Sagt endlich „Nein“ zum Terror!
Islamistische Attentate, Hetze gegen Ungläubige: Muslimische Communitys tun sich schwer damit, Terror offen zu verurteilen. Damit schaden sie vor allem sich selbst.
Für viele Muslime bedeutet Kritik an radikalisierter Religion oder an Missständen innerhalb der eigenen Gemeinschaft eine persönliche Kränkung. Reflexhaft wird solche Kritik abgelehnt anstatt reflektiert. Die Furcht vor Reflexion ist tief verwurzelt in Erziehungsmethoden und patriarchalen Strukturen. Letztere führen vielfach zu Minderwertigkeitsgefühlen und zu Unmündigkeit im Umgang mit Autoritäten und Glaubensfragen.
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Vor zwanzig Jahren kam ich nach Deutschland, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Als Palästinenser in Israel hatte ich zwar viele Chancen für Bildung und Beruf. Aber das gesellschaftliche Klima war oft enorm angespannt, und ich stand unter dem Einfluss eines islamistischen Imams. Ich wollte eine Zukunft in Freiheit finden, mit Wohlstand und Sicherheit. Von Deutschland wurde geschwärmt, dorthin machte ich mich auf den Weg.
Allerdings verlief meine Integration holprig. Bis ich emotional in diesem Land ankam, war es ein langer Weg. Immerhin war ich jung, neugierig, offen. Ich wollte lernen, ich wollte Geld verdienen, eine Frau finden. Dass eine Ehefrau auch „Partnerin“ bedeutet, musste ich erst verstehen. Dass ein Chef, eine Chefin Fehler zugeben kann, musste ich erst erfahren. Dass Väter, Söhne, Brüder nicht anordnen dürfen, was Mädchen und Frauen tun oder lassen, fand ich anfangs befremdlich und auch bedrohlich.
Die Entdeckung der Freiheit
Im Lauf der Jahre, auch durch das Studium der Psychologie wurde mir klar, dass Freiheit im Kopf beginnt. Ich musste mich lösen von den Überzeugungen meines Vaters, von den Zwängen meiner Herkunftsgesellschaft, von der ständigen Kontrolle und den Schuldgefühlen, die uns durch einen „strafenden Gott“ als Kinder eingetrichtert wurden. Ich lernte, dass kritische Fragen erlaubt sind, dass ich frei meine eigene Meinung bilden und sie laut aussprechen darf, dass kritisches Denken und Diskutieren Freude macht, mit Männern wie mit Frauen.
Die Freiheit des Denkens und Fühlens ist die Essenz eines guten Lebens, sie ist unerlässlich für Demokratien, für Frieden. So viel begriff ich mit der Zeit. Für alte Freunde arabischer Herkunft aus den ersten Tagen in Deutschland war das zu viel Freiheit.
Der Vater befiehlt, Frau und Kinder gehorchen. Eigene Meinungen gelten als unerlaubter Aufstand.
Viele wandten sich ab, etwa weil ich ein Foto postete, auf dem vor mir ein Glas Bier stand, oder wenn ich den Mangel an Frauenrechten in islamischen Communitys kritisierte. Diese Freunde warfen mir vor: „Du verkaufst deine Religion, deine Nation, deine Identität!“ Außerdem würde Kritik am Islam den Leuten, die rechtsradikale Parolen skandieren, in die Karten spielen. Unvergessen das Gespräch mit einem ehemaligen Freund, der mir voraussagte: „Sei du nur für Freiheit und Gleichberechtigung – du wirst aufwachen, wenn deine Tochter später mit einem Freund allein in ihr Zimmer geht! Spätestens dann bist du wieder einer von uns.“
Egal wie integriert oder aufgeklärt wir Muslime seien, „unsere Gene“ würden bestimmte Haltungen nicht erlauben, glaubte er. In diesen Genen sah er unsere Identität fixiert. Wie die patriarchale Vaterrolle scheint auch der Autoritarismus in unserer Identität verankert, ebenso wie der Antisemitismus und die Unterdrückung von Frauen, die strenge und gewalttätige Erziehung von Kindern und das antidemokratische Ressentiment. Tatsächlich?
