Sie sind wie wir, nur anders

Im Parlament soll sich die Gesellschaft widerspiegeln. Doch dieser Anspruch hat seine Tücken. Warum es gut ist, dass Politiker und Bürger sich nicht zu sehr ähneln.

Die Illustration zeigt die Unterkörper von zwei Männern und einer Frau, die in der oberen Hälfte lässig gekleidet sind und im Spiegelbild in der Pütze Anzüge und Kostüm tragen. Das Bild illustriert einen Artikel darüber, wieso eine vollständige Repräsentation der Wähler demokratisch nicht erreichbar und nicht erstrebenswert ist.
Einerseits sollen „die da oben“ so sein wie „wir“, andererseits müssen „die da oben“ ganz anders sein als „wir“, wenn sie in unserem Sinn effektiv tätig sein wollen. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Repräsentation. Gruppen, die nicht im Parlament vertreten sind, laufen Gefahr, dass ihre Interessen unberücksichtigt bleiben: Repräsentanz ist also von Bedeutung.
  • Anforderungen. Andererseits verlangt Politik Kenntnisse und Fähigkeiten, die fernab dessen sind, was die meisten Menschen in ihrem Alltag oder Beruf benötigen.
  • Berufspolitiker. Auf Bundesebene ist Politik eine hoch spezialisierte Tätigkeit. Wer langfristig Erfolge erzielen will, muss diesen Beruf umfassend erlernen.
  • Demokratie. Eine vollständige Repräsentation der Wähler ist daher demokratisch nicht erreichbar und wohl auch nicht erstrebenswert.

„Demokratie bedeutet Volksherrschaft“ – so lernt man es im Schulfach politische Bildung. Auch im Bundes-Verfassungsgesetz heißt es, das Recht dieser Republik gehe „vom Volk aus“. Doch schon aus praktischen Gründen regiert das Volk nicht selbst, sondern wird in aller Regel regiert. Den Job übernehmen Vertreter, die das Volk direkt oder indirekt durch Wahlen legitimiert. Dieser Schritt birgt das Risiko, dass die mit dem Regieren Beauftragten ihr Mandat nicht im Sinne der Auftraggeber ausführen. Somit rückt in der repräsentativen Demokratie eine Frage automatisch in den Vordergrund: In welchem Verhältnis stehen die Regierenden zu den Regierten?

Eine oft gehörte Antwort auf diese Frage ist, dass die Repräsentanten den Repräsentierten möglichst ähnlich sein sollen: das Parlament als Mikrokosmos, in dem sich die Gesellschaft widerspiegelt. Damit wäre die Lücke, die unweigerlich zwischen dem regierenden Volk und dem regierten Volk klafft, zwar nicht verschwunden, erschiene aber nicht mehr so groß.

Das Volk und seine Vertreter

In welcher Hinsicht aber sollen Politiker dem Volk ähnlich sein? Die augenscheinlichste Form der Übereinstimmung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten manifestiert sich in bestimmten demografischen oder sozialen Merkmalen: Geschlecht, Alter, Klasse, Beruf, Bildungsgrad, Region und dergleichen. Die Forderung nach solch „deskriptiver Repräsentation“ ist eine konstante Begleiterin durch die Geschichte des Parlamentarismus: Das Wahlrecht für das Abgeordnetenhaus im cisleithanischen Reichsrat des 19. Jahrhunderts teilte die Wähler nach Orts- und Standeszugehörigkeit in Kurien ein – unter der Annahme, die darin zusammengefassten Gruppen (Großgrundbesitz, Handelskammern, Städte/Märkte/Industrieorte und Landgemeinden) seien die legitimen Träger demokratischer Interessen.

Frauen und Personen mit geringerer Steuerleistung blieben ausgeschlossen, wodurch bei den ersten Direktwahlen des Abgeordnetenhauses 1873 gerade einmal sechs Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt waren.

Wer im Parlament vertreten ist

Die Erste Republik brachte 1918 das Frauenwahlrecht (und eine ähnlich hohe Wahlbeteiligung von Männern und Frauen), aber das allein führte natürlich nicht zu einer gleichberechtigten Vertretung im Parlament. Zwar zogen die ersten weiblichen Abgeordneten 1919 in die Konstituierende Nationalversammlung ein, aber erst Mitte der 1980er überschritt der Frauenanteil im Nationalrat die Zehn-Prozent-Marke. In den weiteren Jahrzehnten kletterte der Anteil weiter und liegt heute bei rund 40 Prozent, wobei zwischen den Nationalratsklubs derzeit ein deutliches Links-rechts-Gefälle herrscht (Grüne: 62 Prozent, FPÖ: 13 Prozent).

