Mama, ich will Influencer werden
Jede banale Situation wird bildfähig: Influencer sind das spannendste Phänomen des Internets. Aber gleichzeitig auch ein Verrat am Internet. Eine kleine Medien- und Religionsphilosophie der Influencer.

Auf den Punkt gebracht
- Traumberuf Influencer? Reisen, shoppen und zocken – oder eher Stress und stilles Scheitern?
- Verrat am Internet. Influencer re-etablieren die Kommunikation der Massenmedien: Ein Sender, viele Empfänger.
- Propheten der Konsum-Kultur. Influencer predigen etwas, von dem sie nicht wünschen, dass es eintritt.
- Traumberuf Content-Manager? Influencer werden immer virtueller, aber irgendwer muss die Inhalte erstellen.
Was man vom Leben will, ändert sich mit der Zeit. Vor hundert Jahren wollte kein Kind Astronaut werden. Fragt man heute eine Gruppe Zehnjähriger, sagt die Hälfte: Influencer. Man macht, was man will, und berichtet davon im Internet, so begründen sie ihre Wahl, man kocht, reist, geht einkaufen, man treibt Sport, zockt am Computer oder redet über Liebe und Leben – klar, viele reden auch über Politik, aber die sind wesentlich älter und interessieren hier nicht weiter.
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Das kann auch sehr anstrengend sein, mögen besorgte Eltern einwerfen, die aus dem Fernsehen wissen, dass 18-jährige Influencer unter dem Druck der ständigen Selbstdarstellung Burnouts erleben. Anton Rinas zum Beispiel, der nette Junge aus Bayreuth, auf YouTube bekannt als „ViscaBarca“; über eine Millionen Follower, fünfstelliges Monatseinkommen. Sein berühmtestes Video trägt den Titel Wieso mein Leben die Hölle ist, sein Buch aus dem gleichen Jahr heißt RealTalk. Trug, Schein und Schulden. Mein Leben als Influencer: Bekenntnisse über Ruhm, Neid und falsche Freunde, über die Fassade, die der Influencer für seinen Erfolg aufbaute, über den Stress, pünktlich ein neues Video posten zu müssen.
Damit hat also schon jemand Geld gemacht, mag die Mutter dem Sohn ins Gewissen reden, der hartnäckig von einem Leben als Influencer träumt: Dir bleibt nur noch der Stress und das stille Scheitern, berühmt wirst du damit nicht mehr. Und der Sohn wird denken: Mama!
Die Sakralisierung des Alltags
Influencerinnen sind das vielleicht spannendste Phänomen des Internetzeitalters. Sie führen einen Job zu Ende, den die Medienentwicklung davor unfertig liegen ließ. Denn schon das Foto und später die Super 8-Kamera machten jeden noch so unbekannten Menschen und jede noch so banale Situation bildfähig. Aber diese Demokratisierung des Bildes blieb noch begrenzt aufs heimische Publikum: Das Bild von einem selbst beim Sonntagsausflug – damals noch von einem anderen gemacht – oder das Video von der Familienfeier verließ selten den überschaubaren Zirkel der Freunde und Verwandten.
Nun gehen alle Likes in einer Richtung, so wie beim Star-System von Film und Fernsehen.
Das änderte sich erst mit den sozialen Netzwerken, die jedem Bild und Video seine Chance auf eine breite Öffentlichkeit gaben, ohne jegliche Qualitäts- und Relevanzprüfung. Alle konnten nun zur Senderin an alle werden. Erst so kamen wir an den Punkt, da es nicht mehr als hässlich gilt anzugeben oder als geschmacklos, alberne und aufreizende Posen vor der Kamera einzunehmen.
Die Influencer entkoppeln diese Sakralisierung des Alltags nun allerdings vom Gefälligkeitshandel der gegenseitigen Gefolgschaft, der für die sozialen Medien so typisch ist. Die Interaktion, die sie mit ihrer Gefolgschaft eingehen, lebt nicht mehr davon, ein Like mit einem Like zu quittieren. Nun gehen alle Likes in eine Richtung, so wie beim Star-System von Film und Fernsehen. Damit re-etablieren die Influencerinnen die asymmetrische Kommunikationsform der alten Massenmedien, wo ein Sender sich an viele Empfänger wendet – und sind so auch ein Verrat am Internet.
Der Influencer ist nicht frei
Nicht ganz. Immerhin haben auch die Fans der Influencer was zu sagen, und zwar mehr als im alten Star-System. Sie können sich öffentlich äußern und sogar öffentlich aufeinander Bezug nehmen. Das setzt die Influencerin zusätzlich unter Druck; sie muss vermeiden, dass ihre Fans sich gegen sie verbünden. Besser, sie tut nichts, was ihrem Publikum missfallen könnte. Sonst geht es ihr wie Boris Reitschuster, dem prominenten Corona-Kritiker mit mehr als 300.000 Abonnenten auf Telegramm, von denen er einen Großteil verlor, als er sich nach dem 24. Februar kritisch zu Putin äußerte.
Influencer sind nicht nur Priester, sie sind auch Zauberer und Propheten.
Auch ein Influencer ist nicht wirklich frei. Da kann er noch so tun, als sei alles absolut authentisch. Er muss die Rolle spielen, mit der er sein Publikum generiert hat. Das gilt um so mehr, je mehr dieses Publikum zu seiner Einkommensquelle geworden ist und er sich an den Lebensstil gewöhnt hat, den er sich dadurch leisten kann.
