Trauen Sie Ihren Erinnerungen nicht

Unsere Erinnerungen sind unzuverlässig und oft falsch, manchmal sogar komplett erfunden. Jetzt arbeiten Forscher auch noch daran, sie gezielt zu löschen. 

Eine Illustration, die zeigt, wie Erinnerungen verblassen, indem sie Menschen ohne Gesichter zeigt.
Unsere Erinnerungen sind flüchtig – und oft auch falsch. © Lars Henkel
×

Auf den Punkt gebracht

  • Kollektiv falsch. Unseren Erinnerungen ist nicht zu trauen, manchmal erinnern wir uns sogar alle gemeinsam falsch.
  • Guter Grund. Das hat damit zu tun, wie unser Gehirn arbeitet: Es ist an akkuraten Erinnerungen gar nicht interessiert.
  • Ganz falsch. Es ist leider auch erstaunlich einfach, es zu täuschen, ihm etwa nie passierte Ereignisse einzureden.
  • Und weg. Forscher arbeiten gerade auch daran, vorgefallene Erinnerungen zu löschen, als wären sie nie passiert.

Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Ihr Kind die ersten Schritte gemacht hat? An seinen stolzen Gesichtsausdruck und den süßen Pullover, den es damals trug? Selbstverständlich wissen Sie das alles noch ganz genau. Unsere kostbarsten Erinnerungen vergessen wir nie, jedes Detail hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt.

Die Sache ist nur leider die: So funktioniert das Gedächtnis nicht. Viele Details, an die wir uns zu erinnern glauben, sind falsch. Der süße Pulli war dem Kind damals vielleicht schon viel zu klein und längst aussortiert worden. Gut möglich, dass Sie auch den Tag verwechseln, an dem es passiert ist. Oft neigen Eltern im Nachhinein dazu, die ersten Schritte vorzudatieren. Nicht weil sie absichtlich lügen, sondern weil sie so stolz auf ihr Kind sind und fix davon überzeugt, dass es diesen Meilenstein schon früher erreicht hat.

Wann ist Mandela gestorben?

Kurz gesagt: Unseren Erinnerungen ist leider überhaupt nicht zu trauen. Und je mehr Wissenschaftler über das Gehirn herausfinden, desto mehr zeigt sich, dass Erinnerungen viel mehr darüber aussagen, wer wir sind, wer wir waren und wer wir sein wollen, als dass sie uns Auskunft darüber geben, was bei einem bestimmten Ereignis genau passiert ist. Es ist Forschern gelungen, Erinnerungen bewusst zu verfälschen und Menschen einzureden, dass komplett erfundene Ereignisse wirklich passiert sind. Genauso arbeiten sie daran, unangenehme Erinnerungen aus unserem Gedächtnis zu löschen, als hätte es sie nie gegeben.

Sogar im Kollektiv können Menschen etwas Falsches abspeichern. Viele sind etwa unabhängig voneinander davon überzeugt, dass der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela in den 1980er-Jahren im Gefängnis auf Robben Island gestorben sei – auch wenn er in Wirklichkeit 1994 entlassen wurde, später zum Staatspräsidenten des Landes wurde und erst 2013 starb. „Mandela-Effekt“ wird dieses Phänomen deshalb genannt. Diese Menschen erinnern sich mit erstaunlichen Details an Mandelas Tod in den 1980ern, an die Zeitungsberichte und an eine Rede, die seine Witwe damals gehalten haben soll.

Remember again, Sam

Andere Beispiele haben sich tief ins popkulturelle Gedächtnis eingegraben: Die Sätze „Luke, I am your father“ aus „Star Wars“ und „Play it again, Sam“ aus „Casablanca“ kennt fast jeder. Und doch sind beide Sätze nie so gefallen; sie lauten „No, I am your father“ und „Play it, Sam“. Menschen reagieren mit Erstaunen, wenn sie erfahren, dass Mr. Monopoly, das Maskottchen des gleichnamigen Spiels, kein Monokel hat (sie suchen in Internetforen auch verzweifelt nach alten Versionen des Spiels, weil sie nachweisen wollen, dass er einst eines hatte und ihre Erinnerung nicht falsch ist) und dass ihre Lieblingscerealien nicht „Fruit Loops“, sondern „Froot Loops“ heißen. Wie kann das alles sein?

