Wird Frankreich das neue Griechenland?

Kann Frankreich nach der Wahl aus dem politischen Patt rausfinden? Emmanuel Macron und seine Verbündeten haben breite Wählerschichten desillusioniert und Populisten den Weg bereitet. Die Gefahr einer Schuldenkrise ist so groß wie seit der Eurokrise nicht mehr.

Anhänger der Neuen Volksfront sitzen und feiern auf dem Denkmal auf der Place de la République in Paris nach dem Sieg über die rechtsextremen Parteien bei den Parlamentswahlen. Das Bild illustriert eine Beitrag über Frankreich nach der Wahl.
Frankreich nach der Wahl: Anhänger der Neuen Volksfront feiern am 7. Juli 2024 auf der Place de la République in Paris nach dem Sieg über die rechtsextremen Parteien. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Fehler. Macrons Entscheidung, das französische Parlament aufzulösen, war angesichts der politischen und wahltechnischen Realitäten unlogisch.
  • Patt. Das Parlament ist in drei Blöcke ohne klare Mehrheit gespalten: der „Block der Mitte“ um Macron, der „nationale Block“ um die RN und der „linke Block“.
  • Abgehoben. Die politische Elite des Mitteblocks hat sich in einer globalen Agenda verzettelt, die von einer Mehrheit klar abgelehnt wird.
  • Krisengefahr. Hohe Staatsschulden werden durch Inflation und die EZB in Zaum gehalten – die Politik hat jedoch kaum noch Spielraum.

Niemand weiß, warum Emmanuel Macron das französische Parlament am 9. Juni aufgelöst hat. Das miserable Abschneiden seines Kandidaten bei den Europawahlen bot keine solide Grundlage für eine solche Entscheidung. Es gab keine Chance, dass die Koalition, die seine Minderheitsregierung stützt, im Parlament gestärkt wird, geschweige denn eine absolute Mehrheit erreicht hätte. Und während Spekulationen über eine mögliche Regierung unter einem Premierminister Jordan Bardella, Chef der rechtsaußen stehenden Rassemblement National (RN), rechnerisch keinen Sinn ergaben, konnte die berüchtigte Rechte Sitze gewinnen.

Das Hauptgeschäft der Rassemblement National besteht darin, Proteststimmen zu sammeln. Aus diesem Grund hat sie bei den Europawahlen, bei denen wenig auf dem Spiel steht, immer viel besser abgeschnitten als bei den Parlamentswahlen, bei denen es ernsthaft zugeht. Diesmal jedoch nicht. Der Anteil der RN-Wähler an den Parlamentswahlen stieg von 18 Prozent im Jahr 2022 auf 31 Prozent im Jahr 2024.

RN-Wähler sind diejenigen, die die Kosten der Politik tragen. Indem sie für die RN stimmen, versuchen sie verzweifelt, die herrschende Klasse davon zu überzeugen, ihre Anliegen zu berücksichtigen. Der jüngste starke Anstieg der Unterstützung für die RN erklärt sich aus der Tatsache, dass diese Themen kritisch geworden sind.

Es wirkt sehr scheinheilig, wenn Eliten nur in bestimmten Fällen notwendige Sparsamkeit beschwören.

Die Energiepreise sind in den letzten fünf Jahren um 70 Prozent gestiegen, was auf die Sanktionen gegen Russland, die sogenannte „grüne Wende“ und die Teilnahme Frankreichs am gemeinsamen EU-Strommarkt zurückzuführen ist. Die Inflation hat sich beschleunigt, während das Lohnwachstum hinterherhinkt, sodass der Lebensstandard ausgehöhlt wird.

Frankreich nach der Wahl: frustrierte Blöcke

Unpopuläre Reformen wie die Erhöhung des Pensionsalters im Jahr 2023 haben viel Misstrauen gegenüber den Politikern geweckt. Erstens, weil der 1945 etablierte Gesellschaftsvertrag, der einen kontinuierlichen sozialen Fortschritt vorsieht, von der herrschenden Klasse gebrochen wurde.

