Warum unsere Erinnerungen so unglaubwürdig sind

Erinnerungen können auch ganz einfach manipuliert werden. Forschern ist es sogar gelungen, Erinnerungen an frei erfundene Ereignisse zu implantieren. Das hat auch weit reichende Auswirkungen auf das Justizsystem.

Eine Kirchenszene, aber der Priester hat den Kopf eines Steinbocks
Während der „satanic panic“ bildeten sich Menschen ein, von einem Teufelskult missbraucht worden zu sein. © Lars Henkel
×

Auf den Punkt gebracht

  • Selbstsicherheit. Menschen sind meist davon überzeugt, sich korrekt an Ereignisse zu erinnern – und liegen damit falsch.
  • Selbstüberzeugung. Schon alleine deshalb, weil Menschen die Tendenz haben, Erinnerungen unbewusst zu ihrem Vorteil zu verändern.
  • Manipulation. Schwerer wiegt noch, dass es erstaunlich einfach ist, Erinnerungen von Menschen bewusst zu manipulieren.
  • Detailfülle. Trotzdem sind Menschen überzeugt davon, dass ihre Erinnerungen korrekt sind – auch weil sie detailreich und emotional sind.

Viele Menschen haben ein falsches Verständnis davon, wie das menschliche Gedächtnis funktioniert. Sie vergleichen das Gedächtnis oft mit einem Aufnahmegerät - etwas, das Ereignisse aufzeichnet, die dann später bei Bedarf wieder abgespielt werden können. Tatsächlich ist das Gedächtnis aber ein konstruktiver Prozess. Wenn Sie versuchen, sich an etwas zu erinnern, setzen Sie Teile von Erfahrungen zusammen, um das zu rekonstruieren, was sich wie eine Erinnerung anfühlt. Aus diesem Grund sprechen Experten von der konstruktiven Natur des Gedächtnisses.

Trotzdem haben Menschen oft das subjektive Gefühl, dass sie sich an etwas genau so erinnern, wie es geschehen ist. Davon sind sie auch überzeugt, wenn sie Freunden Geschichten erzählen oder vor Gericht über ihre Erlebnisse aussagen. Während dieser Irrglaube im Alltag vielleicht keine großen Folgen hat, kann er bei Prozessen, bei denen die Freiheit einer Person auf dem Spiel steht, gefährlich werden.

Niemand weiß, ob eine Erinnerung stimmt

Die Forschungen, die ich in den letzten Jahrzehnten durchgeführt habe, zeigen, dass niemand wirklich sagen kann, ob eine Erinnerung korrekt ist. Nur weil jemand etwas mit großer Selbstsicherheit, lebendigen Details und emotionaler Intensität erzählt, bedeutet das nicht, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat oder dass es so geschehen ist, wie es beschrieben wurde. Wir wissen heute, dass falsche Erinnerungen dieselben Merkmale aufweisen können wie echte – sie können detailliert und selbstbewusst erzählt werden und von starken Emotionen begleitet sein, auch wenn das Ereignis nie stattgefunden hat.

Sie sahen, wie ein Auto einem Unfall ein Stoppschild übersah, aber wir suggerierten ihnen, dass es sich um ein Vorfahrtsschild handelte.

In vielen der frühen Experimente, die ich durchführte, zeigten wir den Teilnehmern einen simulierten Unfall oder ein Verbrechen und setzten sie dann Fehlinformationen darüber aus, was sie gesehen hatten. So sahen sie zum Beispiel, wie ein Auto einem Unfall ein Stoppschild übersah, aber wir suggerierten ihnen, dass es sich um ein Vorfahrtsschild handelte. Viele Teilnehmer erinnerten sich dann daran, ein Vorfahrtsschild an der Kreuzung gesehen zu haben, und nicht das Stoppschild, das sie tatsächlich gesehen hatten. In ähnlicher Weise beobachteten sie einen Dieb, der eine grüne Jacke trägt, aber wenn wir ihnen einredeten, dass die Jacke braun war, sagten viele: „Oh ja, ich erinnere mich, sie war braun.“

Dieses Phänomen ist als Fehlinformationseffekt bekannt. Wenn Menschen falsche Informationen über ein Ereignis erhalten, das sie selbst erlebt haben, kann sich diese Fehlinformation in ihr Gedächtnis einprägen und es verändern oder verzerren.

Wie weit können wir gehen?

Nachdem wir viele Experimente zum Fehlinformationseffekt durchgeführt hatten, begannen wir uns zu fragen: Wie weit können wir gehen? Könnten wir jemandem eine völlig falsche Erinnerung einpflanzen – etwas, das nie passiert ist? Eine Erinnerung, die so detailreich ist, dass sie sich echt anfühlt? Wir haben mehrere Techniken entwickelt, um genau das zu erreichen. In einer Studie gelang es uns, normale, gesunde Erwachsene dazu zu bringen, sich daran zu erinnern, dass sie sich als Kind in einem Einkaufszentrum verlaufen hatten.

