Wie das Gedächtnis funktioniert

Das Gedächtnis funktioniert nicht wie eine Festplatte, auch wenn das viele glauben. Lernen und erinnern sind komplizierte Prozesse, bei denen das Erlebte verarbeitet und verändert wird.

Eine Illustration, die ein altertümlich gekleidetes Kind zeigt, das durch ein labyrinthisch anmutendes Gebäude geht.
Unsere Erinnerungen spiegeln nicht wider, was passiert ist, sie erzählen vielmehr das Narrativ unseres Lebens. © Lars Henkel
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Auf den Punkt gebracht

  • Zweigeteilt. Beim Lernen wird zwischen implizitem und explizitem Lernen unterschieden – ein Gedicht auswendig lernen oder Fahrrad fahren.
  • Episodisch. Aus erlebten Episoden unseres Lebens extrahieren wir Regeln, die uns helfen, uns in der Welt zu bewegen.
  • Konstruiert. Aber unsere Erinnerungen spiegeln nicht das wider, was wirklich passiert ist; sie sind eine Konstruktion unseres Gehirns.
  • Verschwunden. Auch das Vergessen ist ein völlig normaler Vorgang und hilft dem Gehirn, um unbrauchbar gewordene Regeln zu ersetzen.

Die deutsch-rumänische Medizinerin Hannah Monyer ist ärztliche Direktorin der Universität Heidelberg und schrieb das Buch „Das geniale Gedächtnis“ – weshalb Sie dem Pragmaticus die wichtigsten Fragen rund um Gedächtnis und Erinnern beantwortet hat: 

Was passiert im Gehirn, wenn wir etwas lernen oder uns etwas merken?

Wir unterscheiden zwischen unterschiedlichen Formen des Lernens. Wir sprechen von explizitem Lernen, wenn wir uns bestimmte Ereignisse oder Fakten merken und von implizitem Lernen, wenn wir Abläufe wie zum Beispiel jene beim Fahrradfahren zunehmend besser beherrschen.

Es sind unterschiedliche Hirnstrukturen, die bei explizitem und implizitem Lernen beteiligt sind, und es unterscheiden sich auch die jeweiligen zellulären Prozesse und zeitlichen Dynamiken: explizites Lernen erfolgt rasch, aber das Gelernte wird auch leichter vergessen; hingegen erfordert implizites Lernen oft mehr Zeit, überdauert aber länger. Zum Beispiel: Vieles, was wir für eine Prüfung gelernt haben und erfolgreich wiedergeben konnten, ist schon nach kurzer Zeit vergessen. Im Gegensatz dazu vergisst man das Fahrradfahren nicht, auch wenn man jahrelang nicht fährt.

Aber in allen Fällen gilt, dass es bei jeder Form von Lernen kommt zu strukturellen Veränderungen im Gehirn kommt. Was meine ich damit? Die Nervenzellen im Gehirn kommunizieren miteinander über Kontaktstellen, die sogenannten Synapsen. Diese werden beim Lernen verstärkt, und es entstehen sogar komplett neue Synapsen. Das heißt, es gibt mehrere Mechanismen, die dazu führen, dass die Kommunikation zwischen bestimmten Zellen effizienter wird. Dies nennen wir synaptische Plastizität. Und ganz gleich was gelernt wird, das Gehirn ist nachher anders als vorher. Das Gelernte hinterlässt eine Spur – ein sogenanntes Engramm. 

Wie gehen Erinnerungen oder Gelerntes vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis über?

Ich spreche fortan nur vom episodischen Gedächtnis, denn dieses ist es, woran die meisten denken, wenn sie von erinnern und vergessen sprechen. Das episodische Gedächtnis ist eine Unterform des expliziten Gedächtnisses, und dabei geht es um das Memorieren von „Episoden“. Anders ausgedrückt: Das Memorieren von „was“, „wann“, „wo“ stattgefunden hat.

