Neuseeland: Töten für das Überleben
Von Menschen eingeschleppte Jäger wie Opossums und Ratten haben Vögel und Insekten in Neuseeland schwer dezimiert. Deshalb verfolgt das Land einen kühnen Plan: Es will bis 2050 frei von Raubtieren sein.

Auf den Punkt gebracht
- Vogelgesang. In Wellington kehrt die einheimische Tierwelt dank gezielter Raubtierbekämpfung zurück.
- Radikales Ziel. „Raubtierfrei 2050“ will ein ganzes Land von eingeschleppten Arten befreien.
- Innovation. KI-Fallen, neues Gift und Freiwilligenarbeit treiben den Erfolg voran.
- Herausforderung. Hohe Kosten, ethische Fragen und gesellschaftliche Akzeptanz bleiben entscheidend.
In den meisten Städten weltweit hört man in der Morgendämmerung den Verkehr, Sirenen und Baustellengeräusche. In Wellington, der Hauptstadt Neuseelands, erwachen wir zum Klang der einheimischen Vögel. Eine Stadt, die einst durch eingeschleppte Raubtiere zum Schweigen gebracht wurde, ist jetzt von Vogelgesang erfüllt: vom melodischen Gurgeln und Husten des tūī (Tuihonigfresser), vom prähistorisch anmutenden Kreischen des kākā (Waldpapagei) und vom freundlichen Geschnatter des pīwakawaka (Fächerschwanz).
Mehr zu Artensterben
In weiten Teilen Neuseelands, auch in den Nationalparks, gibt es keinen solchen Soundtrack. Stattdessen ist es trostlos still. Die Tierwelt erwacht nur in den Teilen des Landes wieder zum Leben, in denen invasive Raubtiere wie Hermeline, Ratten und Opossums beseitigt wurden.
Als die Säugetiere die Macht übernahmen
Wellington ist eine dieser glücklichen Gegenden. Es begann mit Zealandia, dem weltweit ersten eingezäunten städtischen Ökosanatorium. Innerhalb des raubtiersicheren Zauns wurden seltene einheimische Arten wieder angesiedelt und gediehen prächtig. Die Vögel fingen an, über den Zaun hinauszuwachsen. Jetzt ist ein stadtweiter Versuch im Gange.

Im Rahmen eines groß angelegten Projekts wird in einem Vorort nach dem anderen daran gearbeitet, Ratten, Hermeline, Wiesel und Opossums auszurotten. Es wurde bereits eine ganze Vorstadthalbinsel gesäubert. Im Rahmen eines anderen Projekts mussten Tausende von Hermelinen auf den umliegenden Hügeln ihr Leben lassen, sodass der flugunfähige Kiwi zum ersten Mal seit einem Jahrhundert wieder in Sicherheit ist. Mit der Hilfe von Hunderten Einwohnern und Freiwilligen beweist Wellington, was möglich ist, wenn sich ein Ort wirklich für die Koexistenz mit einheimischen Wildtieren einsetzt.
In dieser Stadt bekommt man einen Eindruck davon, wie Neuseeland geklungen haben muss, bevor die Klauen und Zähne der räuberischen Säugetiere die Macht übernahmen.
Neuseeland: Einst ein Land ohne Jäger
Bevor der Mensch kam, waren die einzigen Landsäugetiere in Neuseeland Fledermäuse, die nicht größer als ein Daumen waren. Vögel, Käfer und Eidechsen gediehen. Viele von ihnen waren riesig, flugunfähig und langlebig, wie der kākāpō (ein nachtaktiver Papagei) oder der wētāpunga (ein grillenähnliches Insekt von der Größe einer menschlichen Hand). Da es keine Räuber gab, waren ihre besten Verteidigungsmaßnahmen Tarnung und Stille. Das funktionierte Millionen von Jahren lang.
Zahlen & Fakten
Ausgerottet: Der Stephenschlüpfer

Der Stephenschlüpfer war ein kleiner, flugunfähiger Singvogel, der ausschließlich auf der – abseits eines Leuchtturms – unbewohnten neuseeländischen Stephens-Insel vorkam. Er galt als einer der wenigen flugunfähigen Singvögel der Welt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde er innerhalb weniger Jahre ausgerottet, der Legende nach im Alleingang von Tibbles, der Katze des damaligen Leuchtturmwärters (in Wahrheit aber von mehreren ausgewilderten Katzen).
Erst die Ankunft des Menschen im 12. Jahrhundert änderte alles. Die Zweibeiner brachten eine ganze Reihe von Raubtieren mit sich, sowohl zufällig als auch absichtlich. Die aus Polynesien eingewanderten Māori hatten kiore (Pazifische Ratten) und Hunde im Schlepptau. Später huschten Schiffs- und Wanderratten von europäischen Schiffen an Land. Die Siedler nahmen Katzen als Gefährten mit, australische Opossums, um den Pelzhandel zu etablieren, und Kaninchen – und später Hermeline, Frettchen und Wiesel, um die explodierende Kaninchenpopulation zu kontrollieren. Es war eine katastrophale Zuwanderung ins Ökosystem.

