Retten wir am Ende die falschen Tiere?

Seit 1970 hat die Erde allein siebzig Prozent der Wirbeltiere verloren – an Individuen. Manche Wissenschaftler sprechen von Defaunation. Was läuft beim Artenschutz schief?

Bunte Zeichnung von Tieren, die einen Panda vom Sockel stürzen. Die Zeichnung illustriert einen Beitrag über das Artensterben bzw. das Aussterben von Tieren und was für den Artenschutz getan werden müsste bzw. welche Tiere man retten sollte und welche nicht.
Den Panda vom Sockel stürzen: Der Schutz einzelner Arten ist oft vergeblich, wenn nicht gleichzeitig gelingt, Ökosysteme intakt zu halten. © Marzio Mariani
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Auf den Punkt gebracht

  • Symbolik. Ikonische Tiere wie der Große Panda sind die Aushängeschilder des Artenschutzes, um Spendengelder zu lukrieren.
  • Verdrängung. Arten, die möglicherweise eine größere Bedeutung für Ökosysteme haben, erhalten nicht die Mittel, die sie brauchen.
  • Unverständnis. Die ökologische Bedeutung von Artenvielfalt bleibt für eine breite Öffentlichkeit unterbelichtet.
  • Wenig erforscht. Viele Arten sterben aus, noch bevor sie entdeckt wurden. Das Ausmaß des gegenwärtigen Aussterbens ist daher nicht bekannt.

Für einen Naturschützer hat Chris Packham, der seit den 1980er-Jahren für Millionen Briten das TV-Gesicht von Tierdokumentationen ist, einen eher ausgefallenen Wunsch: Er will den allerletzten Panda verspeisen, ihn Bissen für Bissen ausrotten. Wir sollten ihm den Stecker ziehen, findet Packham.

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Diese Aussage schockierte die Zuseher, lässt sich aber gut begründen (abgesehen von der Tatsache, dass Pandafleisch angeblich übel schmeckt). Packham würde den Panda nämlich nur unter einer Bedingung essen: wenn si­chergestellt wäre, dass die enormen Summen, die für den Erhalt der schwarz-weißen Bären ausgegeben werden, in die Rettung anderer Tier­arten fließen. Dabei geht es um sehr viel Geld; allein China investiert pro Jahr 255 Millionen Dollar in seine Pandas.

Foto eines jungen schwarz-weißen Panda, der in einem Korb sitzt und dessen Kopflänge mit einem Maßband gemessen wird.
Ein wild geborener Panda in Sichuan in China. Er wird vermessen, bevor er mit seiner Mutter (wieder) in ein Schutzzentrum kommt. © Getty Images

Packhams Ansicht ist insofern erstaunlich, als die Bemühungen um den Erhalt des Großen Pandas als Erfolg für den Artenschutz gelten: Die Population ist seit den 1970ern von 1.000 auf 1.800 Exemplare angestiegen, 2016 wurde der Status von „stark gefährdet“ auf „gefährdet“ zurückgestuft. Aber der Panda, so die These von Chris Packham, steht nur aus einem Grund im Mittelpunkt vieler Artenschutzkampagnen: Er sieht süß und knuffig aus. Es sei aber nicht besonders sinnvoll, den Fokus so stark auf ihn zu richten.

Triage im Artenschutz

Viele Biologen erachten den Panda vielmehr als evolutionär schwache Spezies: Er scheint keinen besonderen Wert auf sein eigenes Überleben zu legen. Weibliche Pandas sind nur 24 bis 48 Stunden fruchtbar – im Jahr. Deshalb findet Packham, dass sich die Schutzprogramme auf Tierarten konzentrieren sollten, die es ihren Rettern weniger schwer machen.

Während der Coronapandemie sind viele von uns mit dem Begriff der Triage vertraut geworden: In Extremsituationen kann es sein, dass Ärzte entscheiden müssen, welche Patienten sie retten und welche nicht. Das Gleiche gilt nach Ansicht mancher Biologen auch beim Artenschutz. Viele Spezies werden nicht mehr zu retten Sein. Aber genauso wie niemand einen Patienten dem Tod überlassen will, traut sich nun auch niemand zu sagen: Lasst den Panda endlich sterben! Weil wir die Zeit und die Mittel brauchen, um andere Tiere zu erhalten.