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Zahlen & Fakten

Die Geschichte weiblicher Abgeordneter zeigt, dass deskriptive Repräsentation auch deshalb wichtig ist, weil die Interessen von nicht im Parlament vertretenen Gruppen Gefahr laufen, unberücksichtigt zu bleiben. Wer nicht anwesend ist, kann keine Forderungen stellen. Eine wichtige Ausnahme von dieser Regel bildet die Repräsentation älterer Menschen: Im Nationalrat sind Abgeordnete über 70 eine absolute Rarität. Gerade zwei von 183 Abgeordneten gehören derzeit dieser Altersgruppe an.

Die physische Absenz ist aber kein Zeugnis der Machtlosigkeit dieser Gruppe, wie politische Debatten über das hiesige Pensionssystem regelmäßig belegen. Dennoch: Altersmäßig dominiert im Nationalrat die Kohorte 40 bis 59. Sie stellt derzeit über 60 Prozent der Abgeordneten, aber nur ein gutes Drittel der erwachsenen Bevölkerung. Praktisch gleich groß ist in der erwachsenen Bevölkerung die Gruppe der unter 40-Jährigen, sie stellt aber nur ein Sechstel aller Nationalratsabgeordneten.

Während also ältere und jüngere Menschen unterrepräsentiert sind, gilt für Angehörige höherer Bildungsgruppen das Gegenteil: Nur rund ein Fünftel der Bevölkerung zwischen 25 und 64 verfügt über einen tertiären Abschluss, im Nationalrat sind es mehr als die Hälfte der Abgeordneten (seit 1945 hat sich dieser Anteil mehr als verdoppelt). 

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Zahlen & Fakten

Bundespolitik ist ein Beruf

Noch krasser ist die Diskrepanz bei den höchsten akademischen Abschlüssen: Eine bzw. einer von sieben Abgeordneten verfügt über ein Doktorat, während das nur auf rund ein Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung zutrifft. Bei den Branchen und Berufen der Abgeordneten gibt es ähnlich starke Abweichungen von der Gesamtbevölkerung. Die Personenstatistik des Nationalrats weist 15 Abgeordnete aus, die aus dem Agrarsektor kommen (die meisten davon im ÖVP-Klub), 9 aus Industrie und Produktion, 22 aus dem privaten Dienstleistungssektor, 17 aus freien Berufen und 13 aus dem öffentlichen Dienst.

Allerdings stößt der Vergleich zwischen Repräsentanten und Repräsentierten hier an seine Grenze – und zwar aus einem ganz trivialen Grund: Die meisten Abgeordneten sind hauptberuflich Politiker. Ein Drittel gibt neben dem Abgeordnetenmandat überhaupt keine berufliche Tätigkeit an, rund 14 Prozent haben zusätzlich andere öffentliche Ämter inne (häufig auf Gemeindeebene, zum Beispiel als Bürgermeister), und 8 Prozent sind Angestellte von Parteien, Verbänden oder Sozialversicherungen.

Wie in den meisten entwickelten Demokratien ist auch in Österreich Politik auf nationaler Ebene eine hoch spezialisierte, durch und durch professionalisierte Tätigkeit. Wer in der Politik nachhaltig erfolgreich sein möchte – nicht nur im Sinne von Wahlerfolgen, sondern auch im Sinne substanzieller Politikgestaltung –, kommt nicht umhin, diesen Beruf umfassend zu erlernen. 

Um ein guter Repräsentant zu sein, muss man ganz anders sein als die, die man repräsentiert.

Dazu gehören unter anderem Allgemeinwissen, die Kenntnis formeller und informeller politischer Prozesse, strategisches Denken, das Knüpfen von Netzwerken, kommunikative Fähigkeiten, Organisationskompetenzen und Führungsqualitäten. Jedenfalls verlangt der Beruf Politiker nach vielen spezialisierten Kenntnissen und Fähigkeiten, die fernab dessen liegen, was die meisten Menschen in ihrem Berufs- oder Alltagsleben benötigen. 

