Europas Illusion von Souveränität

Eine strategische Autonomie des Kontinents würde Anstrengungen erfordern, die politisch nicht durchsetzbar sind. Die einzige Option ist eine engere Bindung an die USA.

Das Bild zeigt ein US-Flaggenabzeichen an der Tarnuniform eines Soldaten. Im unscharfen Hintergrund stehen weitere Soldaten und militärische Fahrzeuge. Das Bild illustriert einen Kommentar über Europas Kampf um strategische Autonomie.
Europa muss sich bewusst an die USA binden – nicht als Vasall, sondern als gleichberechtigter Partner in einer neuen euro-atlantischen Allianz. © Getty Images

Seit Jahren ist in Brüssel von „strategischer Autonomie“ die Rede. Gemeint ist die Fähigkeit, geoökonomisch wie auch außen- und sicherheitspolitisch unabhängig von den USA zu handeln. In Wirklichkeit ist Europa 2025 strategisch von Washington abhängiger als je zuvor.

Eine echte strategische Autonomie würde massive Opfer erfordern: den radikalen Rückbau des Sozialstaates, eine deutliche Anhebung des Rentenalters, eine erhebliche Steigerung der Produktivität, auch mithilfe einer eigenen Gas- und Rohstoffproduktion, den beschleunigten Ausbau der Kernenergie, die Verschiebung der grünen Agenda und nicht zuletzt Verteidigungsausgaben von deutlich mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Darüber hinaus müsste sich Europa auch militärisch in die Waagschale werfen. Nichts davon scheint realistisch umsetzbar.

Wer wirklich autonom ist

Strategische Autonomie ist eine machtpolitische Kategorie. Vollständig souverän handeln nur die Vereinigten Staaten, China, Russland und Indien. Andere Staaten wie die Türkei, Israel, Saudi-Arabien, der Iran, Frankreich oder Großbritannien verfügen immerhin über eine partielle Autonomie, die sich aus der Bereitschaft ableitet, militärische Macht einzusetzen.

Europa dagegen bleibt Zuschauer, selbst dann, wenn es um eine Serie hybrider Angriffe auf eigenem Boden geht oder um den Schutz seiner Grenzen. Die Illusion einer strategischen Autonomie Europas starb, als Russland die Ukraine überfiel. Ohne amerikanische Waffen, Technologien, Informationen und Finanzströme zu Beginn des Krieges wäre Kiew längst kollabiert.

Dollar schlägt Euro

Zudem ist der US-Dollar weiterhin die unangefochtene Leitwährung: Er ist an rund 88 Prozent aller weltweiten Devisentransaktionen beteiligt, der Euro nur an etwa 31 Prozent. Rund 58 Prozent der globalen Devisenreserven sind im Dollar angelegt, nur 20 Prozent im Euro. Ein Ausschluss vom Dollar- Clearing würde europäischen Banken und Energieimporteuren den Zugang zu Liquidität und Märkten entziehen. Doch ohne monetäre Souveränität bleibt strategische Autonomie eine Illusion.

Noch deutlicher zeigt sich Europas Schwäche in der Tech-Branche. Während die Vereinigten Staaten und China um die Vorherrschaft kämpfen, verharrt Europa in einer Debatte über Regulierungen, Datenschutz, ethische Standards und Risikominimierung. Washington und Peking investieren in Technologieplattformen, die nicht nur militärische Schlagkraft, sondern auch wirtschaftliche Dominanz und politische Gestaltungsmacht sichern. Europa hingegen reagiert mit administrativen Prozessen, fragmentierten Forschungsprogrammen und einer Politik, die mehr auf Kontrolle als auf Innovation setzt.

Die Illusion einer strategischen Autonomie starb, als Russland die Ukraine überfiel.

Nur wer die Krise offen benennt, kann handeln. Wie schon im Kalten Krieg gilt auch heute: Wer das technologische Rennen gewinnt, gewinnt alles – und bestimmt damit zugleich die Spielregeln in Geoökonomie und Geopolitik. Neben dem geoökonomischen Dreieck von Energie, Märkten und Sicherheit steht Europa vor einem zweiten unausgesprochenen Trilemma: dem Balanceakt zwischen Verteidigung, Reindustrialisierung und Dekarbonisierung.

Um seine industrielle Basis zu retten und gleichzeitig seine Sicherheit zu gewährleisten, wird Europa hunderte Milliarden Euro pro Jahr in Verteidigung und Dual-Use-Industrien investieren müssen. Dies verschiebt automatisch die Klimaziele. Auch in anderen klimarelevanten Bereichen fehlt es an Autonomie, sei es bei Rohstoffen, Seltenen Erden, Halbleitern, Kernenergie, Düngemitteln, Elektromobilität oder in den entsprechenden Lieferketten.

Europas Optionen

Vor diesem Hintergrund bleiben Europa drei strategische Optionen: Erstens eine generationsübergreifende Kraftanstrengung, um Energiesouveränität, die industrielle Basis und militärische Glaubwürdigkeit aufzubauen. Das würde jährliche Investitionen von Billionen Euro erfordern – und eine umfassende gesellschaftliche Neuorientierung. Beides ist nicht realistisch.

Der zweite Weg wäre die Fortsetzung des Status quo im Kontext eines neuen Kalten Krieges zwischen dem DrachenBären, der Koalition aus China und Russland, und Amerika. Der Dreiklang aus russischer Energie, chinesischer Industrie und amerikanischer Sicherheit ist Geschichte. Geblieben ist nur die Abhängigkeit von Washington.

Der dritte Weg wäre eine Annäherung an China unter dem Etikett der Risikominimierung. Dies würde einer geopolitischen Selbstzerstörung gleichkommen. Eine engere Bindung an Peking würde die DrachenBär-Achse stärken, Europas Sicherheitsinteressen untergraben und Russland im Krieg gegen die Ukraine stützen. Mischformen zwischen diesen Optionen bergen die Gefahr der Inkohärenz und inneren Spaltung.

Die Stunde der Wahrheit

Die geopolitische Realität ist eindeutig. Wir leben längst im Kalten Krieg 2.0, einer systemischen Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und dem DrachenBären. Europa kann sich diesem Konflikt nicht entziehen. Der Weg zur strategischen Autonomie wird geopolitisch gefährlich, geoökonomisch schmerzhaft und technologisch unrealistisch bleiben. Eine Annäherung an China wäre selbstzerstörerisch, sobald sich die systemische Rivalität zwischen den Blöcken zuspitzt – und das ist nur eine Frage der Zeit.

Die Abhängigkeit von den USA bleibt damit die einzige tragfähige Option. Das oberste Gebot sollte sein, die europäische Säule der NATO entlang der neuen Frontlinie im Osten zu stärken, einen euroatlantischen Binnenmarkt für Handel, Kapital, Arbeitskraft, kritische Infrastruktur und Rohstoffe aus Nordamerika zu schaffen, um die russischen Importe zu ersetzen, sowie die technologischen, weltraumtechnischen und verteidigungspolitischen Kapazitäten enger zu verzahnen.

Europa muss sich dieser Wahrheit stellen und sich bewusst an die Vereinigten Staaten binden – nicht als Vasall, sondern als gleichberechtigter Partner in einer neuen euro-atlantischen Allianz. Alles andere wäre Selbstbetrug und Realitätsverweigerung.

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