Die EU auf NATO-Irrwegen

Die EU sollte das Kielwasser der NATO verlassen. Eine Abkehr von der Neutralität stellt für Österreich ein großes Sicherheitsrisiko dar.

Der NATO-Stern ist durch ein Fenster mit Regentropfen im NATO-Hauptquartier vor den Flaggen der 32 Mitgliedsstaaten zu sehen. Das Bild illustriert einen Kommentar über Österreichs Neutralität und warum die EU das Kielwasser der NATO verlassen sollte.
Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen am 4. April 2024 in Brüssel. © Getty Images

Im Pragmaticus vom März 2024 hat Wolfgang Schüssel zur österreichischen Neutralität kritisch Stellung genommen. Die Neutralität biete keinen Schutz, sie gelte bei jedem EU-Beschluss im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nicht mehr und sie habe in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur wenig Platz. Diese Argumentation misst Sicherheit vorwiegend mit dem militärischen Maßstab. Frieden und Sicherheit entsteht aber im Zusammenwirken vieler Dimensionen. Die drei wichtigsten – die drei D – sind eine stabile Demokratie, die nationale Defension und die internationale Diplomatie.

Die Sicherheit eines Staates beginnt bei seiner inneren Stabilität. Die Demokratie ist die stabilste Staatsform, weil ihr Recht vom Volk ausgeht. Genauso wichtig ist die emotionale Bindung an ein gemeinsames Ziel, an das die Bürger glauben, für das sie sich aus Überzeugung engagieren. Die Neutralität ist mehr als ein nationales Konzept der Sicherheit. Sie ist in Einklang mit den Idealen der Vereinten Nationen, ein Fortschritt für das friedliche Zusammenleben der Völker. Sie ist niemandes Feind. Sie engagiert sich, auch im eigenen sicherheitspolitischen Interesse, für die friedliche Lösung von Konflikten. Sie ist Teil unserer nationalen Identität. Sie ist die emotionale Bindung, die knapp 80 Prozent der Österreicher behalten wollen.

Die Neutralität muss wehrhaft sein

Vor kurzem wurde vom Bundesheer das Risikobild 2024 unter dem Titel Die Welt aus den Fugen vorgestellt. Demnach sei das größte Risiko für Europa die hybride Kriegführung. Diese Bedrohung sei aber für einen neutralen Staat geringer. Neutralität mindert also das Risiko in Konflikte hinein gezogen zu werden. Dennoch wird, auch von Schüssel, das Schicksal des neutralen Belgiens im Ersten Weltkrieg, stets als Beweis bemüht, dass Neutralität nicht schütze. Warum wird eigentlich nie auf die Schweiz verwiesen? Sie blickt auf mehr als 200 Jahre Frieden zurück und konnte sich aus zwei Weltkriegen heraushalten.

Österreich erfreut sich ebenfalls guter Bedingungen, sich aus Kriegen herauszuhalten. Die geostrategische Lage, die innere Stabilität und die internationale Vernetzung können sich mit der Schweiz durchaus vergleichen. Wo wir nicht mithalten können, ist auf dem Gebiet der militärischen Landesverteidigung. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes hat Österreich seine militärischen Fähigkeiten drastisch beschnitten. Besonders schwer wog die 2006 – unter Bundeskanzler Schüssel – erfolgte Aussetzung der verpflichtenden Truppenübungen. Das war das Ende der Miliz und der von ihr getragenen Raumverteidigung, des Herzstücks der wehrhaften Neutralität.

Ein Beitritt zur NATO-neu brächte ein erhöhtes Risiko, in einen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden.

Wolfgang Schüssel fordert nun zu Recht eine nachhaltige Aufstockung und Verbesserung unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit. Er könnte selbst einen entscheidenden Beitrag leisten, indem er für die Wiederaufnahme der Truppenübungen eintritt, die während seiner Regierungszeit ausgesetzt wurden. Die Lösung für eine erhöhte Sicherheit liegt nämlich nicht im Beitritt zur NATO, sondern in der Wiederbelebung der umfassenden Landesverteidigung und einer starken Milizarmee, so wie es in der Bundesverfassung vorgesehen ist. Ein neutraler Staat muss sicherstellen, dass sein Territorium zu Erde und in der Luft nicht zum Vorteil einer Kriegspartei genutzt werden kann. Dann leistet er seinen Beitrag für die Sicherheit Europas und niemand wird behaupten können, dass ihn die NATO-Länder stillschweigend verteidigen müssen.

Ein Beitritt zur NATO-neu brächte keinen Sicherheitsgewinn, sondern eher ein erhöhtes Risiko, in einen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden. Das könnte sogar bei Konflikten außerhalb Europas der Fall sein. Die NATO-neu ist mit den sogenannten „out of area“- Einsätzen bereit, auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates, weltweit zu agieren. Österreich wäre als NATO-Mitglied ein legitimes Ziel von Angriffen mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen, um z. B. den Transit von Truppen oder Waffen der NATO durch Zerstörung der Transportinfrastruktur zu unterbinden. Auch die hybride Bedrohung, wie Cyberangriffe, Terroranschläge und Sabotage würde steigen.