Fazit: Um ein guter Repräsentant zu sein, muss man ganz anders sein als die, die man repräsentiert. Hier öffnet sich eine Kluft zwischen dem Anspruch, das Parlament solle die Bevölkerung widerspiegeln, und der in der Praxis herrschenden Professionalisierung von Politik. Überspitzt formuliert: Einerseits sollen „die da oben“ so sein wie „wir“, andererseits müssen „die da oben“ ganz anders sein als „wir“, wenn sie in unserem Sinn effektiv tätig sein wollen.

Dieser Widerspruch ist ein beliebtes Einfallstor für populistische Kritik an den politischen Eliten. Und nicht immer ist diese Kritik ohne Berechtigung: Abgehobenheit, Verkrustung, Machtmissbrauch, Korruption – all diese Phänomene sind aus der Geschichte der Zweiten Republik nur zu gut bekannt. Und zwar nicht nur als Einzelfälle, sondern zum Teil als systemische Pathologien.

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Zahlen & Fakten

Zuletzt stellt sich in der repräsentativen Demokratie aber nicht nur die Frage, wer „die da oben“ sind, sondern auch die Frage nach dem „wir“. Wer soll überhaupt repräsentiert werden? Aus der Sicht einer einzelnen Abgeordneten kann man diesen Kreis sehr unterschiedlich weit ziehen: die Wähler der eigenen Partei, die Wähler im Wahlkreis, alle Wählerinnen und Wähler, alle Wahlberechtigten, alle Staatsbürgerinnen oder alle Bewohner des Landes (von den Interessen zukünftiger Generationen noch ganz zu schweigen). 

Welche Merkmale sind repräsentationswürdig?

Zum Zeitpunkt der Nationalratswahl 2019 lebten rund 8,9 Millionen Menschen in Österreich, 83 Prozent davon hatten die Staatsbürgerschaft, 72 Prozent waren wahlberechtigt und 54 Prozent haben eine gültige Stimme abgegeben. Angesichts sinkender Wahlbeteiligung und steigender Zuwanderung bei restriktivem Staatsbürgerschaftsrecht droht die Diskrepanz zwischen Wohnbevölkerung und aktiven Wählern immer größer zu werden. Damit wird die Frage, wer überhaupt repräsentiert werden soll, noch virulenter.

Denn die Repräsentation von Zugewanderten ist schon jetzt schwach ausgeprägt: So wurden beispielsweise nur knapp 4 Prozent der Abgeordneten zum Nationalrat im Ausland geboren, während das auf 22 Prozent der Gesamtbevölkerung und immerhin noch 7 Prozent der österreichischen Staatsangehörigen zutrifft. Ein weiteres Problem für den Anspruch perfekter deskriptiver Repräsentation ist offensichtlich: Welche Merkmale sind überhaupt repräsentationswürdig? 

Die Diskussion über die Vertretung verschiedener Gruppen ließe sich nämlich beliebig ausdehnen: nach Region (wofür unser Wahlrecht de facto eine Quote vorsieht), nach Religion, nach sexueller Orientierung, nach Einkommen, nach Behinderung und so weiter und so fort.

Welches soziale oder demografische Merkmal überhaupt als legitimes Repräsentationskriterium angesehen wird, ist selbst das Ergebnis eines – nicht selten kontroversen – politischen Prozesses. Vor 150 Jahren etwa war die Forderung nach gleicher politischer Repräsentation der Geschlechter die Position einer radikalen Minderheit; heute ist sie in weiten Bereichen Selbstverständlichkeit (wenn auch noch nicht Realität). Die gesellschaftlichen Ansprüche an die politische Repräsentation sind also ständig im Wandel – und die Wirklichkeit hinkt ihnen zwangsweise hinterher.

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Conclusio

Im Parlament soll sich die Gesellschaft widerspiegeln, weil die Interessen von nicht im Parlament vertretenen Gruppen oft unberücksichtigt bleiben. Dieser Anspruch widerspricht allerdings der zunehmenden Professionalisierung von Politik. Die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten von Politikern sind weit von dem entfernt, was die meisten Menschen in ihrem Berufs- oder Alltagsleben benötigen. Auf Bundesebene ist Politik eine hoch spezialisierte Tätigkeit. Um einen guten Repräsentanten abzugeben, muss man also ganz anders sein als die, die man repräsentiert. Zudem ließen sich die Merkmale, nach denen Bevölkerungsgruppen im Parlament repräsentiert sein sollen, beliebig ausdehnen. Eine vollständige Repräsentation der Wähler ist demokratisch nicht erreichbar und wohl auch nicht anzustreben.