Experten-Forum: Ohne Lockdowns durch Corona
Vor fünf Jahren löste die Corona-Pandemie den tiefsten Einschnitt in unsere Freiheitsrechte seit dem Zweiten Weltkrieg aus. In Schweden setzte Chef-Epidemiologe Anders Tegnell auf Freiwilligkeit statt Zwang. Beim Pragmaticus-Experten-Forum in Wien erklärt er seine damalige Strategie.

Vor fünf Jahren löste die Corona-Pandemie den tiefsten Einschnitt in unser gesellschaftliches Leben seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Schulschließungen, Ausgangssperren, Impfpflicht und Zugangsregeln hinterließen noch Jahre später eine gespaltene Gesellschaft. Um ein Virus abzubremsen, das früher oder später jeden erwischen würde, schränkte die Politik Freiheiten der Bürger ein. Nicht nur in Österreich, sondern in vielen Staaten weltweit. Erklärtes Ziel war es, dass die Krankenhäuser nicht zu viele Intensivpatienten gleichzeitig versorgen müssen.
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- Mediziner Martin Sprenger über das verspielte Vertrauen
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Das gleiche Ziel hatte man auch in Schweden. Allerdings wurde diesem wichtigem Aspekt, nicht alles andere untergeordnet. Die Bürger sollten wissen, was auf dem Spiel steht und selber Verantwortung tragen. Zuständig für den Umgang mit der Pandemie war allen voran der Infektionsspezialist Anders Tegnell. In seinem neu auf deutsch erschienen Buch „Der andere Weg. Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe die Pandemie zähmte“ reflektiert er über den Verlauf der Pandemie, was er heute besser machen würde und warum die Welt einen anderen Weg ging, als den in Schweden.
Die Strategie ist aufgegangen: Schweden verzeichnet eine geringere Übersterblichkeit als die meisten anderen Länder Europas, die Intensivstationen sind nicht zusammengebrochen, obwohl Kinder in die Schule durften und die Impfung fand breite Akzeptanz in der Bevölkerung, obwohl es Ungeimpften erlaubt war, Essen zu gehen. Damals galt der freizügige Weg in Österreich und Deutschland, aber auch manchen Beobachtern in Schweden, als fataler Irrweg.
Am Dienstag sprach Anders Tegnell in Wien mit Der Pragmaticus-Chefredakteur Andreas Schnauder über sein Buch und Schwedens Weg durch die Pandemie. Doch noch bevor es richtig losging, durften die rund einhundert geladenen Gäste im Festsaal des medizinhistorischen Mueseums Josephinum Fragen aus unserer österreichweiten Umfrage über die Pandemie beantworten.
Drei Fragen an das Publikum
Hat die Pandemie Österreichs Gesellschaft nachhaltig gespalten? Das Publikum bejahte dies zu 85 Prozent. Österreichweit waren 79 Prozent dieser Auffassung. Haben die Corona-Jahre das Vertrauen in die Politik gestärkt, oder geschwächt? Hier gaben 70 Prozent der Anwesenden an, Vertrauen verloren zu haben. Landesweit waren dies etwas weniger, nämlich 52 Prozent. Und schließlich gaben 54 Prozent der Gäste an, dass ihr Vertrauen in klassische Medien geschwächt wurde, während es landesweit 44 Prozent der Befragten so erging. Fünf Jahre nach beginn der Pandemie sieht sich Österreich also gespalten und enttäuscht von der Politik. Wie ist die Stimmung in Schweden?
Eigenverantwortung
Anders Tegnell ist sicher, die Schweden blicken auf die Pandemie als eine Zeit zurück, in der man gemeinsam eine große Krise gemeistert hat. Das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden sei nach wie vor sehr stark und die politische Landschaft ist – zumindest in Fragen der Pandemie – nicht in Lager geteilt. „In den fünf Jahren habe ich viele Mitbürger getroffen, nicht einer hat unseren Zugang kritisiert, alle waren froh, dass ihnen Lockdowns und dergleichen erspart geblieben sind“, sagt Tegnell.
Statt Lockdowns zu verhängen, forderte die Schwedische Gesundheitsbehörde die Bevölkerung nachdrücklich auf, ihre Kontakte zu reduzieren: „Wir sagten den Bürger stets, warum sie etwas tun sollten, nicht genau, wie sie es tun müssen. Manche können von zuhause aus arbeiten, andere müssen zur Arbeit, aber können vielleicht mit dem Rad statt dem Zug fahren, um Kontakte zu reduzieren.“ Die Politik habe der Behörde vertraut und unterstützte sie. Schweden habe eine andere Tradition, als viele andere Länder: die Politik gibt Ziele vor, aber die Behörde entscheidet autonom, wie sie am besten zu erreichen sind, erklärt der Mediziner. Anders als in Österreich, wo die Politik über die Köpfe der Experten hinweg, eine Maskenpflicht verordnete etwa, entschied sich das Team rund um Tegnell für einen anderen Weg.