Eine Spezies entscheidet über alle anderen

Der Mensch macht 0,01 Prozent der Biomasse der Erde aus, aber er herrscht über den Planeten. Gottes Auftrag in der Schöpfungsgeschichte kann als abgehakt gelten: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“

Die Zahl der Menschen hat sich seit den 1970ern auf acht Milliarden verdop­pelt, dafür sind in den vergangenen fünfzig Jahren 83 Prozent der Wildtiere und die Hälfte aller Pflanzen verschwunden; in der gleichen Zeit explodierte die Zahl der Nutztiere und Ackerflächen. Menschen und ihre Nutztiere stellen heute weltweit 95 Prozent der Biomasse land-lebender Wirbel­tiere.

Kein Wunder, denn 75 Prozent der globalen Landfläche wurden von uns maßgeblich verändert. Laut UN könnten von den rund acht Millionen Spezies auf der Erde eine Million vom Aussterben bedroht sein. Wobei das eine grobe Schätzung ist: Trotz unserer Dominanz auf dem Planeten haben wir keine Ahnung, wie viele unterschied­liche Lebewesen ihn bevölkern und wie viele wir Jahr für Jahr ausrotten.

Ein Feldhamster blickt aus seinem Bau in die Kamera. An seinen Pfoten klebt Erde. Der Feldhamster steht für Tiere, die vom Aussterben bedroht sind und die durch Artenschutz erhalten werden sollen.
Ein Feldhamster in der Nähe von Karlsruhe. Seine Art ist akut vom Aussterben bedroht. © Getty Images

Gestorben wird nicht nur irgendwo in Afrika oder im Amazonasurwald, sondern auch hierzulande, sagt der Biologe Kurt Kotrschal, der mit seinen Wolfsforschungen bekannt wurde: „Bereits 1970 war nur noch ein Bruchteil jener Wildtiere vorhanden, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab.“ Und die Versuche, Arten wieder anzusiedeln, werden sabotiert. „Österreich ist und bleibt Vorreiter als ‚Schwarzes Loch‘ für gefährdete Wildtiere in Europa“, sagt Kotrschal. Ob Kaiseradler, Bär, Wolf oder Goldschakal: Alle Arten, die nach Österreich zurückkehren, werden umgehend ge- und verjagt; mal legal, mal illegal. Auch der Lebensraum dieser Arten schwindet mehr und mehr:

„Lokal wäre schon viel erreicht, wenn im europäischen Rekordland der Bodenversiegelung endlich damit Schluss wäre. Ist es aber nicht: Es wird Ackerland und Lebensraum verbaut, als gäbe es kein Morgen“, sagt Kotrschal.

Aussterben im Anthropozän

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte des Lebens auf unserem Planeten, dass Spezies um Spezies einfach verschwindet. Fünf große Massensterben gab es bis jetzt; und gegen das große Sterben vor 252 Millionen Jahren ist das, was jetzt passiert, höchstens eine kleine Unannehmlichkeit: 95 Prozent aller marinen Spezies und 70 Prozent aller Landtierarten starben damals aus; die Ursache ist umstritten.

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Zahlen & Fakten

Es dauerte zehn Millionen Jahre, bis sich die Biodiversität der Erde wieder erholt hatte. Das fünfte Massensterben ist das bekannteste: Vor etwa 65 Millionen Jahren schlug ein Meteorit auf der Erde ein und machte Tabula rasa. Die Dinosaurier, damals vorherrschende Spezies auf dem Planeten, überlebten die kosmische Intervention nicht. Nun befinden wir uns mitten im sechsten Massensterben, und erstmals gibt es einen Täter, der die Folgen mitansehen kann – uns, den Homo sapiens.

Porträt eines Nashorns. Es gehört zu einer Art, die ausgestorben ist.
Najin ist eines von zwei noch lebenden Nördlichen Breitmaulnashörnern, das andere Nashorn ihrer Art ist ihre Tochter Fatu. Sie lebt in Kenia. © Getty Images

Wissenschaftler haben deshalb eine neue Epoche der Erdgeschichte ausgerufen: das Anthropozän. Jene Phase, in der eine Spezies so dominant ge­worden ist, dass sie nunmehr einen geologischen Faktor darstellt – und alles andere Leben auf der Erde von ihrem Wirken abhängig ist. Ob Elfenbeinspecht, Chine­sischer Flussdelfin, Westliches Spitzmaulnashorn oder Abertausende anderer Arten: Sie alle überlebten die Präsenz des Menschen auf der Erde nicht.

