Scharia auf dem Vormarsch
Das islamische Recht, die Scharia, widerspricht der westlichen Rechtsordnung fundamental. Scharia-Justiz in Europa sollte deshalb nicht geduldet werden.
Auf den Punkt gebracht
- Politischer Islam. Radikale Gruppen werben immer offener für die Utopie eines weltumspannenden Kalifats mit der Scharia als verbindlicher Rechtsordnung.
- Jugend. An Schulen versuchen muslimische Peergroups, die Einhaltung von Scharia-Regeln insbesondere gegenüber ihren Mitschülerinnen durchzusetzen.
- Scharia. Die Scharia basiert auf der Auslegung einer religiösen Offenbarung, die alle religiösen, moralischen, sozialen und rechtlichen Normen umfasst.
- Rechtsstaat. Die religiöse Praxis ist verfassungsmäßig geschützt, doch wo die Scharia unser Rechtssystem unmittelbar berührt, ist sie mit diesem nicht kompatibel.
Seit den 1950er-Jahren hat die Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern sukzessive auch Organisationen des politischen Islam nach Europa gebracht, die in vielen Einwanderungsländern zu einer politischen Kraft geworden sind. Sie verfolgen eine Utopie von Staat und Gesellschaft, in deren Fokus die Islamisierung der neuen Heimatländer steht.
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Nach allgemeiner islamischer Auffassung war es Gott selbst, der den Menschen die Regeln der Scharia auferlegt hat, die somit unumstößlich sind. Endziel ist daher eine islamische Weltherrschaft, die sich in einem weltumspannenden Kalifat manifestiert, an dessen Spitze ein Kalif als Nachfolger des Propheten Mohammed stehen soll.
Diese Utopie impliziert auch die Einführung der Scharia als verbindlicher Rechtsordnung. Politik und Religion könnten nicht getrennt werden, weil der Islam ein alle Bereiche umfassendes Herrschaftskonzept sei, argumentieren die Befürworter. Während die im Westen aktiven Verbände der Muslimbruderschaft oder der Millî-Görüş Bewegung diese Ziele heute – anders als ihre Gründerväter und anders als die Funktionäre und Mitglieder in einigen islamischen Ländern – verschleiern und versuchen, sich unter Berufung auf religiöse und kulturelle Vielfalt als Ansprechpartner für Politik, Medien und Zivilgesellschaft in Europa zu gerieren, treten andere Organisationen in jüngster Zeit zunehmend aggressiver offen mit der Forderung nach islamischer Vorherrschaft und entsprechenden Slogans auf.
Radikale Organisationen fordern zunehmend aggressiver offen eine islamische Vorherrschaft.
Sie werben unverblümt für islamische Regeln, die Errichtung des Kalifats und die Einführung der Scharia. Im April 2024 sorgten etwa Demonstrationen der Gruppe Muslim Interaktiv, einer Tarnorganisation der 2003 in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir, in Hamburg für Aufsehen, weil dort offen nach einem Kalifat und der Scharia gerufen wurde. Zu ihrem in den letzten Jahren angewachsenen Konglomerat gehören Gruppen wie Realität Islam und Generation Islam.
Aber auch abseits von extremistischen Organisationen ist der Wunsch nach der Einführung der Scharia präsent. An Schulen versuchen muslimische Peergroups zunehmend, die Einhaltung von Scharia-Regeln gegenüber ihren Mitschülern und insbesondere Mitschülerinnen durchzusetzen.
Mit Berufung auf Religionsfreiheit wird seitens mancher Eltern und Schüler Druck auf Lehrkräfte und Schulleitungen ausgeübt, einen islamkonformen Schulalltag zu gewährleisten, Gebetsräume, Kleiderordnung, Geschlechtertrennung und Änderungen des Lehrplans betreffend. Eine aktuelle Studie der Universität Münster untersuchte Einstellungen von Studentinnen und Studenten der Islamischen Theologie und Islamischen Religionspädagogik in Deutschland, viele davon angehende islamische Religionslehrer an Schulen. Ein Viertel der Befragten befürwortet die Einführung des islamischen Rechts- system der Scharia.
Recht als religiöse Offenbarung
Die meisten Menschen assoziieren mit der Scharia grausame Körperstrafen wie Auspeitschungen, Kreuzigungen, Amputationen und Steinigungen, weil darüber häufig berichtet wird. Die nach Scharia-Recht zu bestrafenden Delikte tragen ebenfalls zum abschreckenden Ruf bei: Abfall vom Islam (Apostasie), Beleidigung des Islam oder Sex vor der Ehe. Alle drei können zu hohen Gefängnisstrafen, zu Körperstrafen oder gar zur Todesstrafe führen.
Vielfach unbekannt sind die zivil- und familienrechtlichen Scharia-Regelungen, die auf Ungleichbehandlung von Frau und Mann sowie von Muslimen und Nichtmuslimen fußen. Sie sind mit modernen Rechtssystemen nicht vereinbar.