Wir unterscheiden beim Lernen zwei Schritte, nämlich Kodierung und Konsolidierung. Beim wiederholten Lesen und Aufsagen eines Gedichtes, das wir versuchen, auswendig zu lernen, kommt es zunächst zum Anlegen einer Gedächtnisspur. Diese ist jedoch labil. Unmittelbar nach dem Lernen, aber auch im Schlaf, kommt es zu einem wiederholten Abspielen des neu Gelernten, das heißt, Nervenzellen, deren Synapsen beim Lernen aktiv waren, sind erneut aktiv. Wir nennen dies Replay. Dabei wird die neue Gedächtnisspur konsolidiert, also für längere Zeit angelegt. Deshalb sind Ruhepausen und Schlaf Gedächtnis fördernd.

Beim episodischen Gedächtnis erfolgen diese beiden Schritte des Lernens, nämlich Kodierung und Konsolidierung, in einer Hirnstruktur, die Hippocampus heißt. Beim Replay wird das neu Gelernte nicht konsolidiert, sondern auch komprimiert und vom Hippocampus in die Großhirnrinde transferiert, wo es zur Langzeitspeicherung kommt.

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Zahlen & Fakten

Was macht eigentlich der Hippocampus?

Der Hippocampus spielt eine zentrale Rolle für unser Gedächtnis und unsere Orientierung. Er verarbeitet neue Informationen und speichert sie in das Langzeitgedächtnis. Besonders wichtig ist er für das episodische Gedächtnis sowie für das räumliche Gedächtnis, das uns hilft, uns in unserer Umgebung zurechtzufinden. Studien zeigen, dass der Hippocampus wie eine innere Landkarte funktioniert und beispielsweise bei Taxifahrern in Großstädten besonders stark ausgeprägt ist.

Doch der Hippocampus ist nicht nur Speicher, sondern auch Filter: Er hilft, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden. Gleichzeitig ist er anfällig für Stress, der seine Funktion beeinträchtigen kann. Chronischer Stress kann die Nervenzellen im Hippocampus schädigen und so Gedächtnis- und Orientierungsprobleme hervorrufen. Forscher vermuten zudem einen Zusammenhang zwischen einer Schrumpfung des Hippocampus und Erkrankungen wie Depression oder Alzheimer.

Warum ist es so viel einfacher, als Kind etwas zu lernen und sich zu merken?

Wie bereits erwähnt, erfolgt die Kommunikation zwischen Nervenzellen über Synapsen und beinhaltet das Weiterleiten elektrischer Signale. Dabei kommt es zur Öffnung bestimmter Kanäle, deren Eigenschaften sich während der Entwicklung des Gehirns verändern. Jene Kanäle, die für das episodische Gedächtnis essentiell sind, bleiben im jungen Gehirn länger geöffnet und die elektrischen Impulse sind größer als im adulten oder alten Gehirn, was mit einer größeren Plastizität und Lernfähigkeit einhergeht.  Zumindest im Tierexperiment ist dies der Fall, und wir gehen davon aus, dass es bei Menschen nicht anders ist.

Neben der Veränderbarkeit vorhandener Synapsen entstehen im jungen Gehirn auch leichter ganz neue Synapsen. Diese erhöhte Plastizität des jungen Gehirns endet während der Entwicklung und danach ist der Erwerb bestimmter Fähigkeiten schwerer, manchmal nahezu unmöglich. In den Neurowissenschaften wird diese Zeitspanne „critical window“ oder „window of opportunity“ genannt. So kann man beispielsweise nach dem 9. oder 10. Lebensjahr durchaus neue Sprachen lernen, man wird diese aber nicht akzentfrei sprechen.

Wie hilft uns das Gedächtnis, uns in der Welt zu bewegen?

Aus den einzelnen erlebten „Episoden“ extrahieren wir Regeln, das heißt ein Wissen, das uns hilft beim erneuten Eintreten eines gleichen oder ähnlichen Ereignisses schnell zu handeln oder aber auch bestimmte Situationen zu vermeiden. Einige Erfahrungen, vor allem jene, die mit starken Emotionen einhergehen, bedürfen keiner Wiederholung, und werden dennoch für immer gespeichert. So lernen wir zum Beispiel, schädlich von unschädlich zu unterscheiden. Andere Lerninhalte müssen mehrfach wiederholt werden, damit daraus ein „Schema“, etwas Allgemeines gelernt wird.

Das Gelernte wird dann zum  „Vorwissen“ mit dem wir Neuem begegnen. Im besten Fall führt es dazu, dass erworbene Regeln uns helfen, ein neues Problem schnell zu lösen.