Natürlich könnten wir uns im Wissen um alle bisherigen Katastrophen entspannt zurücklehnen: Die Natur wird auch den Menschen überstehen, selbst wenn es ein paar Millionen Jahre dauert. Aber viele Menschen plagt ein schlechtes Gewissen ob des Schadens, den wir als Spezies auf dem Planeten in kürzester Zeit anrichten.

Natur ist schön, aber überflüssig

Dieses schlechte Gewissen ist der wichtigste Antrieb für den Artenschutz. Es bringt dem Menschen nichts, eine Spezies zu erhalten, deren Lebensraum er so sehr zerstört hat, dass sie ohne seine Hilfe aussterben würde. Das angebliche Albert-Einstein-Zitat „Stirbt die Biene, stirbt der Mensch“ ist doppelt Unsinn: Weder stammt es von Albert Einstein, noch würden die Menschen ohne Bienen aussterben.

Natürlich hätte ein kompletter Kollaps des Ökosystems auch katastrophale Auswirkungen auf die Menschheit. Aber dass Tiger existieren, hat für unser tägliches Leben keinen Nutzen. Es ist vielmehr umgekehrt: Unserer Lebensqualität ist es sehr zuträglich, dass die Tiger nur weit weg auf einem anderen Kontinent leben, anstatt bei uns durch die Straßen zu schleichen und hin und wieder ein Schulkind auf dem Heimweg zu verspeisen.

Porträt eines Papageienvogels mit gelben, blauen, grünen, schwarzen und blauen Federn. Der Ara gehört zu den Tieren, die noch nicht vom Aussterben bedroht sind.
Ein Gelbbrustara im Pantanal in Brasilien. Aras leben in großen Kolonien, ihr Bestand geht zurück, weil ihr Lebensraum schrumpft. © Getty Images

Auch wenn das hart klingt: Die Natur will uns nichts Gutes, und deshalb haben wir sie zurückgedrängt. Es hat das Leben vieler Amerikaner erleichtert, als im 19. Jahrhundert das Eisenbahnnetz quer über die USA verlegt wurde – auch wenn die Konsequenz war, dass der Amerikanische Bison deshalb nahe­zu ausgerottet wurde. Manchmal ist die Natur schlicht eine Plage: Gäbe es ­keine Moskitos mehr, die viele Krankheiten übertragen, würden Millionen von Menschen nicht daran sterben.

Der Gedanke, dass der Mensch die Natur nicht braucht, auch wenn uns das Artenschützer ständig einreden wollen, stammt nicht von einem Industriemagnaten, dem ein paar Bäume im Weg waren. Er stammt von Carl Safina, der zu einem der hundert wichtigsten Naturschützer des 20. Jahrhunderts gewählt wurde. Andererseits, argumentiert Safina, verlieren wir mit den Arten etwas Entscheidendes: Schönheit. „Wilde Tiere leben in den verbleibenden schönen Orten. Wenn wilde Tiere verschwinden, geht die Schönheit der Welt verloren.“

Braucht der Mensch die anderen Tiere doch?

Valentin Ladstätter vom World Wide Fund For Nature (WWF) hält diese Überlegung dennoch für zu kurz gedacht: „Weltweit hängen rund 75 Prozent der Kulturpflanzen von tierischen Bestäubern ab, hauptsächlich von Insekten. Ohne tierische Bestäubung wird es also irgendwann keine Zwiebeln, Gurken, Kürbisse, Äpfel oder Birnen mehr geben.“ Der wirtschaftliche Nutzen, den die Natur – etwa durch das Bestäuben – gratis erbringt, be­laufe sich auf 170 bis 190 Billionen Dollar pro Jahr: „Das entspricht in etwa dem Brutto­sozialprodukt der Erde – mal zwei“, sagt Ladstätter.