Engagierte Neutralität stärkt Frieden

Als Österreich der EU beigetreten ist, hat der damalige Außenminister Alois Mock folgende Erklärung abgegeben: „Die Neutralität Österreichs ist sein spezifischer Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa“. Warum sollte heute nicht gelten, was damals erklärt wurde? Die EU-Verträge erlauben einen ausreichenden Spielraum für eine engagierte Neutralitätspolitik.

In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gilt die Einstimmigkeit. Österreich kann sich bei Beschlüssen der Stimme enthalten oder sogar ein Veto einlegen. Für ein Veto bräuchte es triftige Gründe, die sorgfältig abzuwägen wären. Österreich könnte stattdessen mutig auf die Bestimmungen der EU-Verträge verweisen. Nach Artikel 3 des EU-Vertrags ist es „das Ziel der Union, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“. Das ist der Grundgedanke der EU, der beim Beitritt die überwältigende Zustimmung unserer Bevölkerung fand.

Die neutrale Haltung Österreichs würde der einseitigen Beurteilung von Sachverhalten entgegenwirken und könnte in der EU zur Formulierung einer ausgewogenen Politik beitragen.

Die Beistandspflicht nach Artikel 42/7 ist mit der Neutralität vereinbar. Sie lässt mit der sogenannten „irischen Klausel“ den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt. Selbst die Änderung der Bundesverfassung durch die Einfügung des Art 23j, der die Mitwirkung an der GASP regelt, sieht keine Verpflichtung zur Teilnahme an militärischen Einsätzen vor. Die Entsendung von Truppen in das Ausland bedarf der Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates, die ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates wohl kaum erfolgen wird.

Mit anderen Worten, solange sich die GASP im Geist des EU-Vertrags bewegt und die Grundsätze der Vereinten Nationen achtet, kann Österreich allen Beschlüssen ohne Vorbehalt zustimmen. Die neutrale Haltung Österreichs könnte sogar nützlich sein. Sie würde der einseitigen Beurteilung von Sachverhalten entgegenwirken und könnte in der EU zur Formulierung einer ausgewogenen Politik beitragen.

Neue Sicherheitsarchitektur

In der neuen Sicherheitsarchitektur, wie sie Wolfgang Schüssel vor Augen hat, ist wenig Platz für die Neutralität und offensichtlich auch kein Platz für Russland. Die EU und Russland sind aber Nachbarn, die auf demselben Kontinent leben. Der ehemalige Generalsekretär der NATO, Javier Solana, hat beim NATO-Workshop 1999 in Wien festgehalten: „Eine umfassende euro-atlantische Sicherheitsarchitektur kann nicht ohne Russland oder gar gegen Russland gebildet werden“. Diese geopolitische Konstante kann nicht ignoriert werden.

Europa braucht eine Rückkehr zur Diplomatie, in der die engagierte Neutralität ihren Platz hat.

Die „NATO-alt“ hat diesem Umstand Rechnung getragen und eine Doppelstrategie verfolgt, in der neben der militärischen Verteidigung die Diplomatie eine wichtige Rolle spielte. Die beachtlichen Erfolge in der Rüstungskontrolle und in der kooperativen Sicherheitspolitik im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wurden durch den Konflikt über den Status der Ukraine zunichtegemacht. Die Versuche der EU, mit den Minsker Abkommen eine Lösung zu finden, erwiesen sich als wertloses Papier. Der Krieg in der Ukraine hat sich verselbständigt und jede Regung der politischen Vernunft zunichtegemacht.

Heute befindet sich das Friedensprojekt EU im Kielwasser der NATO-neu auf einem geopolitischen Irrweg, der Europa womöglich zum dritten Mal in etwas mehr als einem Jahrhundert in ein Schlachtfeld verwandelt.

Europa braucht eine Rückkehr zur Diplomatie, in der die engagierte Neutralität ihren Platz hat. Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so der preußische Heeresreformer und Militärwissenschaftler Carl Philipp Gottlieb Clausewitz. Die Kunst der Politik ist es, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem die anderen Mittel erschöpft sind. Das Ziel muss eine kooperative Sicherheitsordnung sein, so wie sie in der OSZE bereits angelegt war. Das geht nicht ohne Wiederaufnahme des Dialogs mit Russland, der in der Vergangenheit zu den „Helsinki-Schussakten“ der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) und zur Gründung der OSZE geführt hat.

Die OSZE ist die geeignete Organisation, eine Friedenskonferenz am Sitz der OSZE, in Wien, unter Einbeziehung Chinas, auf den Weg zu bringen. Wer könnte diese Idee besser ins Spiel bringen als die neutralen Staaten, Malta der Vorsitz der OSZE, Österreich der Sitzstaat und die Schweiz, die bereits Schritte für eine friedliche Lösung unternimmt. Österreich hat einen Platz in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur. Die Bevölkerung will, dass wir unsere Neutralität, im Dienste des Friedens, glaubwürdig und mutig nutzen.

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