningen 2024.
Ein weiterer Schritt hätte darin bestehen können, ein Ende der Fracking-Verbote in Frankreich, Deutschland, Bulgarien und den Niederlanden zu fordern und stattdessen Anreize für eine Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu schaffen, um die Ausbeutung der europäischen Schieferreserven so schnell wie möglich voranzutreiben. In derselben Richtlinie hätten Norwegen und das Vereinigte Königreich aufgefordert werden sollen, ihre Produktion fossiler Brennstoffe zu erhöhen, um die erforderliche Industrie für einen längeren Konflikt mit Russland zu versorgen, insbesondere wenn letzteres von China unterstützt wird. Natürlich wurde keiner dieser Schritte unternommen.
Schließlich hätten die Europäer ein umfassendes Paket zur Reindustrialisierung schnüren sollen, um Anreize für die Schwerindustrie zu schaffen, in Europa zu bleiben und die Produktion auszuweiten.
Ein militärischer Konflikt ist die Anwendung von Energie auf dem Schlachtfeld und in der Wirtschaft. Kriege werden immer von jenen gewonnen werden, die die Energiefrage richtig beantworten. In Europa sieht es jedoch nicht danach aus.