Das Sägen am eigenen Ast
Keine andere Berufsgruppe versteht sich so gut darauf, das eigene Image nachhaltig zu schädigen. Die Selbstdemontage der politischen Elite wird langsam gefährlich.
Auf den Punkt gebracht
- Vertrauensverlust. Die Selbstaufgabe des politischen Personals, das kein Vertrauen in die eigene Wirkungskraft hat, löst bei den Wählern keine Begeisterung aus.
- Planlosigkeit. Agenda Setting wird immer öfter von Agenda Surfing abgelöst. Anstatt selbst Themen zu setzen, surft man auf Themenwellen, die auf einen zukommen.
- Selbstdemontage. Politikerinnen und Politiker, die sich ständig nach unten nivellieren, um den elitären Stallgeruch loszuwerden, schaffen sich selbst ab.
- Visionen. Wer die Zukunft gestalten will, braucht eine klare Vorstellung von ihr, und muss willens und fähig sein, auch Unpopuläres zu kommunizieren.
An sich müsste man die aktuelle Generation von Politikerinnen und Politikern in Schutz nehmen. Wären schon Josef Klaus oder Bruno Kreisky der multimedialen Kanalüberflutung des 21. Jahrhunderts ausgesetzt gewesen, der Eindruck wohlüberlegter Entscheidungen wäre kaum entstanden. Kreiskys Aufstieg zum Sonnenkönig ist mehr als 50 Jahre her. Heute müsste er gegen eine Vielzahl an Regenmachern antreten. Zwar revolutionierte Kreisky Kommunikationsabläufe, aber die heute gebräuchliche Instant-Kommentierung auf eh allen Plattformen hätte ihn wohl rasch zum medialen Reaktionär werden lassen.
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Das politische Personal ist vor allem eines – getrieben: von externen Ereignissen, die es, siehe Pandemie oder Russlands Angriff auf die Ukraine, nicht selbst beeinflussen kann; von Anspruchsgruppen, die lautstark und nicht in jedem Fall wohlbegründet ihr vermeintliches Recht einfordern; von großen Emotionen, die für die angebliche Elite nicht nur kaum zu steuern sind, sondern diese regelrecht durch die Arena hetzen. Dieser Kontrollverlust, der längst in einen deutlich wahrnehmbaren Vertrauensverlust der Bevölkerung mündete, hat viele Ursachen. Eine wesentliche ist die scheibchenweise erfolgende Selbstaufgabe des Führungspersonals. Denn eines verbindet Politiker weit über die Parteigrenzen hinweg: das fröhliche Sägen an dem Ast, auf dem sie selber sitzen.
Surfen auf der Themenwelle
Das beginnt beim Vertrauen in die eigene Wirkkraft. Zumindest in der Theorie erwartet sich die Bevölkerung von Politikerinnen und Politikern das Definieren von Aufgaben und die konsequente Arbeit daran, Ideen erst mehrheitsfähig zu machen und dann in die Tat umzusetzen. Klassisches Agenda Setting wird in der Lebensrealität des 21. Jahrhunderts aber immer öfter abgelöst von Agenda Surfing: Die Politik wartet bloß darauf, dass die nächste Themenwelle auf sie zukommt. Dann packen alle ihre politischen Surfbretter aus und versuchen, sich so lange auf der Welle zu halten, wie es eben geht – jedenfalls aber länger als die anderen. Das ist inzwischen auch die Definition von politischem Erfolg: Gewonnen hat, wem es relativ gesehen weniger schlecht geht als dem Mitbewerber.
Dass diese Einstellung schwerlich Beifallsstürme auslöst, muss nicht verwundern. Allgemein wird gern die demokratiepolitisch heikle Situation beweint. Aus Angst vor dem Gegenwind hoppeln die Akteure bei vielen Themen aber weiterhin fleißig der – noch dazu äußerst volatilen – Mehrheitsmeinung hinterher und versuchen, Stimmungen möglichst erfolgreich zu spiegeln, ohne dabei selbst je in eine aktive Rolle zu gelangen. Führungskompetenz kann so unmöglich entstehen. Denn wer sich am Ende des Feldes einreiht, der kann nicht vorangehen.