I. Wie wir uns erinnern

Eine Illustration, die ein altertümlich gekleidetes Kind zeigt, das durch ein labyrinthisch anmutendes Gebäude geht.
Unsere Erinnerungen spiegeln nicht wider, was passiert ist, sie erzählen vielmehr das Narrativ unseres Lebens. © Lars Henkel

Die meisten Menschen haben eine falsche Vorstellung davon, wie Erinnerungen funktionieren, sagt Hannah Monyer, ärztliche Direktorin an der Universität Heidelberg und Co-Autorin des Buchs „Das geniale Gedächtnis“:

„Unsere Erinnerungen geben nicht das wieder, was sich zugetragen hat, sondern sind eine ‚Konstruktion‘ unseres Gehirns, in der sich Reales mit Hinzugefügtem und Weggelassenem vermischt.“

Aber beginnen wir von vorn: Wenn wir etwas erleben oder etwas lernen wollen – was passiert da im Gehirn, Frau Professor Monyer?

„Wir unterscheiden zwischen unterschiedlichen Formen des Lernens. Wir sprechen von explizitem Lernen, wenn wir uns bestimmte Ereignisse oder Fakten merken, und von implizitem Lernen, wenn wir Abläufe wie zum Beispiel jene beim Fahrradfahren zunehmend besser beherrschen.“


„Unsere Erinnerungen geben nicht das wieder, was sich zugetragen hat, sie sind eine Konstruktion des Gehirns.“

Den Unterschied kennen wir alle: Das Fahrradfahren verlernt man nicht, den Mathestoff aus der Oberstufe haben die meisten von uns schon längst vergessen, und wo das Auto vor zwei Wochen geparkt wurde, sowieso. Eine Unterform des expliziten Gedächtnisses ist das sogenannte episodische Gedächtnis. Dort werden Ereignisse unseres Lebens verarbeitet und gespeichert. Dieses episodische Wissen dient nicht allein dazu, Erinnerungen zu speichern. Es hilft auch, uns in der Welt zu bewegen und zu orientieren, erklärt Monyer.

Ein Wissen von der Welt

„Aus den einzelnen erlebten ‚Episoden‘ extrahieren wir Regeln; das heißt, ein Wissen, das uns hilft, beim erneuten Eintreten eines gleichen oder ähnlichen Ereignisses schnell zu handeln – oder aber auch, bestimmte Situationen zu vermeiden. Einige Erfahrungen, vor allem jene, die mit starken Emotionen einhergehen, bedürfen keiner Wiederholung und werden dennoch für immer gespeichert. So lernen wir zum Beispiel, schädlich von unschädlich zu unterscheiden.“

Wer sich als Kind an der Herdplatte die Finger verbrennt, lernt eine Lektion fürs Leben und muss den Finger nicht noch dreimal auf die heiße Platte legen, um sich zu merken, dass das keine gute Idee ist. Allerdings ist es dabei nicht wichtig, dass das Gehirn jedes Detail des Gelernten speichert. Ein Ereignis wird bereits nach dem Erleben mehrfach verändert, sagt Monyer:

„Bei jedem Lernschritt kommt es zu einer Modifikation dessen, was wir gelernt haben. Bereits bei der Codierung wird das Erlebte nicht so repräsentiert, wie es tatsächlich stattgefunden hat. Unser Vorwissen, aber auch andere Faktoren – zum Beispiel ob wir hellwach oder müde sind – führen dazu, dass wir unsere Umwelt selektiv und nicht vollständig erleben. Einiges wird weggelassen, anderes wird hinzugefügt. Tatsache ist, wir ‚konstruieren‘ unsere Erinnerungen so, dass sie zu unserem bereits vorhandenen Wissen und auch zu unseren Zukunftsplänen passen.“

Sein Leben rechtfertigen

Sind Menschen gemeinsam auf einer Party, wird jeder etwas anderes wahrnehmen und sich an etwas anderes erinnern – weil jeder Mensch unterschiedliche Interessen und eine individuelle Vergangenheit hat. Zehn Jahre später werden sich manche Gäste gar nicht mehr an diese Party erinnern, und die anderen werden sehr unterschiedliche Erinnerungen haben. Manche werden vielleicht etwas dazukonstruieren, das erst drei Jahre später stattgefunden hat.

