Auf der Suche nach der Theorie von eh allem
Mit einem speziellen Experiment will Gerard Higgins in Wien dunkle Materie nachweisen. Und ganz nebenbei die Weltformel finden.

Selbst die Probleme der Physik sind manchmal sehr banal. Zum Beispiel: Habe ich gerade dunkle Materie gemessen oder ist einfach nur die Straßenbahn vorbeigefahren? Gerard Higgins steht an einer Tafel im zweiten Stock des Wiener Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOIQ) und versucht mit drei verschiedenen Farben Kreide zu skizzieren. Was ihn gerade antreibt und wie er mit vergleichsweise simplen Mitteln versucht, eines der größten Rätsel der Physik zu lösen.
Mehr Forschungsreisen
Nichts weniger nämlich als dunkle Materie zu finden. „Alles im Universum“, erklärt Higgins, „besteht aus Energie – sichtbares und nicht sichtbares Licht – und Materie – also alles, auf das die Schwerkraft wirkt.“ So weit, so simpel. Aber unglücklicherweise stimmt etwas nicht. Alle unsere Theorien der Welt, die wir grundsätzlich als korrekt betrachten – Einsteins allgemeine Relativitätstheorie zum Beispiel – ergeben keinen Sinn, wenn wir uns das bekannte Verhältnis von Energie und Materie anschauen. Deshalb sind Physiker in den 1970ern zu dem Schluss gekommen, dass im Universum Materie existieren muss, die wir nicht sehen können. „Es scheint, dass sie nicht mit Licht interagiert, deshalb nennen wir sie dunkle Materie. Sie ist unsichtbar.“
Irgendwo versteckt sich sehr viel dunkle Materie
Aber, sagt Higgins: Sie muss da sein. Wahnsinnig viel davon sogar; etwa fünfmal so viel wie von jener Materie, die wir kennen. Unter anderem, weil sich die Galaxien so schnell drehen, dass „eine zusätzliche Masse vorhanden sein muss, die zusätzliche Schwerkraft verursacht und dadurch verhindert, dass die Galaxien auseinanderfliegen.“ Trotzdem ist ziemlich alles, was dunkle Materie betrifft, unbekannt: Wo sie ist, wie sie entstanden ist, wie groß ihre Partikel sind.
Alle Versuche, dunkle Materie ausfindig zu machen, sind bislang gescheitert. „Man hat bislang unter anderem nach vielen großen Klumpen dunkler Materie gesucht – Objekte, die mindestens die Größe eines Planeten haben können. Die Idee war: Wenn wir auf einen Stern schauen und die Teilchen der dunklen Materie zwischen uns und dem Stern vorbeiziehen, dann wird das Licht des Sterns durch die vorbeiziehende dunkle Materie verzerrt, weil die große Masse an dunkler Materie das Licht krümmt.“ Alles erfolglos.
Und dann ist da noch eine Kleinigkeit: Auch wenn sie nicht groß ist, gibt es immer noch die Chance, dass dunkle Materie überhaupt nicht existiert. Dass es andere Erklärungen dafür gibt, warum unsere Theorien über die Welt keinen Sinn ergeben. „Es gibt zum Beispiel die Idee, dass sich Schwerkraft auf große Distanzen anders verhält als wir glauben.“ Dies könnte die schnelle Rotation der Galaxien erklären, ohne dass es dunkler Materie bedarf. Allerdings ist das unwahrscheinlich, denn „es gibt viele andere Hinweise, abseits der schnellen Rotation, die darauf hindeuten, dass dunkle Materie existiert“, sagt Higgins. Es lohnt sich also, weiterhin nach ihr zu suchen.
Hoffentlich auch auf der Erde
Deshalb hat er nun sein eigenes Experiment entwickelt, mit dem er dem Phänomen auf die Spur kommen will. Er braucht dafür kein Teleskop, lediglich einen richtig kalten Kühlschrank. Denn er sucht nicht im All nach dunkler Materie. Damit sein Experiment gelingen kann, muss er eine Wette eingehen: Dass nämlich dunkle Materie nicht ähnlich einem Planeten irgendwo konzentriert im All ist, sondern dass sie überall ist, auch hier auf der Erde. Higgins hofft, dass ihre Partikel in einer gewissen Regelmäßigkeit durch sein Labor fliegen und deshalb auch gemessen werden können. „Denn wenn dunkle Materie alle paar Millionen Jahre mal die Erde passieren würde, könnten wir sie so nicht finden.“
Der Kern seines Experiments sind Quantensensoren, millimeterkleine supraleitende Objekte, die eine Temperatur nahe des absoluten Nullpunkts – minus 273,15 Grad Celsius – benötigen. Deshalb der spezielle Kühlschrank. Sie schweben mit Hilfe von Magneten in einem Vakuum, und sie sind vor ungewollten Einflüssen der Außenwelt abgeschirmt. „Damit wir eben sichergehen können, dass das Signal wirklich dunkle Materie ist und keine Erschütterung durch etwa eine vorbeifahrende Straßenbahn“, erzählt Higgins.
Die Hoffnung ist, dass dunkle Materie, die den Kühlschrank und damit Higgins' Experiment passiert, eine Reaktion hervorruft, dass also die Quantensensoren leicht in Bewegung kommen. Vor wenigen Wochen hat er eine Förderzusage des Europäischen Forschungsrats, einen sogenannten ERC-Grant, bekommen, mit dem er nun in der Lage ist, sein Experiment aufzubauen. Er hofft, dass er in zwei Jahren so weit ist, tatsächlich mit der Suche nach dunkler Materie zu starten.
Auf der Suche nach der Weltformel
Higgins will aber nicht einfach nur dunkle Materie finden – für sich schon ein Unterfangen, das die Welt der Physik revolutionieren würde –, er hat auch eine genaue Vorstellung davon, wie diese dunkle Materie beschaffen sein könnte. Higgins hofft, dass die Masse der dunklen Materie im Bereich der sogenannten Planck-Masse liegt – etwa zwei Hunderttausendstel Gramm. Dunkle Materie mit dieser Masse wäre damit an der Schnittstelle von Quantenphysik und Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Es wäre „ein Hinweis auf ein Zusammenspiel dieser beiden Welten.“
Das klingt erst dann spektakulär, wenn man es anders formuliert: Wenn dunkle Materie die Planck-Masse hat, könnte uns das helfen, eine Weltformel, eine Theorie von allem, zu entwickeln. Solch eine Weltformel müsste genau das tun: Die Quantenphysik mit der allgemeinen Relativitätstheorie verbinden. „Einstein hat versucht sie zu finden, was ihm nicht gelungen ist. Somit bleibt die Frage, ob es eine Weltformel gibt, offen“, sagt Higgins. Er hofft, dass er es schafft, sie zu finden. Und dass die Straßenbahn sein Experiment nicht stört.
Über diese Serie
Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast bei Peter Turchin vom Complexity Hub, der die USA vor einem Bürgerkrieg sieht, hat mit Alexander Lukeneder vom Naturhistorischen Museum nach Fossilien gesucht und sich von Lisa Bugnet am ISTA erzählen lassen, wie die Sterne klingen. Alle Forschungsreisen können Sie hier nachlesen.