Zahlen & Fakten
Wenn also etwa die aktuelle Bundesregierung den Zustand bekrittelt, dass ihr die zahlreichen finanziellen Wohltaten seit Beginn der Pandemie nicht gedankt würden und die Stimmung weitaus schlechter sei als die tatsächliche Lage, dann mag das subjektiv richtig sein. Das Lamento fällt dennoch auf den Absender zurück.
Keine Idee und auch kein Plan
Denn all die Maßnahmen folgten keinem klar dargelegten Plan, wie die Republik in fünf oder zehn Jahren dastehen sollte. Sie waren getragen vom Gedanken, den Furor irgendwie abzuschwächen und sich Wohlwollen zu erkaufen. Kurt Tucholsky sagte: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber fühlt das meiste richtig.“ Und gefühlt gibt es hier keinen, der hinterm Lenkrad sitzt oder gar wüsste, wohin die Reise gehen soll.
Dieser Zustand latenter Führungslosigkeit hält in der Innenpolitik nun schon einige Jahre an. Über den eklatanten Mangel an Zukunftsthemen wird mit professionellem Marketing mal besser und mal schlechter hinweggetäuscht. Typisch österreichisch wurde mit Inseratenpolitik auch versucht, sich reichweitenstarke Medien gewogen zu halten. Kritische Themenbereiche bleiben vorsorglich ausgespart, denn das könnte sich am Wählermarkt rasch rächen. Wer will schon eine Neutralitätsdebatte lostreten? Oder gar eine Pensionsreform diskutieren? Gefragt nach dem, was erfolgreiche Politikerinnen und Politiker ausmacht, antworten in Österreich auch angesehene Politikexperten gern mit dem Satz: „Erfolgreich ist, wer wiedergewählt wird.“
Gefühlt gibt es niemanden, der hinterm Lenkrad sitzt oder gar wüsste, wohin die Reise gehen soll.
Dieser Satz mag der intrinsischen Motivation vieler Politikerinnen und Politiker entsprechen. Er ist aber gefährlich eindimensional, weil er die Langzeitfolgen dieser Interpretation von Politik ausblendet.
Visionen sind gefragt
Nach dieser Definition erfolgreiche Akteure wie der damalige Kanzler Werner Faymann (SPÖ) perfektionierten ihren Ansatz einer machtpolitisch austarierten, unaufgeregten Unauffälligkeit. Geblieben sind von Faymanns siebeneinhalb Jahren im Kanzleramt aber eher wahrgenommener Stillstand, Große-Koalition-Verdruss und behübschende Wortschöpfungen wie das „Türl mit Seitenteilen“ für den Zaun an der steirisch-slowenischen Grenze. In Hintergrundgesprächen wird von Politikerinnen und Politikern unterschiedlicher Couleurs gern der fälschlicherweise Franz Vranitzky (SPÖ) zugeschriebene Satz zitiert: „Wer in der Politik Visionen hat, braucht einen Arzt.“ Eine zweite fatale Fehleinschätzung wird nicht selten nachgereicht: „Man soll in der Politik nichts versprechen, was man nicht halten kann.“
Das passt in die parteiübergreifend gebräuchliche Hausverstands-Rhetorik. Woher aber weiß das politische Personal schon vorab, was alles nicht gehen wird? Mit den Visionen ist es ähnlich: Ihre Abwesenheit ist mit ein Grund dafür, dass das Narrativ der Zweiten Republik, die Aufstiegserzählung, merkbar ins Rutschen geraten ist. Dem oft gehörten Wunsch, wonach es den eigenen Kindern und Kindeskindern einmal (noch) besser gehen soll, fehlt zunehmend der Glaube an die Erfüllbarkeit. Einen kommunikativen Überbau, ein Narrativ braucht es aber, will man auch einmal Verständnis für Unpopuläres wecken. Und Unpopuläres ist ab und zu unerlässlich, um den Politikstandort zu erhalten.
Reformiere und sprich darüber
Sebastian Kurz (ÖVP) hätte über das Talent verfügt, sich in der politischen Königsdisziplin zu versuchen, der Reformkommunikation. Immerhin hatte er es als Staatssekretär geschafft, dem ewigen Negativthema Migration eine zart positive Note zu verleihen, etwa mit dem Slogan „Integration durch Leistung“. Einst deutete er sogar an, sich Änderungen im Pensionssystem vorstellen zu können. Durch die Migrationskrise 2015 und die Übernahme der ÖVP 2017 änderte sich das.
