Frieden, der zu Krieg führt

Europa ist eine postheroische Gesellschaft geworden. Das ist nett, aber auch eine Gefahr, die unsere Komfortzone existenziell bedroht.

EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt Andrius Kubilius nimmt an einer Anhörung im Europäischen Parlament am 6. November 2024 in Brüssel, Belgien, teil. Das Bild illustriert einen Artikel darüber, dass Europa eine postheroische Gesellschaft geworden ist.
Der EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt, Andrius Kubilius. Ihm zufolge ist Europa „nicht ausreichend“ für mögliche Angriffe gerüstet. © Getty Images

Dass wir Europäer uns in den vergangenen Jahrzehnten zur friedliebendsten Gesellschaft weiterentwickelt haben, die je diesen Teil der Welt bewohnt hat, ist ja an sich ein ganz und gar unglaublicher zivilisatorischer Fortschritt. Während etwa Deutsche und Franzosen einander noch im letzten Jahrhundert regelmäßig en masse umzubringen versuchten, schrecken die Deutschen heute sogar davor zurück, irgendeine gefährdete Spezies von Lurchen niederzuwalzen, wenn der Bau einer neuen Bahntrasse es erforderlich machte. Wenn das kein Fortschritt ist.

Wir sind dermaßen pazifistisch geworden, dass wir es für eine unsittliche Zumutung halten, im Notfall unser Land mit der Waffe zu verteidigen. Nur 13 Prozent der Österreicher erklärten sich heuer in einer Umfrage dazu bereit, die Mehrheit lehnt das ab. In den meisten anderen EU-Staaten ist das ganz ähnlich – Europa ist ein durch und durch postheroischer Kontinent geworden. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der 68er-Bewegung hat sich deren diesbezügliches, im Kalten Krieg noch auf die Sowjetunion gemünztes Motto „Lieber rot als tot“ endgültig durchgesetzt.

Good News für die Fürsten der Finsternis

Für all jene Fürsten der Finsternis, die in Moskau, Teheran, Peking oder Pjöngjang danach trachten, den Westen und seine verhassten Werte zu zerstören, sind das erfreuliche Nachrichten. Eine Gesellschaft, die bereits kapituliert, noch bevor ihr jemand den Krieg erklärt hat, wird früher oder später Gefahr laufen, einem weniger postheroisch gestimmten Gegner zum Opfer zu fallen, wie das in der Ukraine gerade zu beobachten ist und in der Geschichte unzählige Male geschah. Macht kennt kein Vakuum; jedes Land hat nun einmal eine Armee – entweder die eigene oder eine fremde.

Westeuropa hat sich eine Friedensdividende genehmigt und sich militärisch kastriert.

Es ist paradox, aber logisch: Mit seinem übermäßigen Pazifismus, der nicht zuletzt als Degenerationserscheinung des Wohlfahrtsstaates verstanden werden kann, stellt Europa eine Gefährdung des Friedens dar, weil es seine Gegner geradezu zur Aggression einlädt, indem seine Bevölkerung präventiv kapituliert.

Wehrfähigkeit wurde kollektiv verdrängt

Einer kollektiven Verdrängung zum Opfer gefallen ist die jahrtausendealte Erkenntnis, dass sich auf den Krieg vorbereiten muss, wer den Frieden bewahren will. Stattdessen hat der westliche Teil Europas sich eine „Friedensdividende“ genehmigt, sich militärisch kastriert – und gefährdet damit letztlich ausgerechnet jenen Frieden, den der postheroische Mensch braucht wie der Junkie den nächsten Schuss Heroin.

Gewiss, seit Putin den Krieg nach Europa zurückgebracht hat, dämmert es den Schlaueren unter den politischen Eliten, in welche Gefahr wir uns ohne Not, aber aus infantiler Vergnügungssucht manövriert haben. Und weil im Jänner 2025 der isolationistische Donald Trump wieder US-Präsident wird, wird diese Gefahr nun noch realer. Jetzt gilt es, die friedliebende Gesellschaft wieder ein Stück in eine wehrhafte zurückzubauen, und dabei geht es nicht nur um enorm viel Geld, sondern vor allem um einen Wechsel der Mentalität.

Das wird schwer werden, unglaublich schwer, denn es geht ja um eine Art von kollektivem Entzug. Aber die Alternative ist, vor all jenen zu kapitulieren, die unsere Art zu leben hassen, und das ist letztlich keine Alternative.

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