Andere Forscher implantierten falsche Erinnerungen daran, von einem Tier angegriffen worden zu sein, schwere Unfälle im Haus oder im Freien erlitten zu haben oder beinahe ertrunken zu sein und von einem Rettungsschwimmer gerettet worden zu sein. Mit den richtigen Suggestionen können Menschen dazu gebracht werden, überzeugt zu sein, dass sie Ereignisse erlebt haben, die in Wirklichkeit nie stattgefunden haben.

Bizarre Erinnerungen – die nie passiert sind

Sicherlich wären einige der Ereignisse, die Forscher ihren Versuchspersonen einprägen, traumatisch gewesen, wenn sie tatsächlich stattgefunden hätten. Von einem Tier angegriffen zu werden, einen schweren Unfall in einem Haus zu haben oder beinahe zu ertrinken und von einem Rettungsschwimmer gerettet zu werden – diese Szenarien wurden gerade deshalb ausgewählt, weil sie ziemlich traumatisch wären, wenn sie wirklich passiert wären. Diese Forschung zeigt, dass es möglich ist, sehr unangenehme, erschütternde und sogar bizarre Erinnerungen in das Gedächtnis von Menschen einzupflanzen.

Falsche Erinnerungen haben reale Folgen – Menschen können Familienmitglieder beschuldigen, Familien auseinanderreißen und sogar Klagen anstrengen.

Können diese implantierten Erinnerungen tatsächlich traumatisch sein? In den Experimenten werden die Versuchspersonen natürlich vor dem Verlassen des Experiments darüber informiert, dass die Erinnerungen falsch waren und implantiert wurden. In der realen Welt jedoch können falsche Erinnerungen, die durch suggestive Psychotherapie implantiert werden, sehr schädlich sein. Diese falschen Erinnerungen haben reale Folgen – Menschen können Familienmitglieder beschuldigen, Familien auseinanderreißen und sogar Klagen gegen Verwandte oder ehemalige Nachbarn anstrengen. Dies kann für viele Menschen, auch für die Person, die die falsche Erinnerung entwickelt hat, verheerende Folgen und Probleme mit sich bringen.

Wir überzeugen uns selbst von falsche Erinnerungen

Während ich mich in meiner Arbeit hauptsächlich mit externen Suggestionsquellen beschäftigt habe – bei denen wir den Teilnehmern absichtlich suggestive Informationen geben, um zu sehen, ob sie diese als Erinnerung aufnehmen –, können Menschen auch selbst falsche Erinnerungen erzeugen. Sie ziehen Schlüsse darüber, was passiert sein könnte oder was möglicherweise passiert ist, und manchmal verfestigen sich diese Schlüsse und beginnen, sich wie echte Erinnerungen anzufühlen. Wir nennen dieses Phänomen Autosuggestion, bei dem sich die Menschen im Wesentlichen selbst Dinge suggerieren.

Auch ohne externe Suggestion erinnern sich Menschen daran, dass sie bessere Noten bekommen haben als tatsächlich, dass sie mehr für wohltätige Zwecke gespendet haben als tatsächlich, dass sie bei Wahlen zur Urne gegangen sind, an denen sie nicht teilgenommen haben, oder dass ihre Kinder früher laufen und sprechen konnten, als es tatsächlich der Fall war. Dies sind prestigefördernde Erinnerungsverzerrungen – Menschen verzerren ihre Erinnerungen, um sich selbst besser darzustellen oder zu fühlen. Wenn Menschen Ihnen solche Dinge erzählen, lügen sie nicht unbedingt, sondern sie haben sich selbst davon überzeugt, dass diese Dinge wahr sind.

Auch falsche Erinnerungen sind detailliert

Und genau das ist der kritische Punkt. Ob es sich um eine prestigefördernde oder eine traumatische Erinnerung handelt; ohne unabhängige Bestätigung können wir nicht sicher sein, ob ein Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat. Dies ist besonders in Rechtsfällen problematisch. Wenn jemand vor Gericht aussagt, hat er einen Prozess durchlaufen – viele Befragungen, viele Gespräche – und wenn diese Person in den Zeugenstand geht, ist seine Erinnerung oft detailliert und überzeugend, und die Geschworenen neigen dazu, zu glauben, dass sie wahr sein muss. Vor allem, wenn der Zeuge beim Erzählen emotional wird. Aber wir brauchen mehr als nur Zuversicht oder Emotionen, denn falsche Erinnerungen können auch viele Details enthalten.