Unser Gehirn erzeugt ein Narrativ, eine kohärente Erzählung, die unser Leben so rechtfertigt, wie wir es gewählt haben. Das ergibt für unser Dasein Sinn; aber es kann auch problematisch sein, wie leicht unser Gedächtnis beeinflussbar ist und wie wenig wir unseren Erinnerungen trauen können.

II. Falsche Erinnerungen

Eine Kirchenszene, aber der Priester hat den Kopf eines Steinbocks
Während der „satanic panic“ bildeten sich Menschen ein, von einem Teufelskult missbraucht worden zu sein. © Lars Henkel

„Michelle Remembers“ heißt ein 1980 erschienenes Buch, das die Vereinigten Staaten in Aufregung versetzte. Woran sich Michelle nach einer Traumaerinnerungstherapie in dem gemeinsam mit ihrem Therapeuten verfassten Buch erinnerte, war schockierend: Über Jahre wurde sie von der „Church of Satan“ missbraucht und gefoltert. Der Teufelskult zwang sie, an satanistischen Ritualen teilzunehmen, bei denen der Teufel selbst heraufbeschworen und Menschen rituell geopfert wurden.


„Menschen glaubten, dass sie gezwungen wurden, Tiere zu töten, oder dass sie sogar Babys gezeugt und getötet hätten.“

Michelle war nicht allein: Nach Erscheinen des Buchs erinnerten sich plötzlich auch tausende anderer Menschen an solche Rituale und ihre eigene Rolle als Opfer. Über 12.000 Fälle von Missbrauch im Namen des Teufels wurden im ganzen Land gemeldet. Die Psychologin Elizabeth Loftus sprach damals mit einigen der Menschen, die glaubten, dass sie missbraucht worden seien.

„Sie glaubten, dass sie gezwungen wurden, Tiere zu töten, oder dass sie sogar Babys gezeugt und getötet hätten. Für diese Ereignisse gibt es keine Beweise, und einige dieser Erinnerungen sind unplausibel, wenn nicht sogar unmöglich. Dennoch erinnern sich die Menschen mit verblüffenden Details und Emotionen daran.“

Unter den 12.000 Fällen gab es nicht einen einzigen, der von den Ermittlungsbehörden nachgewiesen werden konnte. Die „satanic panic“ war die kollektive Einbildung eines satanischen Kults, heraufbeschworen durch eine Erinnerungstherapie, die nie Erlebtes zutage gebracht hatte. Kann man daraus schließen, dass unterdrückte Erinnerungen grundsätzlich nur Einbildungen sind? Ist die auf Sigmund Freud beruhende Annahme, dass wir alle verdrängte Erinnerungen haben, die mittels Psychotherapie ans Tageslicht geholt werden können, gefährlicher Unsinn? Willkommen in den „memory wars“, die in den 1990er-Jahren zwischen Wissenschaftlern rund um diese Fragen ausgefochten wurden.

