„Erhobener Zeigefinger kommt nicht gut an“

Die EU plädiert für freien Handel und Wettbewerb, will aber jedem Geschäftspartner ihre moralischen Vorstellungen aufzwingen, kritisiert der deutsche Ökonom Stefan Kooths. Er wünscht sich offenere Debatten über die Klimapolitik, das Gendern, die Kernenergie und die Rolle Europas in der Welt.

Foto von Stefan Kooths. Der Ökonom sitzt im Anzug vor einer Bücherwand und hält die Hände vor sich in einer erklärenden Geste.
Stefan Kooths im Juni 2025 beim Austrian Institute in Wien. © Gregor Kuntscher

Wir Europäer sind falsch abgebogen, stellt Stefan Kooths, Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kiel Institut für Weltwirtschaft, fest. Der Ökonom plädiert für weniger Bürokratie, mehr marktwirtschaftliche Prinzipien und eine Rückbesinnung auf die Kernaufgaben des Staates und der Union. Die gute Nachricht: im Gegensatz zu Autokratien haben westliche Demokratien einen „Autokorrekturmodus“.

Der Pragmaticus: Sie haben in Ihrer Laudatio auf den argentinischen Präsidenten Milei, der mit seiner Kettensäge Furore macht, gesagt: „Einem überwucherten Garten würde man auch nicht mit einem Skalpell beikommen.“ Bleiben bei solchen Rodungen nicht die sozial Schwachen übrig?

Stefan Kooths: Die Kettensäge kommt ja nicht gegen die Armen und Bedürftigen zum Einsatz, sondern gegen diejenigen, die sich den Staat zur Beute gemacht haben. Es gab in Argentinien eine regelrechte Sozialindustrie, die sich zwischen die Bedürftigen und den Staat geklemmt und über die Jahrzehnte durchgesetzt hat, dass die Gelder über diese Strukturen an die eigentlichen Empfänger gelotst wurden – und die dabei natürlich einen Teil für sich behalten hat. Von daher ist diese Kettensäge alles andere als schmerzhaft für die Ärmeren, dafür umso mehr für die, die sich in diesem zwischenstaatlichen Bereich eingerichtet haben. 

Ähnlich wie Milei in Argentinien wütete Elon Musk in den USA. Ist die Stimmung gekippt?

Stefan Kooths: In der westlichen Welt weht derzeit ein Wind of Change. Das hat mit der Regulierungsdichte zu tun, die viele nicht mehr ertragen. Zudem spielt eine Rolle, dass sich die Diskursräume sehr stark verengt haben. Denken Sie an die Pandemie, in der es einen großen Druck gab, sich sehr schnell auf eine Meinung zu einigen. Das ist in einer neuen Situation auf unbekanntem Gelände keine gute Strategie. Gesellschaftspolitik ist kein K.-o.-Kampf. Typischerweise profitieren wir von offenen Diskursen. Daher kommt nun auch diese Gegenbewegung.

Was sind die Gründe für diesen verengten Diskursraum?

Stefan Kooths: Es wurde sehr viel mit Einschüchterung gearbeitet, indem man Argumente mit guten oder schlechten Absichten verknüpft hat. Und das scheint mir bei weiten Teilen des bürgerlichen Spektrums dafür zu sorgen, dass man lieber nichts sagt. Es gibt ja generell das Phänomen der Schweigespirale: Menschen nehmen sehr stark Rücksicht darauf, was ihrer Meinung nach die Mehrheit denkt. Und wenn man den Eindruck hat, dass man von dieser Mehrheit abweicht, dann hält man sich eher zurück. Einer sehr lauten und sehr aggressiven Minderheit ist es gelungen, den Eindruck zu erwecken, sie stünde für die Mehrheit. Diese Dominanz kollabiert nun.

Denken Sie nur an die Diskussionen über das Gendern, die Kernenergie oder generell an die Klimapolitik. Da gibt es überall offene Fragen, die diskutiert werden müssen. Aber in der Realität machte man sich allein schon mit dem Stellen von Fragen verdächtig. Das Gute ist, dass die westliche Gesellschaft autokorrekturfähig ist. Autoritäre Regime sind das nicht, weil ein Positionswechsel mit Gesichtsverlust verbunden wäre. In demokratischen Gesellschaften könnten die Gesichter einfach ausgewechselt werden.