Die Scharia ist kein kodifiziertes Gesetzeswerk. Es gibt kein Buch, auf dem „Scharia“ steht. Vielmehr handelt es sich um ein Konglomerat von Rechtsvorschriften, die aus der islamischen Überlieferung von Koran und Sunna (arabisch für Brauch, Sitte) abgeleitet werden. Das Recht basiert also auf der Auslegung einer religiösen Offenbarung. In den ersten Jahrhunderten islamischer Theologie bildeten sich, meist geographisch deutlich voneinander getrennt, mehrere Rechtsschulen heraus, die in unterschiedlicher Auslegung der Überlieferung eine umfangreiche Rechtsliteratur schufen. Jede dieser Rechtsschulen verfügt über eine eigene Scharia.
Die absolute Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Religionen ist in der Scharia festgeschrieben.
Dabei gibt es Überschneidungen, aber zum Teil auch gravierende Unterschiede. Diese betreffen sowohl die Art der Rechtsfindung als auch die konkreten rechtlichen Normen, vom Ritus über konkrete Gebote und Verbote und die Stellung der Frau bis hin zu Höhe und Art der Strafen. In jedem Fall gibt die Scharia in ihren Grundzügen die juristische Meinung der klassischen Rechtsgelehrten des 8. und 9. Jahrhunderts wieder und folgt den politischen und sozialen Interessen dieser Zeit.
Religiöse Regeln als Gesetz
Die Scharia umfasst nicht nur Öffentliches Recht, Privatrecht und Strafrecht – also das, was in demokratischen Staaten allgemein unter Rechtsordnung verstanden wird –, sondern gilt als Wegweiser, der alle Aspekte der religiösen, moralischen, sozialen und rechtlichen Normen umfasst. Sie soll das gesamte Leben der Gläubigen bis hin zu alltäglichen und intimen Verrichtungen regeln. Somit verkörpert sie die weitestmögliche Auslegung von Recht überhaupt. Die religiösen Regeln, die sich in Koran und Sunna finden oder aus ihnen abgeleitet sind, werden nicht als Ethik, sondern als Gesetz verstanden.
Die sogenannten fünf Säulen des Islam – Glaubensbekenntnis, rituelle Gebete, Fasten, Almosensteuer und Wallfahrt – sind ebenso Teil der Scharia wie andere rituelle Gebote. Die Geschlechtertrennung kann sich, genau wie das Erbrecht, das Zinsverbot oder das Gebot zur Verschleierung der Frau, auf die jeweilige Scharia berufen.
Zahlen & Fakten
Die fünf Säulen des Islam
- Das Glaubensbe-kenntnis (Schahāda): Das Glaubensbekenntnis beinhaltet die Aussage, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Mohammed sein Prophet ist. Dieses Be-kenntnis gilt als Grundlage des Islam.
- Das Gebet (Salāt): Muslime sollen fünfmal täglich beten, wobei jedes Gebet aus bestimmten Bewegungen und Worten besteht. Die in Rich-tung Mekka ausgerichteten Gebete sollen die Beziehung zu Gott stärken und Gelegen-heit zur Reflexion bieten.
- Das Fasten (Saum): Während des Monats Ramadan nehmen Muslime von Sonnen-aufgang bis Sonnenuntergang weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich. Das Fasten soll helfen, Demut und Bescheidenheit zu entwickeln.
- Die Almosensteuer (Zakāt): Muslime sind ver-pflichtet, jährlich einen Teil ihres Einkommens für die Bedürftigen zu spenden, um zu gleichmäßiger Verteilung des Wohlstands und sozialer Gerechtigkeit beizutragen.
- Die Pilgerfahrt nach Mekka (Haddsch): Pflicht für alle Muslime, die körperlich und finanziell dazu in der Lage sind. Die Pilger-fahrt findet jedes Jahr statt und beinhaltet eine Reihe von rituellen Handlungen in Mekka wie das Umrunden der Kaaba und den Aufstieg auf den nahe gelegenen Berg Arafat.
Speiseverbote, Reinigungsgebote und Kleidervorschriften werden genauso geregelt wie Strafdelikte und alle Arten von Vertragsabschlüssen. Das Verbot für Frauen, Andersgläubige zu heiraten, findet sich, wie alle anderen unterschiedlichen Rechte für Frauen und Männer, ebenso in der Scharia wie die unterschiedlichen Rechte für Gläubige und „Ungläubige“. Auch die absolute Überlegenheit des Islam und der islamischen Gemeinschaft (Umma) gegenüber allen anderen Religionen ist in der Scharia festgeschrieben.
Menschenrechte unter Vorbehalt
Die sogenannte Kairorer Erklärung der Menschenrechte, die von der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) 1990 proklamiert wurde, zeigt eindrucksvoll diesen Überlegenheitsanspruch. Unverhohlen wird schon in der Präambel festgestellt, der Umma, also der Gemeinschaft der Muslime, komme es im Einklang mit der Scharia zu, die ganze „verwirrte Menschheit“ zu führen. Ein würdiges Leben sei nur im Einklang mit der Scharia möglich. Die grundlegenden Rechte und Freiheiten des Menschen seien verbindliche Gebote Gottes, überbracht von „seinem letzten Propheten“.