Manipulierte Erinnerungen

Elizabeth Loftus, die heute als eine der einflussreichsten Psychologinnen unserer Zeit gilt, hat sich schon seit den 1970ern mit der Frage beschäftigt, wie (un)glaubwürdig unsere Erinnerungen sind:

„In vielen der frühen Experimente, die ich durchführte, zeigten wir den Teilnehmern einen simulierten Unfall oder ein Verbrechen und setzten sie dann Fehlinformationen darüber aus, was sie gesehen hatten. Sie hatten einen Dieb beobachtet, der eine grüne Jacke trug, aber wenn wir ihnen einredeten, dass die Jacke braun war, sagten viele: ,Oh ja, ich erinnere mich, sie war braun.‘“


„Ohne unabhängige Bestätigung können wir nicht sicher sein, ob ein Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat.“

Bei einem anderen Experiment wurde den Teilnehmern ein Autounfall gezeigt und danach eine Frage gestellt: Mit welcher Geschwindigkeit sind die Autos zusammengekracht/kollidiert/ineinandergefahren? Je nach Formulierung der Frage wurde die Geschwindigkeit anders eingeschätzt. In den 1990ern, auch unter dem Einfluss der „satanic panic“, ging Loftus dann noch einen Schritt weiter:

„Könnten wir jemandem eine völlig falsche Erinnerung einpflanzen – etwas, das nie passiert ist? Eine Erinnerung, die so detailreich ist, dass sie sich echt anfühlt? Wir haben mehrere Techniken entwickelt, um genau das zu erreichen. In einer Studie gelang es uns, normale, gesunde Erwachsene dazu zu bringen, sich daran zu erinnern, dass sie sich als Kind in einem Einkaufszentrum verlaufen hatten. Mit den richtigen Suggestionen funktioniert das; Menschen sind dann überzeugt, etwas erlebt zu haben, das nie stattgefunden hat.“

Als „Lost in the mall“-Experiment wurde diese Studie berühmt. Der Subtext dieser Erkenntnisse: Jene vermeintlich unterdrückten Erinnerungen, die Psychotherapeuten – unter anderem im Zuge der „satanic panic“ – wieder ins aktive Gedächtnis zurückholten, waren in Wahrheit falsche Erinnerungen, die den Patienten durch die Therapeuten implantiert wurden. Natürlich gibt es Erlebnisse, die vergessen werden und plötzlich wieder ans Tageslicht kommen, aber das Konzept unterdrückter traumatischer Erinnerungen existiert so nicht.

×

Zahlen & Fakten

Wie funktionierte das „Lost in the mall“-Experiment?

Den Teilnehmern wurde eine Liste von vier Erinnerungen präsentierte. Drei davon waren echte Ereignisse aus ihrer Kindheit, die durch Familienmitglieder verifiziert wurden. Die vierte, erfundene Erinnerung beschrieb, dass sich die Person als Kind in einem Einkaufszentrum verlaufen habe und schließlich von einem freundlichen Erwachsenen zur Familie zurückgebracht wurde. Durch detaillierte Schilderung und Verknüpfung mit realen Elementen wurde die falsche Erinnerung plausibel, und etwa ein Viertel der Teilnehmer akzeptierte diese als real.

Immer auf der Seite der Täter?

Missbraucht wurden die Patienten nicht von Satanisten, sondern von ihren Behandlern. Eine Einschätzung, der auch die Gerichte folgten: 1996 bekam etwa Patricia Burgus 10,6 Millionen Dollar Schmerzensgeld zugesprochen, weil ihr von Therapeuten eingeredet worden war, sie sei mit ihren beiden Kindern von Satanisten missbraucht worden. Das Gehirn ist so manipulierbar, dass sich solche Erinnerungen absolut real anfühlen, erzählt Loftus:

„Die Forschungen, die ich in den letzten Jahrzehnten durchgeführt habe, zeigen, dass niemand wirklich sagen kann, ob eine Erinnerung korrekt ist. Nur weil jemand etwas mit großer Selbstsicherheit, lebendigen Details und emotionaler Intensität erzählt, bedeutet das nicht, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat oder dass es so geschehen ist, wie es beschrieben wird. Wir wissen heute, dass falsche Erinnerungen dieselben Merkmale aufweisen können wie echte. Sie können detailliert und selbstbewusst erzählt und von starken Emotionen begleitet werden, auch wenn das Ereignis nie stattgefunden hat. Während dieser Irrglaube im Alltag vielleicht keine großen Folgen hat, kann er vor Gericht gefährlich werden, wenn die Freiheit einer Person von Zeugenaussagen abhängt.“

Loftus konnte in Experimenten zeigen, dass bei polizeilichen Gegenüberstellungen zu sechzig Prozent ein Unschuldiger als Täter identifiziert wird, wenn der richtige Täter nicht präsent ist. Und dass die Fehlerquote am höchsten ist, wenn der Täter schwarz und der Identifizierende weiß ist.

