Ein Jahrhundert der Demütigung?

Damit in Europa (fast) alles bleiben kann, wie es ist, muss sich in Europa (fast) alles ändern. Nur so lässt sich die europäische Komfortzone vor dem Zerfall bewahren.

Eine beschädigte Fünf-Euro-Banknote mit einem Riss durch die Europaflagge. Das Bild illustriert einen Kommentar darüber, wie die europäische Komfortzone bröckelt.
In Europa geboren zu werden, galt lange als Haupttreffer in der Lotterie des Lebens. Doch Schulden, geopolitische Schwäche und ungelöste Migrationsfragen bringen diesen Vorsprung ins Wanken. © Getty Images

Wenn man heute irgendwo in Europa auf die Welt kommt, hat man in gewisser Weise einen Haupttreffer in der Lotterie des Lebens gezogen. Gewiss, die Amerikaner sind mittlerweile reicher, die Japaner verfügen über eine unglaublich ziselierte Kultur, China ist auf dem Weg zur globalen Supermacht – aber bei einer ganzheitlichen Betrachtung verleihen Lebensqualität, Bildungschancen, das kulturelle Angebot, die wunderbaren Landschaften, die funktionierenden Demokratien, die Balance zwischen Erwerbsstreben und ausgelebtem Hedonismus dem alten Kontinent eine ganz besondere Qualität. Und gegessen wird hier ja auch recht gut.

Leider muss man mittlerweile sagen: noch. Denn es ist kein hauptberuflicher Pessimismus nötig, um zu erkennen, wie gefährdet diese europäische Komfortzone mittlerweile ist und wie brüchig das Fundament, auf dem unser Wohlbefinden ruht. Finanziell, weil wir unsere Lebensqualität im Gestus eines notorischen Hochstaplers seit langem schon durch Schulden finanzieren, sich aber nun die Hinweise mehren, dass das nicht mehr lang so weitergehen wird. Was das Schicksal jedes Hochstaplers ist.

Geopolitisch im Abseits

Parallel dazu – und teilweise auch: deshalb – verliert Europa zunehmend die Möglichkeit, geopolitisch seine Interessen zu verteidigen. Wir sitzen zunehmend nicht am Tisch der Mächtigen, sondern stehen auf der Speisekarte.

Gleichzeitig schafft es Europa nicht und nicht, die millionenfache Zuwanderung aus Kulturen, die für die europäische Zivilisation nicht nur Wertschätzung empfinden, zu stoppen.

Zu glauben, dass all diese Entwicklungen zusammengenommen nicht dazu führen werden, dass eine Geburt in Europa in ein paar Jahrzehnten nicht mehr der Haupttreffer in der Lotterie des Lebens sein wird, erfordert schon ein hohes Maß an Realitätsverweigerung.

Viel eher droht, was ein Essay im Brüsseler Politmagazin Politico jüngst „ein Jahrhundert der Demütigung“ genannt hat. China musste dergleichen im 19. und 20. Jahrhundert erdulden, weil es den westlichen Kolonialmächten technologisch weit unterlegen war und deshalb deren Dominanz im eigenen Land machtlos hinnehmen musste.

Steter Rückfall erinnert an früheres China

Die Wahrscheinlichkeit, dass Europa ein ähnliches Schicksal widerfährt, ist nicht gerade gering – und sie steigt leider von Tag zu Tag. Wir fallen, so wie seinerzeit die Chinesen, technologisch, ökonomisch und militärisch zurück.

Noch haben wir es freilich in der Hand, eine derartige Entwicklung zu vermeiden. Dazu wird aber ein unangenehmer und schmerzhafter Lernprozess notwendig sein.

Wir werden lernen müssen, dass wir – wie die Israelis – in einer Welt leben, die uns feindlich gesinnt ist. Wir werden lernen müssen, dass wir – wie die Chinesen – wieder mehr leisten müssen, in jeder Hinsicht. Wir werden lernen müssen, dass wir – wie die Amerikaner – Risikobereitschaft und Eigenverantwortung der Bürger für ihr Leben und ihre Familien brauchen. Und wir werden lernen müssen, dass Europas infantiler Traum vom Susi-Sorglos-Staat weitgehend gescheitert ist.

All das werden wir lernen und beherzigen müssen, damit es auch weiterhin ein Haupttreffer sein wird, im lebenswerten Europa geboren zu werden.

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