Das Ende des Flüchtlingsdeals?

Der 2016 geschlossene Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei ist massiv unter Druck: Im Wahlkampf plädieren fast alle Parteien für eine neue, härtere Gangart in der Asylpolitik. 3,7 Millionen Syrer stehen potenziell vor dem Nichts.

Syrische Geflüchtete an der türkisch-syrischen Grenze
Februar 2023: Syrische Flüchtlinge kehren in ihre Heimat zurück, nachdem sich ihre Lebensbedingungen in der Türkei nach dem schweren Erdbeben im Februar drastisch verschlechtert haben. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Neubewertung. Die bevorstehenden Wahlen in der Türkei könnten schwerwiegende Folgen für den 2016 mit der EU geschlossenen Flüchtlingsdeal haben.
  • Faustpfand. Gegenüber der EU instrumentalisiert Noch-Präsident Erdoğan Flüchtlinge schon seit Jahren.
  • Neuer Wind. Nun droht ihm jedoch die Abwahl. Sechs Parteien haben sich zu einem Oppositionsbündnis zusammengeschlossen.
  • Alte Abwehr. Die Haltung gegenüber Flüchtlingen droht härter statt humaner zu werden. Im Fall von Neuverhandlungen muss die EU eine klare Linie fahren.

Die Vereinbarung war von Anfang an umstritten, hält aber trotz diverser Krisen nun schon sieben Jahre lang: Im März 2016 schloss die EU mit der Türkei einen Pakt, um die Fluchtbewegung über die östliche Mittelmeerroute nach Griechenland und damit in die Union zu reduzieren. Infolge der Flüchtlingskrise von 2015 war der Druck auf die EU gestiegen – sie suchte dringend nach einer Lösung.

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Im Kern geht es um jene Asylsuchenden, welche die Türkei als Transitland nützen und irregulär auf den griechischen Inseln erstmals das Territorium der EU betreten. Während die Türkei sich verpflichtete, diese Migration an ihren Land- und Seegrenzen zu unterbinden und nach Griechenland Geflüchtete zurückzunehmen, sollte nach dem sogenannten 1:1-Mechanismus für jede in die Türkei abgeschobene Person aus Syrien ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei in der EU neu angesiedelt werden.

Im Gegenzug sicherte die EU der Türkei Milliardenhilfen bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge zu, die in der Türkei vorübergehenden Schutz genießen. Wichtig waren für die Türkei auch der ebenfalls vereinbarte Ausbau der Zollunion mit der EU und die Visa-Liberalisierung.

Der EU ist es nicht gelungen, ihre Asylpolitik zu reformieren und so Flucht nachhaltig zu regeln.

Die Kritik an dieser Vereinbarung wurde in all den Jahren nicht leiser. Die EU spricht angesichts der gesunkenen Zahl von Menschen, die von der Türkei aus auf den griechischen Inseln ankommen, zwar von einem Erfolg und propagiert die Regelung als Modell für ähnliche Vereinbarungen mit anderen Ländern. Doch Kritiker und Hilfsorganisationen fordern zu Recht einen Kurswechsel der EU-Flüchtlingspolitik und verweisen auf die massiven Folgen des Deals – insbesondere die katastrophalen und bis heute teils menschenunwürdigen Lebensbedingungen in den Aufnahmelagern auf den Ägäis-Inseln, illegale Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen und schleppende Asylverfahren. Die Gegner beklagen aber auch die Abhängigkeit von einem immer autokratischer regierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, in die sich die EU begeben habe. 

Fragile Abmachung

Dass die gemeinsame Vereinbarung längst fragil und zu einem politischen Spielball geworden ist, hat mit mehreren Faktoren zu tun. So gab es von Beginn an Probleme mit der Umsetzung, etwa bei der Rückführung von Flüchtlingen. Auch die freiwillige Umverteilung innerhalb der EU blieb bislang nur eine Absichtserklärung. Vor allem aber gelang es der EU nicht, die Reform der gemeinsamen Asylpolitik auf den Weg zu bringen, um Migration und Flucht dauerhaft und nachhaltig zu regeln. 

Hinzu kommt, dass Präsident Erdoğan Flüchtlinge instrumentalisiert, um Druck auf die europäischen Partner auszuüben. Je nach Bedarf sind die in seinem Land gestrandeten Menschen ein Faustpfand, um mehr europäische Hilfsgelder zu erhalten, innenpolitisch zu punkten oder europäische Unterstützung für völkerrechtswidrige Militäroperationen und Umsiedlungspläne in Syrien zu erzwingen.

Wunden auf dem Rücken eines marokkanischen Geflüchteten in der Türkei
März 2020: Ein Marokkaner zeigt die Wunden auf seinem Rücken, nachdem er von der griechischen Polizei in Thessaloniki misshandelt und zurück in die Türkei abgeschoben wurde. © Getty Images

Den fortwährenden Drohungen, die gemeinsame Vereinbarung aufzukündigen und die Grenzen zu öffnen, ließ Erdoğan Ende Februar 2020 Taten folgen: Er erklärte die Grenze zu Griechenland für offen und ließ Tausende Menschen ins Grenzgebiet transportieren. Das Kalkül ging auf: Griechische Sicherheitskräfte wehrten die Flüchtlinge mit aller Härte ab, und brutale Bilder gingen um die Welt, die dokumentierten, wie die EU beim Versuch scheitert, Flüchtlings- und Menschenrechte zu wahren. 