Die Säugetiere vermehrten sich schnell, jagten nach ihrem Geruchssinn und entdeckten ein riesiges Angebot an leichter Beute. Innerhalb von 750 Jahren starben 51 Vogelarten, Fledermäuse, Frösche, Eidechsen und zahllose Insekten aus – allesamt endemische Arten.
Mittlerweile hat sich das Tempo des Aussterbens noch beschleunigt. Mehr als 75 Prozent der einheimischen Reptilien-, Vogel-, Fledermaus- und Süßwasserfischarten stehen vor der Ausrottung oder gelten als massiv bedroht. Die eingeschleppten Schädlinge übertragen zudem Krankheiten, schädigen Ernten und zerstören Naturlandschaften. Die Auswirkungen ihres Tuns sind wirtschaftlich, kulturell und ökologisch spürbar.
Doch es gibt Hoffnung.
„Raubtierfrei 2050“: Neuseelands kühnes Ziel
Im Jahr 2016 kündigte die Regierung das „ehrgeizigste Naturschutzprojekt der Welt“ an. Sie erklärte, dass Neuseeland bis zum Jahr 2050 frei von Raubtieren sein werde. Für ein Land, das drei viertel so groß ist wie Deutschland, ist das Ziel ehrgeizig, ja sogar kühn. Es baut jedoch auf jahrzehntelanger, weltweit führender Naturschutzarbeit auf, einschließlich der Ausrottung von Raubtieren auf 110 vorgelagerten Inseln. Diese raubtierfreien Schutzgebiete sind heute Hochburgen der indigenen Tierwelt. Solche Erfolge bewiesen, dass es möglich ist. Könnte das gesamte Festland als Nächstes dran sein? Kann die Aktion „Raubtierfrei 2050“ ein Erfolg werden?
In den letzten neun Jahren wurden rund 160 Millionen Euro an öffentlichen Geldern in dieses Ziel investiert. Zuständig ist nicht eine einzelne Organisation, sondern ein Flickwerk aus Regierungsbehörden, Wissenschaftlern, Privatunternehmen, Landwirten, indigenen Māoristämmen (iwi) und lokalen Gemeinschaften. Das staatliche Department of Conservation (Ministerium für Naturschutz) leitet einen Großteil der Arbeit vor Ort, indem es im Rahmen seiner Zuständigkeit für den Naturschutz Fallen aufstellt und Giftstoffe aus der Luft ausbringt. Gleichzeitig suchen Forschungsinstitute und private Unternehmen nach neuen Technologien.
Im ganzen Land laufen 18 groß angelegte Projekte (darunter die beiden bereits erwähnten Projekte in Wellington), die von der Zentralregierung, den lokalen Behörden und privaten Geldgebern finanziert werden. Diese Projekte erstrecken sich vom Ackerland bis zu den Wäldern, von der Küste bis zur Stadt, und jedes von ihnen ist ein Test dafür, wie die Ausrottung von Raubtieren auf nationaler Ebene funktionieren könnte. Rund 130.000 Hektar befinden sich bereits in der „Verteidigungsphase“, das heißt, alle ansässigen Tiere der Zielarten wurden entfernt, und das gereinigte Gebiet wird gegen eine erneute Invasion der Raubtiere verteidigt.
Drei Dinge erweisen sich dabei als entscheidend: Menschen, Technologie und Ausdauer.
Die Macht der Menschen
Das Ziel „Raubtierfrei 2050“ hat die Herzen und Köpfe vieler Neuseeländer erobert. Die Natur ist ein zentraler Bestandteil der Identität auf den Inseln. Vor allem das Wandern gilt als beliebter nationaler Zeitvertreib mit einem Netz von fast 1.000 öffentlichen Hütten, die über 15.000 Kilometer Wanderwege durch Wälder, auf Berge und entlang von Flüssen und Seen erreichbar sind.
Zahlen & Fakten
Ausgerottet: Der Weißwangenkauz