Ob Schönheit oder Nutzen: Die Erkenntnis, dass wir die Artenvielfalt erhalten sollten, reifte erst relativ spät. 1961 wurde der WWF als World Wildlife Fund gegründet, 1975 trat schließlich das Washingtoner Artenschutzübereinkommen in Kraft, das den Handel mit geschützten Tier- und Pflanzenarten regelt. Aber das Massensterben geht weiter. Der Panda wurde zum Symbol dafür – auch dank dem WWF.

Von der Existenz des Pandas haben die Europäer erst 1869 erfahren, als der französische Missionar Armand David die Bären in China entdeckte. Schon David sorgte sich um den Umgang des Menschen mit der Natur, wie er in seinem Tagebuch vermerkte: „Es ist unglaublich, dass der Schöpfer so viele Arten auf der Erde geschaffen hat, nur um es seinem Meisterwerk, dem Menschen, zu gestatten, sie für immer zu zerstören.“

Konsequenterweise nutzte er seinen Status als Zerstörer und ließ Jäger losschicken, um einen Panda zu erlegen, dessen Fell er nach Frankreich schickte. Auch wenn David damals schon feststellte, dass der Panda im Gegensatz zu vielen anderen Bären „nicht sehr grimmig“ aussieht und der Magen des erlegten Exemplars „voller Blätter“ war, konnte er nicht wissen, wie bizarr das Leben der Pandas wirklich ist.

Das bizarre Leben der Pandas

Bären sind Allesfresser, Pandas aber ernähren sich fast ausschließlich von Bambus. Das Problem an der Sache, wie das renommierte Smithsonian Institute anmerkt: „Das Verdauungssystem eines Großen Pandas ähnelt eher dem eines Fleischfressers als dem eines Pflanzen­fressers; und so scheidet er viel von dem, was er frisst, wieder aus.“ Sprich: Das Verdauungssystem des Pandas ist nicht auf dessen Lieblingsspeise ausgerichtet. Das führt dazu, dass Pandas zwischen 35 und 50 Kilo Bambus pro Tag fressen müssen, was zwischen zehn und sechzehn Stunden ihres Tages in Anspruch nimmt. Den Rest der Zeit schlafen sie.

Vielleicht hat der Panda deshalb kaum Möglichkeiten entwickelt, mit seinen Artgenossen zu kommunizieren. Die Passage über die Kommunikationsfähigkeiten des Pandas beim Smithsonian Institute liest sich traurig: „Große Pandas weisen keine Körpermerkmale auf, die visuelle Signale übermitteln. Sie haben runde, ausdruckslose Gesichter. Ihre Schwänze sind Stummel und können daher keine Signale an andere Große Pandas senden. Sie haben weder Kamm noch Mähne zum Aufrichten, und ihre Ohren sind nicht flexibel genug, um sich nach vorn zu strecken oder abzuflachen.“ Dazu kommt: Sie sind schwer kurzsichtig.

Wöchentlich per Email

Das größte Problem von allen aber ist: Der Panda ist kaum dazu zu bewegen, sich fortzupflanzen. Wissenschaftler haben ihnen Panda-Pornos vorgespielt, sie haben mit Sexspielzeugen experimentiert und ihnen Viagra verabreicht – erfolglos. Der Grund, warum sich die Pandapopulation in den vergangenen Jahren erholt hat, heißt Elektroejakulation. Die Prozedur ist genauso grausam, wie sie klingt. Männliche Tiere werden anal per Elektroschock bis zur Ejakulation stimuliert, mit dem Samen hernach weibliche Pandas befruchtet.

Wie bei Menschen führt die künstlicher Befruchtung auch bei Pandas häufig zu Zwillingsschwangerschaften. In der Natur ist dergleichen jedoch nicht vorgesehen und die Pandamutter mit zwei Babys heillos überfordert. Deshalb muss der Mensch auch bei der Aufzucht mithelfen. Der Nebeneffekt: Die jungen Pandas lernen nicht, sich wie Pandas zu benehmen – zum Beispiel bei der Fortpflanzung. Viele der jetzt lebenden Pandas sind also dysfunktionale Exemplare ihrer Art; sie pflanzen sich nur fort, weil wir sie dazu zwingen. Deshalb ist die Frage berechtigt: Ist es das wert? Sollen wir das uns und den Pandas antun?