Die Kairoer Erklärung versucht in ihren Artikeln, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu imitieren, stellt jedoch alle Rechte und Freiheiten unter Scharia-Vorbehalt. In Artikel 2 der Erklärung, in der es um das Recht auf Leben geht, heißt es etwa: „Es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt.“ Von Religionsfreiheit ist in der Kairoer Erklärung erwartungsgemäß nicht die Rede.
Während modernes europäisches Recht auf Grundlage der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte von Menschen entwickelt wurde (und wird) und in einem demokratischen Prozess entsteht, basiert islamisches Recht auf der Vorstellung, Gott sei alleiniger Gesetzgeber und die vom ihm gesetzte normative Ordnung dürfe von Menschen nicht geändert werden. Modernes Recht regelt grob gesagt die Beziehungen der Menschen untereinander, während die Scharia daneben – oder richtiger gesagt: in erster Linie – das Verhältnis des Menschen zu Gott regelt.
Wer nach der Scharia betet, fastet, spendet und pilgert, wird durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt.
Jene Teile der Scharia, die keinen Rechtsbereich im modernen Sinne berühren und nicht in die Rechte anderer eingreifen, sind mit europäischem Recht vereinbar, wenn nicht sogar durch die in Verfassungen festgeschriebenen Menschenrechte geschützt. Das betrifft zunächst den gesamten Bereich des Ritus und der Glaubenspraxis.
Wer nach der Scharia betet, fastet, spendet und pilgert, wird durch das Recht auf Religionsfreiheit in all diesen Handlungen geschützt. Nach der Scharia zu speisen ist ebenso erlaubt wie vegane Ernährung. Als Ausdruck der persönlichen Lebensführung geht all das weder Staat noch Gesellschaft etwas an. Handlungen, die nicht ausdrücklich verboten sind, sind erlaubt, unabhängig von den Beweggründen der handelnden Person.
Gleiches Recht für alle
Wenn Bestimmungen der Scharia allerdings unser Rechtssystem unmittelbar berühren, sind sie mit diesem in keinem Fall kompatibel. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob einzelne Punkte problematisch sind oder nicht, sondern um das grundsätzliche Problem paralleler Rechtsstrukturen. Pluralismus auf diesem Gebiet würde das Fundament unseres Rechtssystems zerstören, denn er verstieße gegen zwei Grundsätze demokratischen Rechts: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, und in gleichen Fällen gilt gleiches Recht.
Diese Grundsätze ergeben sich unmittelbar aus dem menschenrechtlichen Rahmen europäischer Rechtsordnungen, der eine Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht, von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit verbietet. Um eine Ungleichbehandlung, würde es sich aber handeln, wenn für Muslime etwa im Familienrecht die Scharia gälte. Vor dem Gesetz wären nicht mehr alle gleich, der rechtliche Status einer Person hinge von ihrer Herkunft oder Religion ab.
Ein solches Sonderrecht schließt aus und trennt die Gesellschaft in willkürlich definierte Gruppen – unabhängig davon, ob die Betroffenen das befürworten oder ablehnen. Sonderrecht ist seinem Wesen nach kollektivistisch und kann, wie die Geschichte gezeigt hat, in extremen Fällen zum Ausschluss ganzer Gruppen aus der Gesellschaft genutzt werden. Und wie sollten Frauen geschützt werden, die von ihren Familien unter Druck gesetzt werden, eine Ehe- oder Sorgerechtsentscheidung eines Scharia-Gerichts zu akzeptieren?
2010 berichtete die Süddeutsche Zeitung über die Etablierung illegaler Scharia-Gerichte in deutschen Großstädten, an denen im Schutz einzelner Moscheen „Rechtsgelehrte“ als sogenannte „Streitschlichter“ Recht sprechen – unter bewusster Umgehung der deutschen Justiz und beileibe nicht nur auf das Zivilrecht beschränkt. Auf die Frage, warum Muslime mitten in Deutschland ein eigenes Rechtssystem aufbauen, antwortete die damalige Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig schlicht: „Weil wir sie lassen.“
Conclusio
Unvereinbarkeit. Modernes europäisches Recht wird demokratisch vom Menschen gesetzt, islamisches wird als von Gott gesetzt betrachtet und ist nicht verhandelbar. Frauen, Kinder und Nichtmuslime sind rechtlich schlechter gestellt.
Zwang. Großbritannien legalisiert islamisches Familienrecht. Schariagerichte sind legal, die Urteile können angefochten werden. Frauen aus konservativen Milieus ist der Berufungsweg oft durch sozialen Druck versperrt.
Menschenrechte. Ein paralleles Rechtssystem würde Menschen ungleich behandeln. Das würde das Fundament unseres Rechtssystems zerstören und die Islamisierungsvorstellungen fundamentalistischer Organisationen befördern.