Sie glaubten, dass sie gezwungen wurden, Tiere zu töten, oder dass sie sogar Babys gezeugt und getötet haben.

Ich habe erlebt, dass Menschen Erinnerungen an die Teilnahme an satanischen Ritualen entwickelt haben. Sie glaubten, dass sie gezwungen wurden, Tiere zu töten, oder dass sie sogar Babys gezeugt und getötet haben. Für diese Ereignisse gibt es keine Beweise, und einige dieser Erinnerungen sind unplausibel, wenn nicht sogar unmöglich. Dennoch erinnern sich die Menschen mit verblüffenden Details und Emotionen daran.

×

Zahlen & Fakten

Was war die Satanic Panic?

Die Satanic Panic wurde durch das 1980 erschienene Buch „Michelle remembers“ ausgelöst und erreichte in den 1980er und frühen 1990er Jahren vor allem in den USA ihren Höhepunkt. Die – falschen – Erinnerungen von Michelle Smith an Missbrauch durch einen Satanskult führten zu zahllosen unbegründeten Anschuldigungen, zu Gerichtsverfahren und Massenhysterie. Besonders betroffen waren Kinderbetreuungseinrichtungen, in denen Erzieher beschuldigt wurden, Teil geheimer satanistischer Netzwerke zu sein. Diese Anschuldigungen basierten oft auf vermeintlich wiedergewonnenen Erinnerungen von Kindern oder Erwachsenen, die unter fragwürdigen therapeutischen Methoden hervorgebracht wurden. 

Die Psychologin Elizabeth Loftus spielte eine wichtige Rolle bei der Entlarvung der pseudowissenschaftlichen Basis dieser Fälle. Ihre Forschung zur Gedächtnisverfälschung zeigte, wie leicht Erinnerungen durch Suggestion verändert oder vollständig erfunden werden können. Sie argumentierte, dass viele der sogenannten wiedergewonnenen Erinnerungen an rituellen Missbrauch auf falschen Erinnerungen basierten, die durch manipulative Befragungstechniken entstanden. Loftus‘ Arbeit trug wesentlich dazu bei, die wissenschaftliche Kritik an der Satanic Panic zu stärken und den Missbrauch von „Erinnerungen“ in Gerichtsverfahren zu beleuchten.

Wenn ich mich mit einem Gerichtsverfahren befasse, weiß ich nie, was ich vorfinden werde. Oft gibt es eine Person, die eine Anschuldigung erhebt, und eine andere, die sie abstreitet. Wenn man sich mit den Polizeiberichten, Zeugenbefragungen und anderen Beweisen beschäftigt, stellt man oft fest, dass sich die Geschichte im Laufe der Zeit geändert hat. Wenn sie letzten Endes vor Gericht erzählt wird, ist sie selbstbewusster, detaillierter und vielleicht verändert. Es ist ganz natürlich, dass man sich fragt, was wirklich passiert ist.

Unschuldige frei bekommen

Ich glaube, dass die Arbeit, die ich und andere Wissenschaftler geleistet haben, eine Veränderung herbeigeführt hat. Sie hat zum Beispiel die Art und Weise beeinflusst, wie die Polizei Verhöre durchführt, wie Gegenüberstellungen gemacht werden und wie die Strafverfolgungsbehörden Maßnahmen ergreifen, um die Wahrscheinlichkeit von Falschaussagen zu verringern. Das ist sehr erfreulich.

Ein Fall, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, betrifft einen Mann namens Howard Haupt, der beschuldigt wurde, einen kleinen Jungen in der Gegend von Las Vegas ermordet zu haben. Er wurde vor Gericht gestellt, und ich glaube, dass meine Gedächtnisprotokolle dazu beigetragen haben, dass dieser Fall zu einem gerechten Freispruch führte. Ich glaube wirklich, dass er unschuldig war. In Fällen wie diesem können Gedächtniswissenschaftler die Geschworenen über die Funktionsweise des Gedächtnisses aufklären und sie dazu ermutigen, Aussagen zu hinterfragen, anstatt eine Geschichte für bare Münze zu nehmen, nur weil sie mit Zuversicht und Detailtreue vorgetragen wird.

×

Conclusio

Fehlinformationseffekt. Wenn Menschen falsche Informationen zu einem Ereignis bekommen, können sich diese im Gehirn festsetzen.
Folgenreich. Das bedeutet, dass auch Aussagen von Zeugen – und sogar Opfern – vor Gericht höchst unglaubwürdig sein können.
Falschaussagen. Diese Menschen sind von ihren Erinnerungen überzeugt, sie sagen nicht bewusst falsch aus.

Mehr zu Justiz

Unser Newsletter