Dem Artenschutz fehlt Geld

700 Milliarden Dollar. Pro Jahr. So viel Geld fehlt global, um die Zerstörung der Artenvielfalt aufzuhalten. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls eine UN-Konferenz 2020. Wenig überraschend haben sich die Staaten dieser Erde bis jetzt nicht entschlossen, die gigantischen Mittel bereitzustellen.
„In einer perfekten Welt könnten und würden wir jede Art retten“, sagt der britische Biologe Rikki Gumbs. „In der realen Welt sind die Möglichkeiten der Menschheit, Arten zu retten, jedoch stark eingeschränkt.“

Artenschützer brauchen also einen Plan, wie sie mit begrenzten Ressourcen ein Maximum erreichen. Bis jetzt klappt das nicht immer; und es geht dabei natürlich nicht nur um den Panda. Vom Kalifornischen Schweinswal zum Beispiel, der nur im Nordwesten des Golfs von Kalifornien lebt, gibt es noch zehn bis fünfzehn Exemplare – und eine Dokumentation von Leonardo DiCaprio. Man kann die Schweinswale nicht mehr retten, aber viele Menschen sorgen sich um das Schicksal der armen Tiere, weil ein Hollywood-Star sich ihrer angenommen hat.

Ein Vogel sitzt auf Blütendolden. Der Vogel ist ein Beispiel für das Aussterben von Tierarten und für die Notwendigkeit von Artenschutz.
Ein junges Braunkehlchen in Österreich, das gerade flügge wurde. Seit 1998 sind die Bestände um 70 Prozent zurückgegangen. Wenn Arten verschwinden, ist das ein Zeichen für das Verschwinden ganzer Ökosysteme. © H.-M. Berg Birdlife

Im Reich der Tiere geht es ebenso ungerecht zu: Die Stierforelle, die in Nordamerika lebt, bekommt laut einer Studie zehnmal so viel Geld, wie für ihre Rettung eigentlich nötig wäre. Andererseits verlieren sich Artenschützer manchmal auch in kostspieligen Projekten, die am Ende keine Wirkung zeigen. Zwei Milli­onen Dollar wurden etwa investiert, um eine kanadische Unterart des Rentiers zu schützen. Fünf Jahre lang wurden trächtige Rentiere eingefangen und mit dem Helikopter in ein eingezäuntes Gebiet geflogen, wo sie vor Jägern und natürlichen Feinden geschützt waren. Das Ergebnis war allerdings ernüchternd: Die Population veränderte sich nicht.

Auch die Hawaii-Mönchsrobbe macht es ihren Rettern schwer: Sie ist in den vergangenen Jahrzehnten auf eine Population von lediglich 1.400 Exemplaren geschrumpft, obwohl die US-Regierung fünf Millionen Dollar pro Jahr ausgibt, um die Spezies am Leben zu erhalten. Forscher haben allerdings errechnet, dass es 380 Millionen Dollar kosten und fünfzig Jahre dauern würde, um die Regeneration der Kolonie so weit zu sichern, dass sie ohne menschliche Hilfe weiterhin existieren könnte. Und so viel Geld ist die Robbe dem Staat dann doch nicht wert.

Welche Arten sollen überleben?

Letzten Endes, so argumentieren manche Artenschützer, sind diese fünf Millionen Dollar pro Jahr hinausgeworfenes Geld, das nur das Unvermeidliche hinauszögert: Die Hawaii-Mönchsrobbe werde so oder so in ein paar Jahren nicht mehr existieren. Das Geld, das für sie aufgewendet werde, könne man für andere Arten nutzen, die bessere Chancen haben. Natürlich ist das brutal: Der Mensch zerstört zuerst den Lebensraum einer Art und entscheidet dann, ob es sich auszahlt, sie zu retten. Daumen rauf, Daumen runter.

Aber die Fürsprecher der Triage haben treffende Argumente: Es wäre viel schlimmer, wenn letztlich noch mehr Spezies aussterben, weil wir der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollen, dass es für einige Arten bereits zu spät ist. „Wir können uns den Luxus nicht mehr leisten, alle gleich zu bewerten, sondern müssen anfangen, jeder Art einen bestimmten Wert zuzuschreiben, um zu entscheiden, wo wir unsere begrenzten Ressourcen am besten investieren“, argumentiert Biologe Rikki Gumbs.