Zahlen & Fakten
Was von der kurzen Ära Kurz geblieben ist, abgesehen von anhängigen Fällen für die Justiz, sind eine Scheinreform – die Kassenzusammenlegung – und die Einsicht, dass beim Thema Zuwanderung zwischenzeitlich auch einmal der Schmiedl (Kurz) und nicht der Schmied (FPÖ) zur ersten Anlaufstelle werden kann. Christian Kern (SPÖ), der zweite kommunikativ Wohlbestallte, kam nie wirklich in die Verlegenheit, zu zeigen, was er draufgehabt hätte. Ihm fehlten, anders als Kurz, Team und Mittel, seinen „Plan A“ auch nur rudimentär anzugehen.
Populisten aller Lager
In der politischen Kommunikation, vor allem in Wahlkämpfen, gibt es zwei Basisemotionen: die Hoffnung und die Angst. Weil es leichter ist, Angst zu schüren, als Hoffnung zu wecken, setzen die meisten Akteure – und ihre Berater – auf Negativität. Ins Zentrum rutscht dann oft das Thema Identität, gepaart mit Abgrenzung von den Unerwünschten. Einmal ist das die „woke“ Engführung von links, dann der altbekannte ideologische Populismus von rechts. Letzterer spannt sich locker von Donald Trumps „America first“ bis zu Jörg Haiders „Österreich zuerst“.
Die sukzessive Entwertung der eigenen Tätigkeit ist die dominante, weil vermarktbare Strategie.
In einer weiteren Form des Populismus, der diskursiven, lösen sich die Grenzen zwischen links und rechts auf. Dann heißt es nur mehr „unten“ gegen „oben“. Und Vorsicht: Oben, also Zielscheibe, ist man recht rasch. Jeder, der vermeintlich zum „System“ gehört oder es auch nur verteidigt, kann in den Fokus rücken. Um den elitären Stallgeruch loszuwerden, distanzieren sich Politikerinnen und Politiker auch schon mal von sich selbst.
Die Selbstdemontage der Politik
Die Standards dieser speziellen Form des Bashings können nicht niedrig genug sein: Werner Faymann richtete das Kanzleramt bloß noch mit Ikea-Möbeln ein. Sebastian Kurz flog, mäßig ausgeruht, aber übermäßig medial präsent, auch nach Übersee nur in der Holzklasse. Politikerurlaube sind nur gestattet, wenn sie mit Wandern in der Heimat zugebracht werden. Jede Debatte über Gehaltsanpassungen fürs Führungspersonal endet erwartbar in der Selbstgeißelung.
Dass so die Schere selbst zu mittleren Managementgagen aufgeht und eine weitere Negativauslese in der Personalauswahl erfolgt, kann sich jeder denken. Aber die sukzessive Entwertung der eigenen Tätigkeit bleibt die dominante, weil vermarktbare Strategie. Nicht erst im Unendlichen treffen einander dabei auch die Enden des politischen Spektrums. In der FPÖ des Jörg Haider gab’s einen verpflichtenden (und intransparenten) Sozialtopf für Mandatare, die über 60.000 Schilling verdienten. Die Lebenshilfe-Partei KPÖ reüssiert heute mit der gleichen Idee. Man spendet einen Teil des bösen Politikergehalts, um die Krise am Wohnungsmarkt scheinbar zu lösen. Immerhin dieses verbindende Element gibt es also noch in der heimischen Parteienlandschaft: Man schafft sich schrittweise selbst ab.
Conclusio
In Zeiten der medialen Kanalvielfalt und multipler Krisen steuern Politikerinnen und Politiker ohnehin schon in Richtung Überforderung. Darüber hinaus aber verschlimmern sie ihre Situation auch selbst: Sie trauen sich ihre ureigenste Aufgabe nicht mehr zu – für ihre Programme einzustehen und diese voranzutreiben. Stattdessen werden sie zu Getriebenen, die allzu oft der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung hinterherhecheln. Der Vertrauensverlust der Bevölkerung ins politische System ist eine logische Konsequenz dieser Entwicklung. Führungskompetenz kann so nicht entstehen, denn vom Ende des Feldes kann man nicht vorangehen. Der Zug zum Populismus in allen Lebenslagen und auf Kosten des eigenen Images entwertet dann noch einmal den eigenen Berufsstand. Fähiger Nachwuchs lässt sich so nicht rekrutieren.