Zahlen & Fakten
Was den Lebensstil der Influencerin betrifft, so wird sie oft als Priester der Konsum-Kultur beschrieben. Ein Buch aus dem Jahr 2021 trug den Vorwurf schon im Titel: Influencer - Die Ideologie der Werbekörper. Die Kritik – sofern Konsumismus heute noch Kritik ist – trifft durchaus zu, greift aber zu kurz. Influencer sind nicht nur Priester, sie sind auch Zauberer und Propheten. So jedenfalls lässt sich die Sozialfigur Influencerin in Anlehnung an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu auffächern.
Der Prophet ist ein Priester (im Punkdress)
Der Zauberer oder Schamane ist demnach ein unabhängiger Kleinunternehmer, der bei Gelegenheit von Privatleuten angemietet wird, um Krankheiten zu heilen oder die Verbindung mit den Ahnen herzustellen. Auch die Influencerin bietet ihrem Publikum bestimmte Dienste an: Von Makeup-Tipps und Sportübungen bis hin zu Ratschlägen in Ernährungsfragen und Beziehungsproblemen. Das Publikum bezahlt diese Dienstleistung zwar nicht mit Geld, aber mit Aufmerksamkeit, die der Influencer zu Geld macht, indem er sie an Werbeagenturen verkauft.
Würden alle Menschen Influencer werden, hätte niemand mehr ein Publikum.
Der Prophet verkündet in Bourdieus Religionssoziologie ein alternatives Leben jenseits des herrschenden Systems, ist also ein Gegenspieler zum Priester, der wiederum das System repräsentiert. Die Influencerinnen sind Propheten insofern, als sie mit dem für Propheten unabdingbaren Charisma einen unabhängigen Lifestyle jenseits des Systems und seiner Gatekeeper predigen und auch gleich selbst repräsentieren. Diese Botschaft beruht freilich auf einem Betrug, wenn dieses alternative Dasein durch Werbung finanziert wird, also tief im etablierten kapitalistischen System verwurzelt ist. Der Prophet ist dann eigentlich ein Priester im Punkdress.
Die Verkündigung des alternativen Daseins ist allerdings auch deswegen Betrug, weil sie nicht skalierbar ist: Würden alle Menschen Influencer werden, hätte niemand mehr ein Publikum. Insofern predigen die Influencer-Propheten etwas, von dem sie selbst gar nicht wünschen können, dass es wirklich eintritt.
Und sie singen auch besser
Warum nicht Content-Managerin statt Influencerin? fragt der umsichtige Vater die minderjährige Tochter und denkt: Dann muss das Kind nicht halbnackt vor die Kamera und lernt auch gleich was Ordentliches. Content-Management vertut sich nicht mit der albern-eifrigen – der Vater denkt natürlich: peinlichen – Selbstdarstellung 24/7. Content-Manager lernen Konzepterstellung, Networking, Design und Programmierung. Allesamt krisensichere Skills in ungewissen Zeiten. Denn es gilt längst: Ohne Content-Manager keine Influencer. Und das wird auch noch gelten, wenn es gar keine Influencer mehr gibt; keine menschlichen.
Sie sind unkomplizierter und billiger, perfekter und cooler als ihre Vorfahren aus Fleisch und Blut.
Denn die Zukunft der Influencerin ist ihr künstliches Spiegelbild. Virtuelle Influencerinnen wie „Lu do Magalu“ aus Brasilien, die allein auf Facebook 15 Millionen Follower hat. Oder „Lil Miquela“ vom Startup Brud aus Los Angeles, die seit 2016 über drei Millionen Fans hinter sich versammelt hat. Oder „Aitana“ vom Startup The Clueless aus Barcelona, die jeden Monat 10 000 Dollar als Modell verdient.
Dass die Werbeindustrie virtuelle Influencerinnen liebt, sollte nicht überraschen: Sie sind unkomplizierter und billiger, perfekter und cooler als ihre Vorfahren aus Fleisch und Blut. Und sie singen auch besser. Kein Wunder also, dass virtuelle Influencer den menschlichen den Job streitig machen. Und der Fakt, dass es mit künstlicher Intelligenz jetzt noch einfacher geworden ist, solche Avatare zu generieren, lässt die Zukunft der menschlichen Influencer nicht rosiger erscheinen.
Die Rache der Nerds
Und deswegen ist Content-Management ein besserer Berufswunsch, sagt also der Vater, worauf die Tochter entgegnet, dass Menschen immer den Menschen der Maschine vorziehen werden: Oder spielt es für dich etwa keine Rolle, ob ein Text von einer KI geschrieben ist oder von jemandem, der wirklich Gefühle hat?
Wir wissen, wie der Vater antwortet, und wir wissen, er hat Recht. Und wir ahnen: Es ist die Rache der Nerds. Die haben erst die Gesellschaft digitalisiert, so dass alles ihrer Wenn-Dann-Logik gehorcht und diejenigen das Sagen haben, die programmieren können, also sie. Und nun besetzen sie auch noch den Bereich des Lebens, der ihnen trotzdem bisher verwehrt blieb, weil er ganz von Charme und Charisma lebt. Besetzen ihn mit ihren mathematischen Skills, mit dem Knowhow, einen Avatar-Influencer so zu programmieren, dass er völlig echt wirkt, so, dass ihm kein Mensch widerstehen kann.
Conclusio
Influencer sind das spannendste Phänomen des Internets: Unbekannte Menschen werden berühmt und banalste Situationen bildfähig. Gleichzeitig sind sie aber auch ein Verrat am Internet: Die Demokratisierung ist abgeschafft, ein Influencer sagt Millionen von Followern, was sie liken und kaufen sollen.