Kritik als Bedrohung
Nicht nur ich bin überzeugt, dass solche Fixierungen und Dogmen durch historische Prozesse entstanden sind und durch neue, aufgeklärte Prozesse abgelöst werden können, um Platz zu machen für angenehmere, glücklichere Zeiten. Immer mehr Muslime wünschen sich das, auch wenn viele es noch nicht offen aussprechen.
Manche der Leute, die meine Positionen ablehnen und meine Bücher kritisieren, beschimpfen und bedrohen mich auch. Seit fast einem Jahrzehnt lebe ich deshalb überwiegend unter Polizeischutz. Nach dem 7. Oktober 2023, nach dem entsetzlichen Überfall der Hamas auf Israel, hat sich die Situation noch dramatisch verschärft.
Warum aber ist Kritik am politischen Islam, an radikalisierten Muslimen, an Antisemitismus oder Frauenfeindlichkeit in muslimischen Communitys so bedrohlich? Aggressive Reaktion auf Kritik zeigt überdeutlich, wie bitter nötig es ist, sich mit verkrusteten Inhalten auseinanderzusetzen. Hinter der Furcht vor Kritik und der Wut auf die Kritiker steckt die Angst, die eigene Verletzlichkeit und Unsicherheit könne sichtbar werden. Traditionelle, autoritäre Erziehungsstile schrauben in Familien die Rollen fest. Der Vater befiehlt, Frau und Kinder gehorchen. Eigene Meinungen und Gefühle gelten als unerlaubter Aufstand. Die Familie und die Gruppe stehen an oberster Stelle, Individualismus ist bedrohlich.
Erziehung durch Angst
Primäres Ziel der Erziehung ist es, die individuelle Persönlichkeit zu brechen, Kindern mit Angst vor Schlägen und Ausgrenzung Gehorsam und Respekt vor Autoritäten beizubringen. Familie, Gruppe, Glaube: Das ist das Wichtigste! Eigene Bedürfnisse zu äußern, sich von den Eltern zu lösen, das gilt als antisozial. Stärke erfahre ich ausschließlich durch die Zugehörigkeit zur Familie oder zum Kollektiv. Als Einzelperson bin ich unsicher und so gut wie wertlos. Kritik an den Prinzipien der Gruppe wird als Angriff auf das Gruppen-Ego und als Angriff auf das eigene, instabile Ego wahrgenommen.
Wer nicht gelernt hat, sich zu hinterfragen, erlebt Kritik – besonders, wenn sie berechtigt klingt – als Angriff. Der Angriff verursacht Angst, da er eine Schwäche, eine Blöße offenlegen kann. Schwäche muss mit Aggression abgewehrt werden. Man fährt die Krallen aus, um sich zu schützen.
Geschützt werden soll, was vermeintlich einzig den Schutz garantiert: die Autorität des Vaters, die Autorität von Allah. Beide sind miteinander verbunden. Sich über die Schläge des Vaters zu beklagen ist wie Gotteslästerung, erklärte mir einmal ein Mediziner, der aus meiner Kleinstadt stammt.
Freie Lust am eigenen Körper, an Verliebtheit und Liebe führt direkt in die Hölle.
Traditionell wird der Islam als Offenbarungsreligion verstanden. Seine Texte gelten als heilig, unmittelbar von Allah diktiert, für alle Menschen und für alle Zeiten gültig. Wer dieses Islamverständnis vertritt, darf die Texte nicht in ihren regionalen und historischen Kontext betten und keineswegs kritisch lesen. Diese Art der Buchstabengläubigkeit befördert im Kern eine Unmündigkeit, bei der Verantwortung „nach oben“ abgegeben wird. Die da oben – also Allah, sein Prophet Mohammed, der Koran, die Imame – bestimmen und richten. Wir da unten dürfen nur gehorchen, verehren, glauben und die Hölle für Sünder fürchten.