„Ich glaube, dass die Arbeit, die ich und andere Wissenschaftler geleistet haben, eine Veränderung herbeigeführt hat. Sie hat zum Beispiel die Art und Weise beeinflusst, wie die Polizei Verhöre durchführt, wie Gegenüberstellungen gemacht werden und wie die Strafverfolgungsbehörden Maßnahmen ergreifen, um die Wahrscheinlichkeit von Falschaussagen zu verringern. Das ist sehr erfreulich.“

Trotzdem hat sich Loftus über die Jahrzehnte viele Feinde gemacht. In einem Flugzeug habe einmal eine neben ihr sitzende Frau begonnen, mit einer Zeitung auf sie einzuschlagen, als sie erfahren hat, wer sie ist, erzählt die Psychologin. Elizabeth Loftus war an über 300 Prozessen beteiligt, viele davon verfolgte die ganze Welt – etwa jene gegen Michael Jackson, O. J. Simpson, den Serienmörder Ted Bundy oder Robert Durst (dessen Fall in einer Netflix-Doku erzählt wird). In den vergangenen Jahren arbeitete sie für die Verteidigung von Jeffrey Epstein, Harvey Weinstein und Ghislaine Maxwell, alle wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Loftus wandte sich – grob gesprochen – immer mit demselben Appell an die Geschworenen: Trauen Sie den Erzählungen der Opfer nicht.

„Wenn jemand vor Gericht aussagt, hat er bereits viele Befragungen, viele Gespräche absolviert. Geht diese Person dann in den Zeugenstand, ist ihre Erinnerung oft detailliert und überzeugend, und die Geschworenen neigen dazu, ihr zu glauben. Vor allem, wenn der Zeuge beim Erzählen emotional wird. Aber wir brauchen mehr als nur Zuversicht oder Emotionen, denn falsche Erinnerungen können auch viele Details enthalten. Ohne unabhängige Bestätigung können wir nicht sicher sein, ob ein Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat.“

Loftus sagt: Oft ist eine Erinnerung, die sowieso nie völlig korrekt sein kann, durch die Befragungen vor der Aussage weiter verzerrt worden. Im schlimmsten Fall ist das Ereignis, über das der Zeuge berichtet, nie passiert. Sie besteht in Interviews seit Jahren darauf, dass sie vor Gericht lediglich ihre wissenschaftliche Arbeit präsentiere und sich auf keine Seite schlagen wolle.

Eigene Missbrauchserfahrung

Als ihr – noch in den 1980er-Jahren – ein Staatsanwalt vorwarf, empathielos gegenüber missbrauchten Kindern zu sein, antwortete sie, selbst im Alter von sechs Jahren von ihrem Babysitter missbraucht worden zu sein. Dennoch ist sie überzeugt, dass niemand nur aufgrund der Aussagen von Zeugen und Opfern verurteilt werden dürfe. Loftus hat einen anderen Blickwinkel: Ihre Forschung habe viele Menschen davor bewahrt, unschuldig im Gefängnis zu landen, sagt sie.

„Ein Fall, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, betrifft einen Mann namens Howard Haupt, der beschuldigt wurde, einen kleinen Jungen in der Gegend von Las Vegas ermordet zu haben. Er wurde vor Gericht gestellt, und ich glaube, dass meine Arbeit dazu beigetragen hat, dass dieser Fall zu einem gerechten Freispruch führte.“

Der siebenjährige Alexander Harris war am 27. November 1987 spurlos verschwunden. Am 30. Dezember wurde seine Leiche gefunden. Haupt, der im selben Hotel wie Harris in Las Vegas übernachtet hatte, wurde am 19. Februar 1988 in seiner Heimatstadt San Diego verhaftet. Es gab keine stichhaltigen Beweise gegen ihn, lediglich Zeugen, die einen Mann mit dem Jungen gesehen hatten – der Haupt gewesen sein könnte.