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Zahlen & Fakten

Die Wahrheit ist: Diese Triage findet bereits statt, allerdings sind die Kriterien, nach denen sie stattfindet, „subjektiv und aus der Not heraus entstanden“, sagt Rikki Gumbs. Rund 20.000 Spezies werden auf der Roten Liste als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft, aber 60 Prozent der Spendengelder gehen an nur achtzig dieser gefährdeten Arten.

Das kann man den Naturschutzorganisationen gar nicht vorwerfen: „Pandas, Tiger oder Fischotter sind den meisten Menschen näher als zum Beispiel Würmer oder Insekten – auch wenn Letztere für die Gesundheit der Ökosysteme ebenso wichtig sind“, sagt WWF-Sprecher Valentin Ladstätter. Und wer für den Panda spendet, will sein Geld eher nicht für den Chinesischen Riesensalamander aufgewendet sehen, auch wenn der bis zu 1,8 Meter lange, eher hässliche Schwanzlurch viel stärker gefährdet ist.

Verkannt und unbeachtet

Das hat britische Biologen sogar dazu gebracht, sich auf die Suche nach Arten zu machen, die sie Cinderella-Spezies nennen: Ästhetisch ansprechende und gefährdete Tiere, die dazu taugen würden, Spendengelder zu lukrieren, aber bis jetzt noch nicht im Fokus von Artenschutzkampagnen stehen. Cinderella-Kandidaten sind etwa der Pennant-Stummelaffe, die philippinische Büffelart Tamarau, der Afrikanische Esel und der Cozumel-Waschbär.

Drei Blobfische auf einem Tisch
Der Blobfisch lebt in Meerestiefen bis 2.500 Meter. © Getty Images

Wer aber kümmert sich um alle jene, die nicht imposant, knuddelig oder schön sind? Die Antwort auf diese Frage ist ausnahmsweise ganz einfach und kommt von Simon Watt. Der britische Biologe und Comedian hat vor zehn Jahren die Ugly Animal Preservation So­ciety gegründet. Sein einleuchtendes Argument für diese Initiative: „Wie jeder weiß, der schon einmal Online-Dating ausprobiert hat, ist die große Mehrheit der Lebewesen da draußen hässlich.“ Noch im Gründungsjahr, erzählt Watt, „machten wir den Blobfisch berühmt, indem wir eine Online-Wahl veranstalteten, die viral ging und dazu führte, dass er unser Maskottchen wurde und offiziell zum hässlichsten Tier der Welt gekürt wurde.“

Hässliche Tiere, sagt Simon Watt, werden nicht nur weniger geschützt, sondern auch weniger erforscht. Und hässlich ist für uns vor allem, was nicht aussieht wie wir. Wirbellose Kreaturen zum Beispiel. „Obwohl sie etwa 95 Prozent der Tierwelt ausmachen, werden sie nur in elf Prozent der Literatur über Artenschutz behandelt“, erläutert Watt.

Ihm geht es darum, das Spektrum des Artenschutzes zu erweitern, weil er findet, dass uns spektakuläre Spezies verlorengehen könnten, ohne dass wir je von ihnen Notiz genommen haben. „Schleimaale überleben einen Angriff, indem sie das Maul des Raubtiers mit Rotz verstopfen. Es ist schwer, das zu wissen, ohne fasziniert zu sein.“

Evolutionärer Nutzen

Zugegeben, auch das Lobbying für die Hässlichen ist kein sehr wissenschaftlicher Ansatz. Für den sorgt die NGO EDGE of Existence, für die Biologe Rikki Gumbs arbeitet. Sie legt zwei Parameter an, um zu entscheiden, welche Arten besonders schützenswert sind: ihre Gefährdung und ihre evolutionäre Einzigartigkeit. In den Neunzigern haben Biologen einen „Baum des Lebens“ erstellt, der die evolutionären Pfade, die Spezies beschritten haben, abbilden soll.

Am Stamm des Baumes finden sich jene Arten, die mit verwandten Spezies große genetische Ähnlichkeiten haben – Nagetiere etwa. Je weiter aber ein Ast vom Stamm entfernt ist, desto weniger genetische Verwandte hat die Art. Am Ende eines der längsten Äste findet sich etwa die neuseeländische Echse Tua­tara, „die sich vor mehr als 240 Millionen Jahren von allen lebenden Arten abspaltete“, erklärt Gumbs.

