Die sanften Extremisten

Islamisten setzen nicht immer auf Gewalt. Manche Bewegungen versuchen sogar, auf demokratischem Weg ihre Ziele zu erreichen.

Das Bild zeigt einen betenden Moslem in einer Moschee. Das Bild illustriert einen Artikel darüber, dass nicht alle Muslime Extremisten sind und auf Gewalt setzen, so versuchen manche Bewegungen sogar, auf demokratischem Weg ihre Ziele zu erreichen.
Beim Islamismus steht nicht der Mensch, sondern Gott und seine religiösen Gebote im Mittelpunkt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Extremismus. Islamisten versuchen, die liberal-demokratische Rechts- und Gesellschaftsordnung durch religiös begründete Werte und Normen abzulösen.
  • Politischer Islam. Zu den ältesten Gruppierungen dieser breiten Bewegung gehören die ägyptische Muslimbruderschaft und die türkische Millî Görüş.
  • Demokratie. Beiden Bewegungen fehlt der grundlegende Leitgedanke einer Demokratie: nicht der Mensch, sondern Gott dient als Maßstab aller Dinge.
  • Einfluss. Taliban-Sympathisanten und salafistische Propagandisten verbreiten eine Weltsicht, die auch der religiösen Pluralität im Islam selbst gefährlich wird.

Der Sommer 2024 war alles andere als ruhig. Islamistische Attentatspläne, deren Vereitlung oder Durchführung, hinterlassen ein Gefühl der Verunsicherung. Was in der öffentlichen Diskussion untergeht: Der nicht gewaltbereite Islamismus ist zwar weniger sichtbar als islamistischer Terror, aber für die offene Gesellschaft dennoch gefährlich.

Religiös motivierter politischer Extremismus lehnt eine liberal-demokratische Rechts- und Gesellschaftsordnung vollständig oder in Teilbereichen ab und versucht sie durch religiös begründete Werte und Normen abzulösen. Wenn man also vom Politischen Islam oder auch vom Islamismus spricht, sind damit jene ideologischen Strömungen gemeint, die in einem gewissen Sinne den Lauf der Zeit zurückdrehen wollen: Nicht der Mensch, sondern Gott und seine religiösen Gebote stehen hier im Mittelpunkt und bilden den Bezugspunkt allen menschlichen und gesellschaftlichen Handelns.

Islamistische Vielfalt

Das Spektrum des politischen Islam ist breit gefächert und umfasst Bewegungen und Strömungen, die auch in Konkurrenz zueinander stehen können. Eine der ältesten Bewegungen ist die im Ägypten der 1920er-Jahre gegründete Muslimbruderschaft. Deren Gründer Hasan al-Bannā setzte sich dafür ein, dass der Islam alle Aspekte des Lebens umfassen sollte.

Ähnlich auch die ideologischen Grundlagen der türkischen Millî Görüş: Deren Gründervater Necmettin Erbakan versuchte im Laufe seiner politischen Laufbahn wiederholt, islamistische Parteien gegen den damals vorherrschenden Kemalismus zu positionieren. Sowohl die Gründung der Muslimbruderschaft als auch jene der türkischen Millî Görüş in der Türkei der 1960er-Jahre sind auch als Gegenreaktionen auf die Säkularisierung der beiden Staaten im frühen 20. Jahrhundert zu verstehen.

Beide Bewegungen setzen auf einen gewaltfreien, legalistischen Weg der Zielerreichung. Dennoch betrachtet die Muslimbruderschaft den Einsatz von Gewalt unter bestimmten Umständen als legitim. Das zeigt ein Blick in die Geschichte der Bewegung ebenso wie beispielsweise einer auf die Hamas, die sich der Ideologie der Bruderschaft zuordnet.

Nicht der Mensch, sondern Gott und seine religiösen Gebote stehen im Mittelpunkt islamistischer Ideologie.

Der Widerspruch der Muslimbruderschaft zur grundrechtsbasierten Gesellschaftsordnung ist wesentlich schwieriger festzumachen als bei gewaltbereiten Islamisten. Gerade deshalb ist die Frage, wie rechtsstaatlich begründete Demokratien mit Akteuren des Politischen Islam umgehen sollen, von besonderer Bedeutung. Sowohl die Muslimbruderschaft als auch Millî Görüş haben in der Vergangenheit Parteien gegründet und sich demokratischen Wahlen gestellt, um am politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsprozess der jeweiligen Staaten teilzunehmen. Jedoch fehlt den islamisch argumentierten Konzepten der Demokratie deren grundlegender Leitgedanke: Ihnen dient nicht der Mensch, sondern Gott als Maßstab aller Dinge.