Der Weißwangenkauz hatte ein ausgefallenes Jagdverhalten für einen flugfähigen Vogel: Er jagte am Boden und zu Fuß. Wegen seiner Laute, die wie menschliches Lachen klangen, war er auch als Lachkauz bekannt. Ungefähr im Jahr 1890 starb er wegen eingeschleppter Raubtiere aus, die ihn wiederum am Boden jagten.
Jedes Jahr nehmen Zehntausende an der skurrilen Wahl zum „Vogel des Jahres“ teil – einer Kampagne, die international für Schlagzeilen sorgt und nationale Debatten über die beliebtesten einheimischen Arten anheizt.
Die öffentliche Resonanz auf „Raubtierfrei 2050“ war beachtlich. Mehr als 5.000 kommunale Gruppen warten Fallen in lokalen Schutzgebieten, stellen Raubtierfallen in ihren Gärten auf und setzen sich für den Schutz einheimischer Wildtiere ein. Die Menschen engagieren sich in Städten und ländlichen Gebieten aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel um Gemüsebeete vor hungrigen Ratten oder Vieh vor Krankheiten zu schützen, die von Opossums verbreitet werden. Der Predator Free New Zealand Trust, eine nationale Nichtregierungsorganisation, hilft bei der Vernetzung, Unterstützung und Förderung dieser Bemühungen.
Diese Graswurzelbewegung ist ebenso wichtig wie die Technologie. Auch die gesellschaftliche Akzeptanz ist von entscheidender Bedeutung, wenn die nationale Naturschutzstrategie die Anwendung von Giftstoffen und das Töten von Tieren im Namen des Naturschutzes umfasst.
Die Bekämpfung der Raubtiere beruhte lange auf manuell aufgestellten Fallen und Giften – Methoden, die arbeitsintensiv und ungenau sind und die angesichts des Umfangs der Aufgabe zunehmend an ihre Grenzen stoßen. Da sich die Bemühungen jedoch auf Städte, Ackerland, Wälder und Berge ausweiten, ist klar, dass herkömmliche Mittel nicht reichen werden. Benötigt werden Lösungen, die human, artspezifisch und skalierbar sind.
Klüger killen
Diese Herausforderung löste eine Welle von Innovationen aus. Das in Wellington ansässige Unternehmen Goodnature etwa hat eine automatische Rattenfalle entwickelt, die sich nach jeder Tötung selbst zurücksetzt und 24 Schläge zulässt, bevor der Köder und der CO²-Behälter ausgetauscht werden müssen. Die Falle ist zielgerichtet, human (sofern man das in diesem Zusammenhang sagen kann) und für entlegene Gebiete geeignet.

NZ AutoTraps hat einen weiteren Sprung nach vorn gemacht: eine sich selbst zurückstellende Falle, die auf Ratten und Opossums abzielt. Sie kann mit künstlicher Intelligenz ausgestattet werden, sodass sie nur bei den Zieltierarten auslöst. Zudem verfügt sie über eine Fernüberwachung. Natürlich ist es viel effizienter, einen Computer-Feed mit einer Zusammenfassung der Fänge zu überprüfen, als zu einem Netz von Fallen zu gehen und diese zu kontrollieren. Die Technologie hat freilich ihren Preis. Eine herkömmliche, manuell aufgestellte Falle für Ratten und Hermeline kostet weniger als 74 Euro pro Stück, eine Opossumfalle etwa 53 Euro. Die Preise für die NZ AutoTraps beginnen bei 300 Euro – ein beträchtlicher Preisunterschied, der jedoch durch Arbeitseinsparungen und Effizienzgewinne wieder ausgeglichen wird.
Gift schmackhaft machen
Beide Fallen sind auch im Export erfolgreich, da sie die Nachfrage nach einem effektiven humanen Management invasiver Arten bedienen. Goodnature-Fallen werden in England zur Bekämpfung von Grauhörnchen eingesetzt, und NZ AutoTraps helfen bei der Bekämpfung von Mungos auf Hawaii. Auf dem Gebiet der Toxine haben Wissenschaftler der Firma Boffa Miskell einen Durchbruch mit Norbormid erzielt, einem Ratten-spezifischen Gift, das keine Gefahr für Vögel, Vieh oder Haustiere darstellt.
Während internationale Wissenschaftler seit langem nach Möglichkeiten suchen, dieses seit Jahrzehnten bekannte Gift den Ratten schmackhafter zu machen, könnte eine neue Formel, die derzeit in Wellington erprobt wird, Breitspektrumtoxine ersetzen, die in der Umwelt verbleiben und auch anderen Tieren schaden. Doch zunächst müssen strenge behördliche Hürden genommen werden.
Natürlich taucht auch der Gedanke an gentechnische Lösungen immer wieder auf. Die neuseeländische Regierung hat erst kürzlich ihre restriktiven Gesetze auf diesem Gebiet gelockert. Ein gentechnischer Ansatz ist trotzdem noch in weiter Ferne, da wichtige ökologische, technische, rechtliche und ethische Fragen derzeit noch ungelöst sind.
Kein Vorwissen, keine Erfahrungen
Geplante Ausrottung ist ein schwieriges Unterfangen, insbesondere auf einer großen, bevölkerten Landmasse. Neuseeland ist auch der erste Staat weltweit, der so etwas in Angriff nimmt. Es gibt also kein Vorwissen, keinen festen Fahrplan. Die Herausforderungen sind somit groß.
Ironischerweise wird die Aufgabe umso komplexer, je erfolgreicher man ist: Wenn die Schädlingspopulationen schrumpfen, sind die verbleibenden Individuen in der Regel die vorsichtigsten und am schwersten zu fassen. Es geht nicht nur darum, irgendwann das letzte Raubtier zu töten – man muss danach auch sicherstellen, dass Opossums, Ratten und Wiesel nie wieder ins Land kommen.
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Ausgerottet: Die Nordinsel-Schnepfe