Die Gedächtnisforschung hat gezeigt, dass wir uns an Ereignisse eigentlich nie richtig erinnern. Warum ist das so?

Genauso ist es. Unsere Erinnerungen geben nicht das wieder, was sich zugetragen hat, sondern sind eine „Konstruktion“ unseres Gehirns, in denen sich Zugetragenes mit Hinzugefügtem und Weggelassenem vermischen. Bei jedem Lernschritt kommt es zu einer Modifikation dessen, was wir gelernt haben. Bereits bei der Kodierung wird das Erlebte nicht so repräsentiert, wie es tatsächlich stattgefunden hat. Unser Vorwissen, aber auch andere Faktoren (zum Beispiel Wachheitszustand, Motivation) führen dazu, dass wir unsere Umwelt selektiv und nicht vollständig repräsentieren. Einiges wird weggelassen, anderes wird hinzugefügt. Tatsache ist, wir „konstruieren“ unsere Erinnerungen so, dass diese kongruent sind mit unserem bereits vorhandenen Wissen aber auch mit unseren Zukunftsplänen.

Beim Abspeicherungsprozess kommt es zu weiteren Modifikationen, das heißt zum Weglassen bestimmter Inhalte und dem Verstärken anderer. Deshalb wird beispielsweise etwas gemeinsam Erlebte von jedem Individuum einer Gruppe anders erlebt und erinnert. Unser Gehirn erzeugt ein Narrativ, eine kohärente Erzählung, in der das Neue passend zum Alten hinzugefügt wird. Des Weiteren wird dann bei jedem Abruf eine Erinnerung in einen neuen Kontext gesetzt und erneut modifiziert. So weichen unsere Erinnerungen über die Jahre zunehmend mehr von der „Originalspur“ ab.

Aber wir erinnern uns nicht nur falsch, wir vergessen auch vieles wieder. Sollte einem das Sorgen bereiten?

Nein, das normale, physiologische Vergessen ist ein ebenso wichtiger Prozess wie das Lernen. Auch dabei kommt es zu strukturellen Veränderungen im Gehirn. Das Vergessen hilft uns – wie das Lernen auch –, uns an unsere Umwelt flexibel anzupassen. Es hilft uns, bereits vorhandenes Wissen zu überschreiben, gelernte Regeln, die nicht mehr brauchbar sind, durch neue zu ersetzen. Dies ist wichtig, denn wir leben in einer permanent sich verändernden Welt. Die molekularen und zellulären Prozesse des Vergessens sind weniger bekannt als die des Lernens, aber wir wissen, dass nicht vergessen können nicht wünschenswert ist. Auf Zellebene heißt Vergessen – wie Lernen auch –, dass es zu einer Modifikation vorhandener Synapsen kommt.

Menschen vergessen trotzdem nicht gerne. Wie kann man das Vergessen bekämpfen?

Natürlich kann man dem normalen, altersbedingten Vergessen bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Das Gehirn ist ein Organ, das, wie auch andere Organe unseres Körpers, benutzt und trainiert werden will. So wie Sport die Muskeln, Knochen, Sehnen trainiert, sind bestimmte Tätigkeiten dem Gehirn und dessen Leistungen förderlich. Dazu gehören beispielsweise Gedichte und Sprachen lernen, aber auch sportliche Betätigungen.

Das hat damit zu tun, dass im Gehirn so gut wie alle Hirngebiete direkt oder indirekt miteinander verbunden sind. Das heißt, wenn wir Sport betreiben, sind im Gehirn nicht nur die Gebiete aktiv, die unsere Bewegungen steuern, sondern auch andere Hirngebiete, mit denen diese verbunden sind. Wichtig ist auch, Neues zu lernen, das uns emotional befriedigt. Dies wird leichter gelernt und auch länger behalten.

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Conclusio

Erleben. Wenn wir Dinge erleben, hinterlassen diese Erlebnisse Spuren im Gehirn.
Erinnern. Wir prägen uns diese Erlebnisse aber nicht genau so ein wie sie stattgefunden haben.
Vergessen. Wenn das Gehirn befindet, dass Erlebtes keinen Nutzen mehr hat, wird es vergessen.

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