Zweitens, weil es sehr scheinheilig wirkt, wenn Eliten nur in bestimmten Fällen notwendige Sparsamkeit beschwören: Während es nie an öffentlichen Geldern für die Agenda der Eliten mangelt, wie zum Beispiel bei den Covid-Hilfen für die Wirtschaft oder bei der Klimapolitik, verschwinden plötzlich freie Mittel, wenn es darum geht, für Pensionen, Krankenhäuser, Arbeitslosenversicherung oder Schulen zu zahlen.

Drittens wurde die Reform trotz des Widerstands der Mehrheit der Bevölkerung und des Parlaments durch einen Verfassungstrick durchgesetzt, was Zweifel am demokratischen Charakter der Regierung aufkommen lässt.

Die fortschreitende Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen ist in den Landesteilen, aus denen die RN-Wähler kommen, offensichtlich. Beispiele gibt es viele. So gibt es im gesamten Département Mayenne im Nordosten des Landes nachts von 18.30 bis 8.00 Uhr keine Notdienste mehr in den öffentlichen Krankenhäusern. Infolgedessen stieg in dieser traditionell eher links orientierten Region der Stimmenanteil für die RN von nur 13 Prozent im Jahr 2022 auf 28 Prozent im Jahr 2024.

Drei verkeilte Blöcke

Die Wahlen haben uns ein geteiltes Parlament beschert, aus dem keine klare Mehrheit hervorgeht. Diese geteilte Nationalversammlung spiegelt eine gespaltene Gesellschaft wider. Es gibt jetzt drei ungefähr gleich große politische Gruppen, jeweils mit ihrer eigenen klar definierten sozioökonomischen Basis.

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Zahlen & Fakten

Der erste Block ist der „Block der Mitte“ (Ensemble ENS). Politisch wird er mit Präsident Macron in Verbindung gebracht, den zentristischen Parteien, die ihn offiziell unterstützen, sowie den recht loyalen Mitte-Rechts-Republikanern und den weniger loyalen Sozialisten und Grünen, die möglicherweise eine Koalition mit dem ultralinken Jean-Luc Mélenchon bilden. Die Wähler des zentralen Blocks sind die größtenteils bürgerlichen Teile des „Systems“: Pensionisten, Beamte, Manager des Privatsektors usw. Sie befürworten im Wesentlichen den Status quo sowie einige notwendige Reformen.

Es wird behauptet, die Wähler der RN seien die Verlierer der Globalisierung, aber in Wirklichkeit sind sie eher die Verlierer der Innenpolitik.

Der zweite Block ist der „nationale Block“, die RN und einige andere Parteien. Es wird behauptet, dass sie die Verlierer der Globalisierung sind, aber in Wirklichkeit sind sie eher die Verlierer der Innenpolitik. Der nationale Block ist im Laufe der Zeit gewachsen, weil die Politik immer mehr Verlierer und immer weniger Gewinner hervorgebracht hat. Das liegt daran, dass die Eliten zunehmend eine globale Agenda durchgesetzt haben, die an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht.

Die dritte Gruppe ist der „linke Block“ (Nouveau Front populaire NFP – zu Deutsch „Neue Volksfront“), der sich um Mélenchons Partei „La France insoumise“ (LFI) gruppiert. Es handelt sich um eine Koalition aus zwei sozialen Gruppen. Erstens die ethnischen Unterschichten in den Vorstädten, die sich auf der Grundlage einer Identitätspolitik nach amerikanischem Vorbild dem Linksblock angeschlossen haben. Zweitens die linksgerichtete bürgerliche Stadtjugend, die unter der wirtschaftlichen Deklassierung aufgrund der schrumpfenden Mittelschicht und der Verwässerung der Hochschulbildung durch immer breiteren Zugang leidet. Die Hochschulen wiederum werden von der „Woke“-Ideologie erfasst.