Die Nordinsel-Schnepfe war ein kleiner, bodenbrütender Vogel, der ausschließlich auf der neuseeländischen Nordinsel vorkam. Sie führte ein verstecktes Leben und ernährte sich von Insekten und Würmern. Es konnten nur zwei Exemplare gefangen werden – eines starb, das andere entkam. Wie viele einheimische Vogelarten Neuseelands war die Schnepfe flugunfähig und damit schutzlos gegenüber eingeschleppten Raubtieren. Um 1920 galt sie als ausgestorben.
Der finanzielle Umfang des Projekts ist gigantisch. Schätzungen zufolge könnte die landesweite Ausrottung über vier Milliarden Euro kosten. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten und Problemen wie steigender Kriminalität, Wohnungsnot und den Folgen des Klimawandels steht die biologische Vielfalt auf der Prioritätenliste der meisten Bürger ganz unten. Deshalb war es bereits ein großer Erfolg, so viele Menschen für das Projekt zu begeistern. Aber die Finanzierung muss gesichert werden, sonst scheitert der Plan. Der Countdown für die Natur läuft; Verzögerungen verschlimmern nur die Schäden und erschweren die Wiederherstellung.
Es gibt auch ethische und ökologische Einwände gegen das Tötungsprogramm. Der Einsatz von Giften, insbesondere von Natriumfluoracetat, ist äußerst umstritten. Manche Wissenschaftler weisen auch auf die ökologische Komplexität der Aufgabe hin; das Entfernen eines Raubtiers kann unerwartete Folgen für das biologische Gleichgewicht haben.
Doch die erwähnten Erfolge in der Hauptstadt Wellington, in eingezäunten Schutzgebieten und auf den raubtierfreien Inseln vor der Küste machen Mut. Ziel von „Raubtierfrei 2050“ ist nicht nur die Rettung einheimischer Arten. Es geht auch darum, die Verbindung zum Ort, zur Natur und zu den Dingen, die Neuseeland einzigartig machen, wiederherzustellen. Der Inselstaat am Ende der Welt will zeigen, wie eine groß angelegte ökologische Erholung aussehen könnte.
Conclusio
Ambitioniert. Neuseeland verfolgt das Ziel, bis 2050 raubtierfrei zu werden. Dieses Projekt zielt nicht nur auf den Naturschutz ab, sondern auch auf die Wiederherstellung eines einzigartigen Ökosystems, das seit Jahrhunderten gestört ist.
Innovativ. Der Erfolg des Projekts hängt von modernen Technologien wie automatisierten Fallen und gezielten Giften ab. Diese Lösungen sind effizient und ermöglichen eine flächendeckende Ausrottung invasiver Arten.
Umstritten. Das Projekt steht vor finanziellen und ethischen Herausforderungen. Die Balance zwischen den ökologischen Zielen und den gesellschaftlichen Bedenken wird entscheidend für den Erfolg von „Raubtierfrei 2050“ sein