Schlägt das Pendel auch in der Europäischen Union zurück?

Stefan Kooths: Ich sehe in der EU-Kommission eine gewisse Gegenbewegung. Sie versucht das natürlich nicht so deutlich zu sagen, aber sie entkernt schon größere Teile der Bürokratiemonster, die sie bis vor kurzem nicht als Problem, sondern als Lösung angesehen hat.

Man kann ökonomische Aktivität nicht per se als gut oder böse einordnen.

Halten Sie das für ernst gemeint, oder geht es hauptsächlich um Marketing?

Stefan Kooths: Das werden wir sehen. Was bis jetzt angekündigt wurde, führt eigentlich schon diese Regulierungen ad absurdum. Dann kann man sie irgendwann auch ganz beerdigen. So hat sich beispielsweise die Taxonomie nun wirklich als in sich widersprüchlich erwiesen. Das war von vornherein klar, denn man kann ökonomische Aktivität nicht per se als gut oder böse einordnen. Und das ist ja die Idee dahinter – gewünschte ökonomische Aktivität versus unerwünschte. Da sollte etwa der Rüstungsbereich zum Schmuddelkind der Wirtschaft deklariert werden. Und genau dieselben Leute, die das bis zum Februar 2022 noch proklamiert haben, fragen jetzt: Wo bleiben denn die Panzer von Rheinmetall? Die müssten ja längst an der Front sein. Das zeigt, wie absurd das Ganze ist. 

Die gesamte Industriepolitik der EU sollte man meines Erachtens beerdigen.

Erklären Sie bitte Taxonomie und ihre Wirkung.

Stefan Kooths: Die Taxonomie ist der Versuch, Industriepolitik über Finanzierungskonditionen zu betreiben, indem man bestimmte unterschiedliche Branchen oder Investitionsvorhaben danach beurteilt, ob sie als nachhaltig gelten, ob sie irgendwie erwünscht oder unerwünscht sind. Von diesem Beauty Contest hängen die Konditionen für die Finanzierung ab. Und genau das ist ein eklatantes Missverständnis darüber, wie marktwirtschaftliche Systeme arbeiten. Wenn das funktionieren würde, dann würden auch Zentralverwaltungswirtschaften funktionieren – und wir wissen alle, dass sie das nicht tun. Weil man eben auf die Information, die sich in Marktpreisen ausdrückt, nicht verzichten kann. Im Preis wird das Wissen, das alle Akteure haben, in einen gemeinsamen Prozess eingespeist. Und das lässt sich eben nicht künstlich durch Batterien von bürokratischen Kennzahlen ersetzen.

Welche Akzente der neuen EU-Kommission stechen aus Ihrer Sicht bisher hervor? 

Stefan Kooths: Derzeit scheint sie zu erkennen, dass wir mit dem bisherigen Kurs ein großes Problem haben. Das ist ja schon mal etwas. Wir können die Ziele, die wir uns vornehmen, nicht dadurch erreichen, dass wir der Wirtschaft immer mehr Berichtspflichten auferlegen, sondern wir müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass ökonomische Aktivität wieder attraktiver wird. Wir als Europäer sollten aufhören, unsere Handelspolitik immer mit dem erhobenen Zeigefinger zu verknüpfen, nach dem Motto: Wer mit uns Handel treiben will, der muss erst alle möglichen Standards erfüllen, die wir vorgeben.

Vieles von dem muss man anderen Ländern nicht vorschreiben. Das ist eine Frage des Wohlstands, den man sich erarbeitet hat. Je höher man auf der Wohlstandsleiter klettert, desto eher kann man auch hohe Arbeitsstandards erfüllen. Unsere waren vor 200 Jahren auch erbärmlich. Nicht, weil wir das damals nicht erkannt hätten, sondern weil unser Wohlstand nicht mehr hergab. Indem wir Länder auf einem niedrigeren Entwicklungsstand in unsere Wertschöpfungsketten eingliedern, ermöglichen wir ihnen, schneller aufzusteigen.

Und wie beurteilen Sie die Rolle der EU als globaler Klimaschutzvorreiter?