Foto von Menschen in einem braunen Gewässer, die mit einer großen Plane große Walartige Tiere fangen. Foto aus der Vogelperspektive.
Artenschutz ex situ: Diese chinesischen Glattschweinswale sind einige wenige verbliebene Individuen im Jangtse. Sie werden gefangen, um sie für den Erhalt der Art zu züchten. © Getty Images

Genau auf solche Fälle spezialisiert sich EDGE: „Arten, die für den Fortbestand langer Äste am Baum des Lebens verantwortlich sind, werden für uns als wichtiger angesehen als Arten, die sich die Verantwortung mit vielen anderen teilen.“ Es sind einzigartige, oft skurrile Lebewesen, von denen viele Menschen wohl noch nie etwas gehört haben: Auf Platz 1 der Liste von EDGE liegt der Gewöhnliche Sägefisch, gefolgt vom Attenborough-Langschnabeligel. Neben Schnabeltieren sind Schnabeligel die einzigen Säugetiere, die Eier legen.

Die nach David Attenborough benannte Art wurde überhaupt nur einmal gesichtet, im Jahre 1961 auf Neuguinea. Im Juli 2007 fanden Forscher von EDGE Höhlen und Spuren, die eventuell zum Attenborough-Langschnabeligel gehören. Auf der Liste findet sich auch die in Australien beheimatete Mary-River-Schildkröte, die einen grünen Irokesen aus Algen auf dem Kopf trägt und durch ihre Genitalien atmet; aber auch „mehrere charismatische Säugetiere wie Elefanten, Nashörner, Tapire und Wale, die alle zu evolutionär einzigartigen Linien gehören“, erzählt Gumbs.

Auch in Neuseeland ist die Priorisierung von Arten anhand wissenschaftlicher Kriterien bereits Realität: Für welche bedrohten Tiere staatliches Geld zur Verfügung gestellt wird, entscheidet der Threatened Species Strategy Algorithm, der 150 Spezies identifizierte, auf die sich der Artenschutz konzen­triert. Entscheidend ist unter anderem, ob die Tierart nur in Neuseeland vorkommt, wie gefährdet sie ist, wie stark die Population zurückgeht und wie sehr die Spezies von menschlichen Eingriffen abhängig ist. Ganz ohne Protektion läuft das System aber nicht: Die Regierung hat fünfzig Arten, etwa den Kiwi oder den Weißen Hai, ausgewählt, die für Neuseeland ikonischen Status haben – und die ungeachtet der festgesetzten Kriterien Schutz genießen.

Geschützte Maskottchen

Dass Pandas diesen ikonischen Status weltweit haben, ist hauptsächlich – auch wenn es unfair sein mag, sie in einem Atemzug zu nennen – auf China und den WWF zurückzuführen. Beide haben den Panda zu ihrem Maskottchen gekürt. Für China sind diese Bären seit Jahrhunderten viel mehr als nur Tiere, erklärt Marcus Tan von der Columbia University in New York: Sie sind zu einem Werkzeug der chinesischen Diplomatie geworden.

„Bereits im siebten Jahrhundert gab es Aufzeichnungen über zwei Pandas, die von der Tang-Dynastie als diplomatisches Geschenk an Japan übergeben wurden“, erzählt er. Seitdem wurde die Praxis „zu einer bewussten und konzertierten Politik, die immer systematischer wurde“, sagt Tan. Jeder Panda, der in einem Zoo lebt, gehört der Volksrepublik China und ist eine Leihgabe – für die Zoos auch bezahlen müssen. Und zwar nicht wenig: Eine halbe Million Dollar kostet die Miete pro Jahr, plus Futter. Sollten sich die Pandas in den Tiergärten fortpflanzen, gehört der Nachwuchs ebenfalls China.

Foto eines Panda, der auf dem Rücken liegt und von Menschen gestreichelt wird. Jemand hält ihn an einer Kette. Programme von Zoos verstehen sich oft als Programme für den Artenschutz bei vom Aussterben bedrohten Tieren..
Im London Zoo 1939. © Getty Images

Ein Panda wird nicht einfach so verliehen. Drumherum gibt es stets ein großes Spektakel: Die Ankündigung einer Leihgabe wird „entweder von Präsident Xi Jinping selbst oder von chinesischen Botschaftern gemacht“, erklärt Tan. In den offiziellen Aus­sendungen werden sie als „Botschafter der Freundschaft“ bezeichnet. Die USA bekamen im Jahr 1972 Pandas, als US-Präsident Richard Nixon nach jahrelanger Eiszeit gen China aufbrach (die USA verschenkten im Gegenzug Moschusochsen), einigen europäischen Staaten wurden sie rund um das fünfzig­jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zuge­standen.