Wirtschaftlich gesehen haben die Wähler des linken Blocks ähnliche Probleme wie die Wähler des nationalen Blocks. Der Appell an die „Wokeness“-Ideologie und die Identitätspolitik haben jedoch bisher ein Bündnis zwischen dem Linksblock und dem nationalen Block ausgeschlossen. Davon hat der Block der Mitte profitiert, obwohl Macrons Anhänger in der Minderheit sind.

Da die derzeitige politische Instabilität die zugrunde liegende wirtschaftliche und soziologische Spaltung der französischen Gesellschaft widerspiegelt, gehe ich davon aus, dass diese Situation anhalten wird.

Politisches Patt

Welche Regierung könnte aus dem derzeitigen Parlament hervorgehen? Es wird viel darüber geredet, dass die Linkskoalition NFP die Wahlen gewonnen hat und daher die nächste Regierung stellen sollte. Die NFP ist jedoch ein reines Wahlbündnis, dem Mitte-links-Parteien angehören, die eigentlich dem Mittelblock zuzurechnen sind. Außerdem kontrolliert sie nur 200 der 577 Abgeordneten. Wenn Macron eine NFP-Regierung ernennt, wird diese große Schwierigkeiten haben, Gesetze zu verabschieden, und sie wird sich nicht lange halten.

Zwei andere Ergebnisse sind wahrscheinlicher. Erstens eine Erweiterung der derzeitigen Koalition nach links, einschließlich der Grünen und der Sozialisten und vielleicht der Kommunisten, aber nicht der LFI von Mélenchon. Eine solche Koalition würde trotz ihrer Breite die parlamentarische Mehrheit verfehlen. Zweitens, könnte eine große Koalition entstehen, die Macrons Unterstützer sowie die Sozialisten und die Republikaner und vielleicht die Grünen umfassen würde.

Eine große Koalition wäre gelähmt, was Reformen des Wohlfahrtsstaates angeht, würde aber ironischerweise die Politik, die am meisten zum Aufstieg des nationalen Blocks beitrug, weiter betreiben.

Im ersten Fall müsste Macron Zugeständnisse an die Linke machen, indem er einen Teil des Programms der NFP übernimmt. Zum Beispiel: ein faktischer Verzicht auf die letzte Pensionsreform, vielleicht durch die Einführung zahlreicher Ausnahmen, auch wenn die linken Partner auf einer formellen Aufhebung bestehen könnten. Zudem die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Macron 2017 abgeschafft, aber für Immobilienvermögen beibehalten hatte. Außerdem müsste er wohl einer überschaubaren Erhöhung des Mindestlohns, sagen wir um fünf Prozent statt der von der NFP-Plattform vorgeschlagenen 20 Prozent, zustimmen. Und letztlich müsste der Präsident auf weitere „neoliberale“ Reformen des Sozialstaats, insbesondere der Arbeitslosenversicherung, verzichten.

Im Gegensatz dazu wäre eine große Koalition gelähmt, was Reformen des Wohlfahrtsstaates angeht, würde aber weiterhin die globale Agenda der europäischen Integration und der grünen Wende umsetzen, also ironischerweise die Politik, die am meisten zum Aufstieg des nationalen Blocks beigetragen hat.

Gefährlicher Schuldenberg

In jedem Fall wird die neue Regierung unter einer starken finanziellen Belastung arbeiten müssen, und dies wäre auch ohne die Auflösung des Parlaments am 9. Juni der Fall gewesen. Seit der Covid-Zeit hat sich die Schuldenquote bei 110 Prozent des BIP stabilisiert, ein problematisch hoher Wert. Dies macht es recht schwierig, weitere öffentliche Ausgaben zu beschließen, insbesondere die von der NFP-Plattform vorgeschlagenen.

Weitere Steuererhöhungen könnten sich in dem Land mit der höchsten Steuerquote der entwickelten Welt als untragbar erweisen. Und die Vorgängerregierungen haben sich als unfähig erwiesen, die öffentlichen Ausgaben zu senken, selbst wenn sie es versucht haben. Infolgedessen ist das derzeitige öffentliche Defizit mit 5-6 Prozent des BIP nach wie vor hoch und wird es angesichts der schlechten Wachstumsaussichten in naher Zukunft wohl auch bleiben.