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Zahlen & Fakten

Religiöser Extremismus

An dieser Stelle sei auf das Beispiel einer der älteren Moscheen in Wien verwiesen, deren Imam über Jahre hinweg problematische Predigtinhalte, die ideologisch an die Muslimbruderschaft anknüpfen, vermittelte. Zwar wurde in keiner der im Rahmen einer Studie der Dokumentationsstelle Politischer Islam analysierten Predigten zu Gewalt in Wien oder Österreich aufgerufen (im Gegenteil, Österreich wurde als Land, in welchem man frei leben könne, gelobt), aber zum Beispiel in Bezug auf eine mögliche liberale Regierung in Ägypten wird implizit vermittelt, dass man sich eine Umsetzung von Gottes Willen erwarte, um eine liberale Regierung unterstützen zu können:

„Wenn die Liberalen ... von uns verlangen, dass wir die Straßen kehren für Ägypten, dass wir die Wände streichen, dass wir die Scharia implementieren, dann werden wir in ihrem Dienst stehen! Wir wollen, dass Ägypten von achtbaren Leuten regiert wird und auf eine Weise, die Gott wohlgefällig ist!“

Sympathisanten der Taliban betreiben Lobbyarbeit in der afghanischen Community in Österreich.

Die in Deutschland angesiedelte Islamische Gemeinschaft Millî Görüş wiederum schafft es bis heute nicht, sich kritisch mit dem antisemitisch durchdrungenen Weltbild Erbakans auseinanderzusetzen. Die ebenfalls aus der Türkei kommende Bewegung der Grauen Wölfe (Ülkücü) macht gleich gar keinen Hehl aus ihrer völkisch-islamistischen Haltung, die das Türkentum allen anderen Völkern – auch innerhalb des Islam – als klar überlegen ansieht und darin einen Herrschaftsanspruch über die ehemaligen Gebiete des Osmanischen Reichs begründet. Der politische Islam der Zwölfer-Schia – diese Lehre umfasst weltweit rund 80 Prozent aller Schiiten – versucht über „Soft Power“-Institutionen wie Kulturzentren oder die Errichtung von Moscheen einen Revolutionsexport iranischer Prägung.

Auch Sympathisanten der Taliban betreiben Lobbyarbeit innerhalb der afghanischen Community in Österreich. Salafistische Missionierungsbewegungen wiederum bemühen sich mehrheitlich ohne Gewalt um die doktrinäre Reinheit des islamischen Glaubens, verbreiten aber eine antidemokratische, antiliberale Weltsicht, die auch der religiösen Pluralität im Islam selbst gefährlich wird.

Brandbeschleuniger Naher Osten

Während die hier exemplarisch genannten Bewegungen und ihre Ableger in Form von Vereinen oder Moscheegemeinden teilweise bereits seit Jahrzehnten in Österreich und Europa präsent sind, konnten sich in den vergangenen Jahren besonders im Online-Bereich Akteure etablieren, die über Social-Media-Plattformen Anhänger generieren. Dabei wird ein rhetorischer Konfrontationskurs zur Mehrheitsgesellschaft gefahren, der sich auf Identität, vermengt mit Religion, fokussiert. Provokante Inszenierungen sollen die meist jüngeren Follower mit den eigenen ideologischen Narrativen füttern. Der demokratische Rechtsstaat wird als unislamisch und diskriminierend dargestellt.

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Militärschlag Israels hat sich diese Dynamik im Internet noch einmal massiv verstärkt: Der Nahostkonflikt polarisiert, und mit der bewussten Instrumentalisierung des Leids der Menschen vor Ort sollen gerade junge Menschen gezielt abgeholt werden.

Die islamistische Agenda der Hamas wird dabei entweder bewusst ignoriert oder in Anleihe an den Postkolonialismus in einen Kampf gegen koloniale Ungerechtigkeit und Unterdrückung umgedeutet. Damit finden die diversen islamistischen Akteure nicht nur Gehör unter jungen Muslimen, die seit Monaten durch die Bilder aus Gaza emotionalisiert sind, sondern auch an den Universitäten unter nichtmuslimischen jungen Menschen, die sich aktivistisch engagieren (wollen) und im Nahostkonflikt ein entsprechendes Anliegen zu finden glauben.

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Conclusio

Islamismus. Strömung des Islam, in der nicht der Mensch Bezugspunkt des menschlichen und gesellschaftlichen Handelns ist, sondern Regeln des Zusammenlebens direkt von Gott und dessen religiösen Geboten abgeleitet werden.
Politik. Bewegungen wie Millî Görüs ̧ und die Muslimbruderschaft setzen primär auf einen gewaltfreien, legalistischen Weg, um ihre Ziele zu erreichen. Allerdings schließt die Muslimbruderschaft unter bestimmten Umständen Gewalt nicht aus.
Gefahr. Islamisten diskreditieren den demokratischen Rechtsstaat als diskriminierend. Der nicht gewaltbereite Islamismus ist zwar weniger sichtbar als islamistischer Terror, für die offene Gesellschaft aber nicht minder gefährlich.

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