Freigesprochen dank Loftus

Es war Loftus, deren Aussage mehrere Geschworene davon überzeugte, dass die Polizei durch Suggestivfragen die Erinnerungen der Augenzeugen beeinflusst hatte. Der Angeklagte wurde schließlich freigesprochen. Zeugen gaben nach dem Prozess zu Protokoll, dass die von Loftus vorgelegten Beweise eine Schlüsselrolle bei ihrer Entscheidung gespielt hatten, den Mann für unschuldig zu halten.

Howard Haupt klagte die Ermittler und bekam eine Million Dollar zugesprochen. Auch weil eine Mitschrift der Befragung eines Augenzeugen ergab, dass der Beamte die Aufmerksamkeit immer wieder bewusst auf Haupt gelenkt hatte.

„Ich glaube wirklich, dass er unschuldig war. In Fällen wie diesem können Gedächtniswissenschaftler die Geschworenen über die Funktionsweise des Gedächtnisses aufklären und sie dazu ermutigen, Aussagen zu hinterfragen, anstatt eine Geschichte für bare Münze zu nehmen, nur weil sie selbstbewusst und detailliert vorgetragen wird.“

III. Können wir Erinnerungen löschen?

Eine Illustration, die Briefkästen zeigt, aus denen Hände mit Revolvern kommen.
Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung kann eine Erinnerung an einen harmlosen Briefkasten bedrohlich wirken. © Lars Henkel

Gedächtnisforscher wie Samuel Schacher, emeritierter Professor an der Columbia University in New York, fragten sich irgendwann: Wenn es so einfach ist, dem Gedächtnis etwas einzureden und sich an Dinge zu erinnern, die nie passiert sind – wäre dann nicht auch das Gegenteil möglich? Dass also Erinnerungen an Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben, wieder gelöscht werden können? Diese Idee klingt nicht nur wie das Drehbuch eines Films, sie ist eines. Im Film „Vergiss mein nicht!“ (Originaltitel: „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“) aus dem Jahr 2004 durchläuft der von Jim Carrey gespielte Hauptcharakter eine Behandlung zur Entfernung von Erinnerungen an seine Exfreundin.


„Es ist ein häufiges Merkmal von PTBS, dass Reize, die an sich nicht gefährlich sind, mit der traumatischen Erinnerung verbunden werden.“

Schacher und seinen Kollegen geht es aber natürlich nicht darum, das Gehirn von allen Erfahrungen zu befreien, die unangenehm sind, wie er erzählt:

„Eine der faszinierendsten Anwendungen des Erinnerungsverlusts liegt in der Behandlung von PTBS, einer Erkrankung, bei der Betroffene intensive störende Erinnerungen an traumatische Ereignisse erleben. Eine Person, die überfallen wurde, kann beispielsweise nicht nur Angst vor dem Überfall selbst entwickeln, sondern auch vor neutralen Reizen, die mit dem Ereignis verbunden sind – etwa einem nahegelegenen Briefkasten. In diesem Fall generalisiert das Gehirn die Angstreaktion, sodass die Person jedes Mal Angst empfindet, wenn sie an einem Briefkasten vorbeigeht. Es ist ein häufiges Merkmal von PTBS, dass Reize, die an sich nicht gefährlich sind, mit der traumatischen Erinnerung verbunden werden.“

Deshalb würde Schacher gerne den Triggerreiz löschen, ohne dass die gesamte Erinnerung an das Ereignis verschwindet:

„Dies würde es den Betroffenen ermöglichen, wichtige Lektionen aus ihrem Trauma zu behalten – zum Beispiel nachts gefährliche Viertel zu meiden –, ohne durch die ständige Reaktivierung ihrer Angstreaktion durch harmlose Reize belastet zu werden.“