Im Vorfeld der türkischen Parlaments- und Präsidentenwahlen haben die meisten Parteien ihre Rhetorik deutlich verschärft und versprechen, dass sie im Fall ihrer Wahl Flüchtlinge in deren Heimatländer zurückschicken würden. Inzwischen ist auch die anfangs vorherrschende positive Stimmung der türkischen Öffentlichkeit in offene Ablehnung und Gewalt gegen Flüchtlinge umgeschlagen. Die wachsende Zahl der Menschen (mehr als 4 Millionen sind es insgesamt, davon 3,7 Millionen aus Syrien) und die schlechte wirtschaftliche Situation – gekennzeichnet durch eine Hyperinflation und zunehmende Arbeitslosigkeit – verschärften die Verteilungskonflikte.

Neue nationalistische Kräfte

Laut aktuellen Umfragen sieht die Mehrheit der türkischen Bevölkerung syrische Flüchtlinge als Ursache sozialer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten – und insgesamt als das zweitwichtigste Problem der Türkei nach der ökonomischen Misere – und befürwortet eine Rückführung in deren Heimatländer. Auch Erdoğan ist darauf eingeschwenkt. Diese Stimmung führte im August 2021 zur Gründung der rassistischen Zafer-Partei (Partei des Sieges) durch den Ultranationalisten Ümit Özdağ. Er will Flüchtlinge auch gewaltsam zurückschicken. Diese stellten eine verdeckte Invasion dar und seien eine Gefahr für die demografische, kulturelle und politische Einheit der Türkei, trommelt Özdağ.

Das Oppositionsbündnis will den Pakt neu verhandeln – vor allem den finanziellen Teil.

Das schwere Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet im Februar mit mehr als 50.000 Toten hat die Anti-Flüchtlings-Stimmung befeuert, während die Regierung wegen des schlechten Krisenmanagements unter Druck geriet. Özdağ scheute nicht davor zurück, nach dem Erdbeben gezielt syrische Flüchtlinge ins Visier zu nehmen und auf seinem Twitter-Account Stimmung gegen sie zu machen, indem er sie als „Plünderer“ bezeichnete. 

Sechs Oppositionsparteien, darunter die größte, die kemalistisch-nationale CHP (Republikanische Volkspartei), und die nationalistisch-konservative İyi-Partei („Gute Partei“), schlossen sich im Februar 2022 zu einem Wahlbündnis zusammen. Sie wollen einen Machtwechsel herbeiführen, den seit 2002 regierenden Erdoğan ablösen und das parlamentarische System wieder einführen. Doch die Zusammenarbeit der sechs Parteien gestaltet sich schwierig: Erst am 6. März dieses Jahres konnten sie sich auf den Vorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, als Präsidentschaftskandidat einigen, nachdem die İyi-Partei von Meral Akşener ihren Widerstand aufgegeben hatte. 

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Zahlen & Fakten

Die Parteichefs des Sechser-Bündnisses, Temel Karamollaoglu, Meral Aksener, Ahmet Davutoglu, Gültekin ­Uysal, Ali Babacan und Kemal Kılıçdaroglu (v. li.) im Januar 2023
Ankara, Januar 2023: Die Parteichefs des Sechser-Bündnisses, Temel Karamollaoğlu, Meral Akşener, Ahmet Davutoğlu, Gültekin Uysal, Ali Babacan und Kemal Kılıçdaroğlu, präsentieren ihr Programm. © ADEM ALTAN/AFP/picturedesk.com

Festung Türkei

Alle türkischen Oppositionsparteien wollen, dass die Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. Was den Zeitpunkt und die Umsetzung dieser Maßnahme betrifft, gehen die Meinungen aber auseinander:

  • Bis auf die Zukunftspartei (Gelecek Partisi) des einstigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu befürworten alle Parteien eine offizielle Dialogaufnahme mit dem Regime von Baschar al-Assad in Syrien. Das sah auch Muharrem İnce so, neben Sinan Oğan bis vor kurzem noch der vierte Präsidentschaftskandidat.
  • Die CHP will sämtliche Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren rückführen, unter anderem durch die Einrichtung eines Inspektions- und Beobachtungsmechanismus unter der Führung der Vereinten Nationen und der Türkei und die Unterzeichnung eines Vertrags mit Syrien.
  • Die İyi-Partei spricht von einer regelrechten Invasion und legt einen Fahrplan fest, um syrische Flüchtlinge bis zum 1. September 2026 schrittweise in die Heimat zurückzubringen. Sie will die Abschaffung des „vorüber­gehenden Schutzstatus“, schnelle Abschiebungen und vollständige Grenzsicherheit zu Syrien, dem Irak und dem Iran mittels Mauerbau.