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Zahlen & Fakten

Wie kann die Staatsverschuldung stabil bleiben, wenn die Defizite hoch sind? Die Antwort lautet Inflation. Die jüngste Teuerung hat den realen Wert der Staatsverschuldung verschleiert und verhindert, dass sie 120-130 Prozent des BIP erreicht. Dass sich die Haushaltslage nicht weiter verschlechtert hat, ist der doppelten Nachsicht von Europäischer Zentralbank (EZB) und den Märkten zu verdanken. Die EZB ist angesichts des Inflationsanstiegs relativ zurückhaltend geblieben, hat mit Verzögerung reagiert und die Zinssätze nur entsprechend der Inflation angehoben.

Die Märkte haben ihre Inflationserwartungen niedrig gehalten, obwohl die Gefahr bestand, dass die unzureichende Reaktion der EZB eine Inflationsspirale ausgelöst haben könnte. Und sie haben Frankreich weder für seine fiskalische Disziplinlosigkeit noch für die Instabilität bestraft, die durch die jüngsten politischen Entwicklungen entstanden ist. Die Rendite 10-jähriger Staatsanleihen liegt bei nur drei Prozent, was nach Abzug der Inflation negativ ist und darauf hindeutet, dass die Märkte sehr wohl an „Business as usual“ glauben.

Erhöhte Krisengefahr

Frankreich hat zwar keinen finanzpolitischen Spielraum, befindet sich aber noch nicht in einer Finanzkrise. Dies ist jedoch glücklichen Umständen zu verdanken: Die Inflation ist zwar hoch, aber unter Kontrolle; die Absicht der EZB, Anleihen aufzukaufen, um eine weitere Staatsschuldenkrise zu verhindern, gilt nach wie vor. Und die Gefahr des Populismus wird durch die Spaltung zwischen den linken und nationalen Blöcken eingedämmt. All diese Bedingungen spiegeln sich in den Markterwartungen wider.

Dennoch kann alles schiefgehen: Die geopolitischen Entwicklungen könnten zu einem weiteren Anstieg der öffentlichen Verschuldung führen, der die Staatsfinanzen in den Bereich der „Griechenlandkrise“ drängen würde. Automatische Inflationsanpassungen bei Löhnen und anderen Transfers sowie Preisen könnten in Europa wieder auftauchen und eine Inflationsspirale auslösen, die die EZB schließlich zu einer restriktiveren Haltung zwingen würde. Höhere Ausgaben für Zinsen auf Staatsschulden wären die Folge. Populistische Maßnahmen wie überhöhte Mindestlöhne oder eine überbordende Unternehmensbesteuerung könnten durch einen schrumpfenden zentralen Block im Parlament, der dem Druck nachgibt, oder einen unerwarteten Pakt zwischen dem linken und dem nationalen Block erzwungen werden.

Während also eine „nachhaltige Stagnation“ das wahrscheinlichste Szenario bleibt, kann eine Krise nicht ausgeschlossen werden, und ihre Wahrscheinlichkeit ist so hoch wie seit der Staatsschuldenkrise von 2012 bis 2013 nicht mehr.

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Conclusio

Die Auflösung des französischen Parlaments durch Emmanuel Macron am 9. Juni hat die politischen Spannungen und Unsicherheiten verstärkt. Die steigende Unterstützung für populistische Parteien in Frankreich nach der Wahl spiegelt die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den hohen Energiepreisen, unpopulären Reformen und dem Verfall öffentlicher Dienstleistungen wider. Die politische Landschaft ist nun in drei Blöcke gespalten, die keine klare Mehrheit haben, was die Regierungsbildung erschwert und die politische Instabilität verstärkt. Frankreich steht zudem vor erheblichen finanziellen Herausforderungen, darunter hohe Staatsverschuldung und Defizite, die nur durch Inflation und die Nachsicht der Europäischen Zentralbank stabil gehalten werden. Eine folgenreiche Schuldenkrise wie in Griechenland vor 15 Jahren ist nicht mehr auszuschließen.

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