Allerdings haben die frommen Gesetze ohne Zweifel spezifische Orte und Zeiten ihrer Entstehung. Würde ich beispielsweise am Polarkreis leben und der Ramadan fiele auf den Sommer, hätte ich ein Problem mit dem Fasten von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang, denn an manchen Tagen gibt es weder das eine noch das andere. Da müsste man verhungern.
Mit am stärksten verdammt wird selbstbestimmte Sexualität. Kaum etwas ist mächtiger und prägender für die Individualität als Sexualität, Begehren, Lust. Diese Gefühle müssen tabuisiert und kontrolliert werden, soll autoritäre Herrschaft funktionieren. Freie Lust am eigenen Körper, an Verliebtheit und Liebe führt direkt in die Hölle. Auch Freundschaften zwischen Männern und Frauen sind nicht zulässig.
Sexualität ist, wie im früheren – und teilweise bis heute im fundamentalistischen – Christentum, „Satans Werk“, um uns Menschen zu manipulieren. Solche Dogmen vermitteln mir, dass mein eigenes, intimes Lebendigsein kein Recht hat zu existieren. Es soll ausgeblendet und allein für den frommen Zweck der Ehe und Fortpflanzung aktiviert werden.
Verlust der Identität
Wer als Mann mit solchen Vorstellungen groß wurde und in ein Land wie Deutschland kommt, sieht sich an jeder Ecke von Werbung, von leger gekleideten Frauen, von Paaren im Bekanntenkreis provoziert und verunsichert. Wie kann er entspannt durch eine Innenstadt schlendern, unverkrampft mit Arbeitskollegen umgehen, seine Nachbarin begrüßen oder der Lehrerin seiner Kinder die Hand geben, wenn all das eine Gefahr für ein frommes Leben darstellt?
Für Frauen gilt Ähnliches. Sie sind ebenfalls verunsichert und vielleicht sogar schockiert vom Verhalten der „ungläubigen“ Schwestern. Eventuell sind sie aber auch neugierig geworden und angesteckt von der Freiheit. Unter Migranten ist die Angst, dass die Tradition, das Gewohnte verloren gehen könnte, ohnehin meist groß. In der Diaspora tendieren autoritär strukturierte Familien und Communitys oft dazu, aus Angst noch geschlossener und rigider zu werden als im Herkunftsland. Manche Muslime radikalisieren sich erst im Westen zu Terroristen.
Muslimisch geprägte Gruppen sollten Kritik als Inspiration begrüßen und damit konstruktiv umgehen.
Doch solange wir als Muslime in der Moderne nicht mündig werden, solange wir nicht in der Lage sind, über unsere Begriffe von Gott und Religion zu debattieren, Terror ohne Relativierung zu verurteilen, bleibt die Stagnation. Unsere Devise sollte lauten: „Selbstkritik? Ja bitte!“ Wir müssen lernen, religiöse Texte im Kontext zu verstehen und darüber zu debattieren, um neue Wege im Glauben zu finden. Solange das nicht geschieht, werden muslimische Communitys ein Problem haben – und oft auch ein Problem bleiben für die Demokratien, in denen sie leben.
Die Mündigkeit des Einzelnen
Einen Glauben kann und darf jeder Mensch haben. Aber niemand darf die Verantwortung für sein eigenes und das Leben anderer mit der Begründung abgeben, er sei gläubig und folge nur einer jahrhundertealten Schrift. In Deutschland zu leben, bedeutet mir unendlich viel. Auch weil ich weiß, was es heißt, in einer autoritären, dogmatischen Community zu leben. Ich kenne das Gegenteil.
Deshalb verteidige ich diese Werte jederzeit, auch in unangenehmen Situationen. Muslimisch geprägte Gruppen sollten Kritik als Inspiration begrüßen und damit konstruktiv umgehen. Wir werden stärker, offener und selbstbewusster, wenn wir als Individuen mündiger werden.