Mittlerweile sind sogar die USA auf die Panda-Diplomatie eingestiegen: „Im Februar 2022 brachte die republikanische Abgeordnete Nancy Mace im US-Kongress eine Gesetzesvorlage ein, in der sie ihre Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass in den Vereinigten Staaten geborene Große Pandas rechtmäßig den USA gehören sollten“, erzählt Marcus Tan.

Die Pandas, so verkündete Mace in ihrer Rede vor dem Kongress, seien Teil einer „weltweiten Propaganda-Kampagne“ Chinas. Jedes Jahr würden sich Millionen US-Amerikaner an den Pandas im Zoo erfreuen, „ohne den finsteren Plan hinter deren kurzem Aufenthalt hier zu kennen“, nämlich Chinas Image in der Welt zu verbessern, schimpfte die Abgeordnete. Die USA müssten angesichts der Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, Taiwan und Hongkong „über den Tellerrand schauen“, wenn es darum gehe, China seine Grenzen aufzuzeigen – und sämtliche Pandababys einbürgern.

Lebensräume retten

Dass Mace China über den Umweg seines Maskottchens bestrafen wollte, „ist ironischerweise vielleicht gerade der deutlichste Beweis für den Erfolg der Panda-­Diplomatie“, meint Ostasien-Experte Tan. Der WWF dagegen sieht den Panda als Vehikel, um andere Spezies zu retten: „Ikonische Tiere wie Wölfe, Wale oder auch Pandas sind sogenannte Flaggschiff-Spezies“, sagt Valentin Ladstätter.

Die Idee dahinter ist schnell erklärt: Wenn der Panda geschützt wird, überlebt damit auch sein Ökosystem – die gesamte Flora und Fauna, die sich mit dem Panda den Lebensraum teilt. „Zum Beispiel Rote Pandas, Blauschafe, Goldstumpfnasenaffen oder Silberfasane“, erzählt er. Von den Maßnahmen würden auch sämtliche Insekten, Würmer und Skorpione profitieren, die zu hässlich sind, um Menschen zu großzügigen Spenden zu motivieren.

Schwarz-weiß Foto eines Leoparden hinter Gittern.
Ein Schneeleopard 1990 im Zoo in Sydney. © Getty Images

Studien aus den Jahren 2020 und 2021 legen allerdings nahe, dass die Dinge komplexer sein könnten: Während sich einige Arten im Lebensraum des Pandas tatsächlich erholten, wurden andere wie der Schneeleopard oder der Kragenbär weiter stark dezimiert. Chris Packham hat noch immer keinen Panda verspeist, dürfte sich durch diese Nachricht in seinem Kampf gegen die Bevorzugung der Bären aber be­stätigt gefühlt haben. Auf Twitter verlinkte er einen Artikel zum Thema mit dem Kommentar: „Ich sag’s nur ungern, aber ich hab’s euch ja gesagt.“

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Conclusio

Unser Planet befindet sich mitten im sechsten Massensterben seiner Geschichte – und der Mensch ist dessen Verursacher. Gleichzeitig versuchen wir, die Vielfalt der Natur so weit wie möglich zu erhalten. Das Problem ist, dass Tierschützer weder die Zeit noch die finanziellen Mittel haben, alle Arten zu retten. Die Schutzmaßnahmen konzentrieren sich deshalb auf einige wenige Arten, die entweder süß oder imposant sind. Das ist einerseits nachvollziehbar – schließlich geht es um Spendengelder –, andererseits bedeutet es, dass ganze Tiergattungen aussterben könnten, die für unsere Ökosysteme von immenser Bedeutung oder evolutionär einzigartig sind. Einige Experten plädieren deshalb dafür, nach objektiven ­Gesichtspunkten zu entscheiden, welche Arten wir schützen sollten – und welche aussterben müssen.

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