Einigkeit herrscht auch darüber, dass die gesamte Migrationspolitik mit der EU neu verhandelt werden muss, nicht zuletzt deren finanzielle Aspekte. Bis auf die Zukunftspartei finden alle, dass die Türkei in den Verhandlungen mit der EU eine harte Haltung einnehmen soll. Reihum wird gefordert, dass internationale Akteure, insbesondere die EU-Staaten, Geld für den Wiederaufbau Syriens und Rückführungen bereitstellen sollen. Bei Nicht-Kooperation werde die Türkei einseitig aus dem Flüchtlingsdeal aussteigen, heißt es.

Die sechs Parteien kritisieren den Flüchtlingsdeal als „Politik der offenen Tür“. Zwar haben sie in der Flüchtlingsfrage selbst noch keinen Konsens gefunden, aber in zwei Punkten ist man sich einig: Alle wollen die Flüchtlinge rückführen und die Migrationspolitik mit der EU neu verhandeln – insbesondere, was die finanzielle Gegenleistung dafür betrifft. Im Detail klaffen die Ansichten der Parteien aber weit auseinander. Jedenfalls soll Flüchtlingen die Konzentration oder Ghettobildung in Stadtteilen, Bezirken und Provinzen verboten werden. 

Im Gegensatz zu den anderen Parteien setzt die progressive kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament ist und die wegen eines Verbotsverfahrens nicht bei den Wahlen antritt, auf einen menschenrechtlichen Ansatz. Sie will das Einwanderungs- und Asylrecht wieder stärken. Geht es nach der HDP, wird das Rücknahmeabkommen mit der EU gekündigt, und Flüchtlinge erhalten das Recht, in EU- und andere westliche Länder zu gehen.

Die EU muss sich rüsten

Die Herausforderung für die EU bleibt, einen Kurswechsel zu einer menschlichen und nachhaltigen Flüchtlingspolitik zu vollziehen und eine einheitliche Linie zu finden. Nur wenn sie das schafft, kann sie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien glaubwürdig vertreten. Allerdings werden die Verhandlungen der EU mit der Türkei nach den Wahlen nicht einfacher werden, auch wenn bei einem Machtwechsel eher ein berechenbarer Kurs zu erwarten wäre. Für konstruktive Verhandlungen sind vor allem zwei Fragen zu beantworten: Ist es überhaupt noch sinnvoll, die Flüchtlingsfrage mit einer Beitrittsperspektive zu verknüpfen? Und welche negativen Folgen könnten finanzielle und politische Konzessionen haben, von denen die demokratischen Kräfte in der Türkei geschwächt werden?

Kurdin bei einer Demonstration gegen die Besetzung Afrins, Toulouse 2018
Toulouse, 2018: Eine Kurdin demonstriert gegen Erdoğans Angriff auf Afrin. Die Stadt in Nordsyrien befindet sich seither unter türkischer Kontrolle. Laut Amnesty International lassen die türkischen Streitkräfte den bewaffneten Gruppen in Syrien freie Hand bei schweren Menschenrechtsverletzungen an der überwiegend kurdischen Zivilbevölkerung. © Getty Images

Grundsätzlich sollte die EU den völkerrechtswidrigen militärischen Vorstößen der Türkei in Nordsyrien eine klare Absage erteilen. Diese führten bereits mehrfach zur Vertreibung der angestammten Bevölkerung – primär Kurden, Jesiden, assyrische und armenische Christen – und bilden den Nährboden für weitere Konflikte. Die EU muss im Blick haben, dass bis auf die kurdische HDP alle Parteien des Sechser-Bündnisses diese Einmärsche unterstützen. 

Die Regierung Erdoğan will sogenannte Sicherheitszonen in mehrheitlich kurdisch verwalteten Gebieten in Nordsyrien gewährleisten, um zwei Millionen Flüchtlinge anzusiedeln und gleichzeitig die demografische Struktur zum Nachteil der Kurden zu verändern – wie das bereits in der seit 2018 besetzten Afrin-Region geschah. Die EU sollte versuchen, den Handlungsspielraum der Türkei für solch eine aggressive Politik einzuschränken, anstatt ihn durch Zugeständnisse zu erweitern.

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Conclusio

Nach sieben Jahren Flüchtlingsvereinbarung ist die Luft raus: Die türkische Bevölkerung möchte nicht mehr Pufferzone der EU sein, die Politik zieht vor den anstehenden Wahlen mit. Eine Hyper­inflation und das schwere Erdbeben haben die Entfremdung zwischen Türkei und EU zusätzlich beschleunigt. Sowohl Erdoğan und seine regierende AKP als auch das oppositionelle Sechser-Bündnis wollen mit finanzieller Unterstützung der EU die Rückführung von Flüchtlingen und den Wiederaufbau in Syrien umsetzen. Auch ist zu erwarten, dass die türkische Seite ihre Kooperation weiterhin mit Fortschritten im Beitrittsprozess verknüpfen wird. Die EU muss zu einem einheitlichen Asylkurs finden, um glaubwürdig mit der Türkei verhandeln zu können, und die türkischen Einmärsche in Syrien klar ­verurteilen. Diese verursachen Flucht.

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Illustration von Rasim Marz
ist Historiker und Türkei-Experte

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