Stefan Kooths: Es hat keinen Sinn, wenn Europa sich bestimmte Ziele unabhängig davon vornimmt, was die übrige Welt macht. Das wäre dann ein reines Deindustrialisierungsprogramm, das den globalen Emissionszielen gar nichts bringt. Klimapolitik scheitert nicht an der Ökonomie, sondern an der Politik – insofern, als es keinen globalen Konsens darüber gibt. Wir haben zu sehr die Augen davor verschlossen, dass Klimapolitik etwas mit unterschiedlichen Entwicklungsniveaus zu tun hat. Konsumeinschränkungen sind in Indien, China oder in afrikanischen Ländern viel schwieriger durchzusetzen als im Westen. Und auch bei uns ist Klimapolitik nicht durchgängig mehrheitsfähig, wie wir beispielsweise in den USA sehen. Darauf muss man einfach Rücksicht nehmen.

Wir werden Atomenergie so oder so nutzen.

War das Abdrehen der Kernkraft in Deutschland mehrheitsfähig?

Stefan Kooths: Da gab es eine beachtliche Umkehr der Mehrheitsmeinung. Mittlerweile herrscht mehrheitlich die Bereitschaft, Kernkraft in Deutschland weiter zu nutzen. Der energiepolitische Status quo ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Keiner wird in ein Land investieren, das seine Energiekosten nur mit Subventionen halbwegs auf das internationale Niveau drosseln kann. Denn jeder weiß: Das ist ein Fass ohne Boden. Wir werden so oder so Atomenergie nutzen – entweder die, die in unseren Nachbarländern produziert wird, oder eben die, die wir selbst erzeugen.

Sollte sich die Union auf Kernkompetenzen zurückziehen – beispielsweise den Binnenmarkt –, um schlagkräftiger zu werden?

Stefan Kooths: Unbedingt. Und vor allen Dingen sollten wir den Diskurs wieder sachlicher führen. Es gab hier die dominante Meinung, dass alles, was die Kompetenzen der EU stärkt, irgendwie proeuropäisch sei, und alles, was ihre Kompetenzen in Frage stellt, antieuropäisch. Das ist schon sehr seltsam. Es wird in bestimmten Bereichen sicherlich sinnvoll sein, die EU zu stärken. Und in anderen Bereichen profitieren wir alle miteinander davon, dass wir weiterhin im Wettbewerb der Systeme leben, von dem wir ja auch gemeinsam lernen können.

Ich bin beispielsweise ein großer Verfechter des Binnenföderalismus in Deutschland. Niemand käme auf die Idee, jemanden als „antideutsch“ zu bezeichnen, der die Länder-Kompetenzen stärken möchte. Aber „antieuropäisch“ – diese Kategorie gibt es komischerweise. Beim Binnenmarkt sind wir immer noch nicht da, wo wir eigentlich längst sein wollten, gerade im Dienstleistungsverkehr. Auch die Entsendung von Arbeitskräften ist noch immer sehr bürokratisch. Da müsste man deutlich ambitionierter sein. Aber wenn wir die EU überfrachten, schwächen wir sie.

Welche relevanten Politikfelder der Europäischen Union sollten denn gestrichen werden? 

Stefan Kooths: Die gesamte Industriepolitik sollte man meines Erachtens beerdigen. Die EU hat aus guten Gründen die Alleinkompetenz für die Außenhandelspolitik. Das ist vernünftig. Aber dann soll bitte auch Außenhandelspolitik gemacht werden, statt unter diesem Vorwand irgendwelche außenpolitischen Ziele zu verfolgen. Das verträgt sich nicht gut und kommt auch in der übrigen Welt nicht gut an, wenn wir immer mit dem erhobenen Zeigefinger durchs Land laufen. Im Übrigen werden wir auch unglaubwürdig, wenn wir einerseits für offene Märkte und Wettbewerb plädieren und zugleich jedem, der mit uns Handel treiben will, unsere Bedingungen aufzwingen wollen. Dann kann man schlecht ein anderes Land tadeln, das seine Märkte abschottet. 

Ist das auf Eis liegende EU-Abkommen mit der südamerikanischen Zollunion Mercosur so ein Fall, bei dem der Außenhandel mit anderen Anliegen vermengt wird?