Ein komplexes Problem

Weil Erinnerungen in den Synapsen gespeichert werden, sind diese auch das Ziel von Schachers Forschungen. Auf einer sehr kleinen Ebene ist es ihm bereits gelungen, eine „Erinnerung“ zu löschen:

„Wir arbeiteten mit einem einfachen Modell, bei dem zwei Nervenzellen Synapsen auf einer dritten Zielzelle bildeten. Durch die Manipulation der synaptischen Veränderung in jeder der beiden Nervenzellen konnten wir jene Veränderungen, die mit einer Erfahrung verbunden waren, gezielt löschen – ohne die andere zu beeinflussen. Dies zeigte, dass es zumindest theoretisch möglich ist, Teile einer Erinnerung zu löschen, während der Rest erhalten bleibt.“

Natürlich: Ein menschliches Gehirn ist unvorstellbar komplexer als dieses Modell. Die große Herausforderung besteht darin, eine spezifische Erinnerung im Gehirn zu finden.

„Erinnerungen werden nicht isoliert gespeichert; sie sind Teil eines größeren Netzwerks miteinander verbundener Neuronen, die gemeinsam unsere Erfahrungen codieren. Diese Komplexität erschwert es, spezifische Erinnerungen zu identifizieren und zu löschen, ohne das breitere Netzwerk zu beeinträchtigen.“

Jennifer Aniston, aber nur ohne Brad Pitt

Es gibt aber auch da bereits vielversprechende Ansätze – und sie haben mit Jennifer Aniston zu tun. Nicht weil die Schauspielerin eine Zweitkarriere als Forscherin hätte, sondern weil sie in einem der bekanntesten Experimente der vergangenen Jahre die Hauptrolle spielt, wie Schacher erzählt:

„Als den Patienten ein Bild der Schauspielerin Jennifer Aniston gezeigt wurde, wurde ein kleiner Cluster von Neuronen in einer bestimmten Region des Gehirns sehr aktiv. Derselbe Cluster reagierte auch auf das Wort ,Jennifer Aniston‘, aber nicht auf ein Bild von ihr zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Brad Pitt. Als die Forscher jedoch Brad Pitt auf dem Foto abdeckten, reagierte der Cluster erneut. Diese Entdeckung legt nahe, dass bestimmte Neuronen für die Codierung spezifischer Erinnerungen oder Konzepte verantwortlich sind, wie zum Beispiel der Vorstellung von Jennifer Aniston.“

Wenn es also gelungen ist, die Neuronen zu identifizieren, die für Jennifer Aniston verantwortlich sind, müsste es doch auch möglich sein, jene Neuronen zu finden, die den triggernden Briefkasten gespeichert haben, erklärt Schacher:

„Die Studie über das ,Jennifer-Aniston-Neuron‘ hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Gedächtnisforschung. Sie deutet darauf hin, dass Erinnerungen nicht als diffuse Netzwerke gespeichert, sondern von spezifischen Neuronenclustern codiert werden. Wenn wir die Neuronen identifizieren können, die für eine bestimmte Erinnerung verantwortlich sind, könnten wir die Erinnerung an Jennifer Aniston löschen, indem wir die Aktivität dieser Neuronen stören. Oder, vielleicht sinnvoller, jene Erinnerungen löschen, die Angstzustände auslösen können.“

×

Conclusio

Erinnern. Das Gedächtnis funktioniert anders, als viele sich das vorstellen. Erinnerungen werden nicht irgendwo abgespeichert, sie werden vom ersten Moment an verändert und verändern sich bei jedem Erinnern weiter.
Manipulieren. Psychologen haben herausgefunden, dass sich das Gedächtnis sehr leicht manipulieren lässt. Erinnerungen können nicht nur verändert werden, es ist auch möglich, komplett erfundene Er-innerungen einzupflanzen.
Löschen. Derzeit arbeiten Neurowissenschaftler daran, auch das komplette Gegenteil zu erreichen – nämlich bestimmte Erinnerungen zu löschen. Das soll vor allem dazu dienen, traumatische Ereignisse besser zu verarbeiten.

Mehr zu Gehirn

Unser Newsletter