Stefan Kooths: Genau. Da stehen wir uns als Europäer selbst im Weg, indem einige Länder, die sehr starke Agrarinteressen haben, den freien Handel für alle übrigen blockieren. 

In Deutschland wurde die Schuldenbremse gelockert, um mehr Spielraum für Verteidigung und Infrastruktur zu haben. Ein vernünftiger Schritt?

Stefan Kooths: Das ist natürlich Augenwischerei, denn wir brauchen die Verschuldungsspielräume dafür, dass wir nicht in anderen Bereichen sparen müssen. Die Idee des ersten Sondervermögens für die Bundeswehr hat mir noch eingeleuchtet. Große Umschichtungen von einem Haushaltsjahr zum anderen sind kaum zu machen. Nur dann muss natürlich die mittelfristige Ausgabenstruktur erkennbar umgebaut werden. Das hat man nicht vermocht – bei einer Staatsausgabenquote von 50 Prozent, die wir in diesem Jahr erreichen werden.

Es ist schwer zu verstehen, warum man nicht innerhalb von fünf Jahren in der Lage sein soll, zwei Prozentpunkte der Staatsausgaben umzuschichten. Die äußere Sicherheit ist eine Kernaufgabe des Staates. Wenn nun der Staat sagt, die kann ich leider aus meinen laufenden Mitteln nicht mehr finanzieren, dann hat er sich an anderer Stelle ganz klar übernommen. 

Wird Deutschland zur Belastung für den Euro?

Stefan Kooths: Den reformierten Fiskalregeln in der EU hat Deutschland den Start nun noch schwerer gemacht. Die EU-Kommission hat schon gesagt, dass sie die höhere Verschuldung irgendwie akzeptieren wird. Es kommt jetzt mehr Druck auf die Finanzmärkte, für fiskalische Disziplin zu sorgen. Und damit kommt auch die EZB stärker unter Druck. Wir tun uns hier keinen Gefallen. 

Wenn Anleger nervös werden, ist die Gefahr groß, dass wir in eine Schuldenkrise schlittern.

Wäre auch ein neuerliches Aufflackern der Eurokrise aus Ihrer Sicht denkbar?

Stefan Kooths: Es kommen jetzt einige Länder in Bedrängnis: Frankreich zum Beispiel muss einen ganzen Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung zusätzlich für Zinsen zahlen, weil die Risikoaufschläge auf seine Staatsanleihen höher liegen als in Deutschland. Wenn jetzt die Anleger nervös werden und einzelnen Mitgliedsländern der Eurozone nicht mehr wirklich über den Weg trauen, ist die Gefahr groß, dass wir in eine neue Schuldenkrise schlittern. Das würde sich sofort auf das Bankensystem niederschlagen, weil wir diesen Staaten-Banken-Konnex nicht wirklich unterbrochen haben. 

Weil Banken hohe Bestände an Staatsanleihen in den Büchern haben und somit von einem Kollaps unmittelbar betroffen wären?

Stefan Kooths: Bei jedem anderen Schuldner gibt es ein Verbot des Klumpenrisikos. Da schaut die Finanzaufsicht genau hin, ob die Bank nicht einem einzelnen Unternehmen zu viel Geld geliehen hat. Aber Kredite an Staaten werden als risikolos eingestuft, dafür muss man kein Eigenkapital vorhalten. Das hätte man in den vergangenen zehn Jahren längst korrigieren müssen. Und deshalb steht immer noch die Gefahr im Raum, dass sich die Staatsanleihen-Krisen wieder auf das Bankensystem übertragen.

Und wer ist jetzt der größte Wackelkandidat in der Eurozone? 

Stefan Kooths: Derzeit Frankreich, auch wegen der politischen Instabilität. Wenn jetzt unpopuläre Konsolidierungsmaßnahmen angekündigt werden, kann es sein, dass die Regierung darüber stürzt.

Über Stefan Kooths

Stefan Kooths ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School Berlin und leitet die Forschungsgruppe Konjunktur und Wachstum am Kiel Institut für Weltwirtschaft, das mit seinen Konjunkturanalysen und -prognosen die Politik berät. Er ist außerdem Vorsitzender
der Hayek-Gesellschaft in Berlin. Kooths hielt auf Einladung des  Austrian Institute einen Vortrag über Interventionismus in Wien.

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