Weniger Tests und keine Maskenpflicht
Beim Einsatz von Masken setzten die Schweden auch auf Eigenverantwortung, erklärt Tegnell: „Wir wussten, dass Masken sehr wichtig in Spitälern sind. Aber wir wussten auch, wie entscheidend es ist, sie korrekt zu tragen, sie richtig aufzusetzen und abzunehmen, sie rechtzeitig zu wechseln. Wir sahen aus anderen Ländern, auch Österreich, dass Masken oft überall hingen statt richtig über Mund- und Nase, und kamen zu dem Schluss, dass eine Maskenpflicht nichts bringen würde. Wir empfahlen deren Gebrauch für kurze Aufenthalte in eng besetzten Räumen.“
Auch in Schweden wurde regelmäßig auf Covid-19 getestet, betont Tegnell: „Wir sagten aber stets, wenn man testet, muss man genau wissen, was man als nächstes macht, also die richtige Behandlung zu beginnen, oder dass positiv getestete Personen sich anders verhalten sollten. Aber Testen war nie Selbstzweck und somit einigermaßen kosteneffizient.“
Schulen blieben offen
Wie konnte Schweden voraussehen, dass Schulschließungen wie sie die Nachbarländer reihum beschlossen, der falsche Weg sein würde – worüber auch in Österreich eher Konsens herrscht mittlerweile?
Tatsächlich habe man diese Frage wie alle anderen debattiert, erklärt Tegnell: „Letztlich war es aber unserer einfachste Entscheidung, die Schulen offen zu lassen. Die Datenlage aus China, Italien und anderen Orten war eindeutig, dass Kinder kaum schwere Symptome entwickelten und fast nie ins Spital mussten. Wir sahen auch aus den Daten, dass Kinder kaum Erwachsene ansteckten. Aber wir wussten seit Jahrzehnten wie wichtig Schulen sind, für ein langes, gesundes Leben. Die Abwägung der Kosten und Nutzen war eindeutig. Wir haben uns aber auch mit Bildungsexperten ausgetauscht, die uns sagten, ab welchem Alter es für Schüler zumutbar ist, zuhause zu lernen. Also ließen wir zweitweise Oberstufen und die Unis in den Fernunterricht wechseln.“
Außerdem hätten geschlossene Schulen für das Gesundheitssystem bedeutet, dass zehn bis 15 Prozent der Mitarbeiter wegen Betreuungspflichten ausfallen würden, erklärt Tegnell. Und letztlich ging es ja darum, dass das System nicht überlastet wird. In Schweden kam es nie zu einer Überlastung der Intensivbetten. Binnen kürzester Zeit haben Spitäler die Zahl solcher Betten verdoppelt und zusätzliche Kategorien eingeführt, die leichter zu betreiben waren. „Die Ärzte in Schweden waren sehr gut darin zu entscheiden, welche Patienten, welche Art von Versorgung benötigten“, sagt Tegnell, der auch von seinen zwei Töchtern im intensivmedizinischen Bereich hautnah erfuhr, welchen enormen Kraftakt die Mitarbeiter zu leisten hatten.
Altersheime am härtesten betroffen
Die Corona-Toten, die Schweden zu beklagen hatte, gingen vor allem auf Bewohner in Altersheimen zurück. Der Schutz deren Bewohner ist ein wunder Punkt und Anders Tegnell hat wiederholt eingestanden, dass man mehr hätte tun sollen. Warum Altersheime so anfällig für Covid-19 waren, erklärt der ehemalige Chefepidemiolge so: „In Schweden leben Menschen in Altersheimen meist nur in der letzten Phase ihres Lebens, wenn sie bereits sehr schwach sind. Es sind soziale Einrichtungen, die weniger auf medizinische Versorgung ausgerichtet sind. Im Schnitt lebt ein Bewohner sechs bis sieben Monate in einem Heim.“
Heime durften nicht entscheiden, ob Besuche erlaubt sind. Das Recht der Bewohner in ihrem Heim besucht zu werden ist in Schweden klar verankert. Heimbetreiber mussten eine Notsituation von den Gesundheitsbehörden bestätigen lassen, bevor sie Besucher aussperren hätten dürfen. Das haben kaum welche versucht und keiner der wenigen Anträge wurde bewilligt. Spitäler in Schweden konnten hingegen autonom regeln, wie sie mit Besuchern umgehen. Dass alte Menschen mit oder ohne Covid reihenweise verstarben, ohne ihre Angehörigen zu sehen, kam somit im Vergleich zu vielen anderen Ländern seltener vor.
Die Ausnahme-Pandemie
Eine Rege Diskussion entwickelte sich schließlich aus den Fragen des Publikums. Wie konnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den chinesischen Weg, statt den Schwedischen Ansatz als Beispielhaft hervorheben?
Für den erfahrenen Epidemiologen Tegnell kam es überraschend, dass die Corona-Pandemie derart unterschiedliche Maßnahmen hervorbrachte, als frühere Ausbrüche. „Ich stelle mir die Frage, ob es auch damit zu tun hatte, dass es in China die ersten Corona-Fälle gab. Hätte die Krankheit ihren Ausgang in Mexiko oder Brasilien gehabt, Ländern in denen niemals Lockdowns erzwungen worden wären, wäre der Umgang im Rest der Welt vielleicht anders gewesen. In China gehört es schließlich zum System, die Bevölkerung derart zu kontrollieren und sie machten es allen vor”, erwägt Tegnell. Die WHO sei außerdem keine wissenschaftliche, sondern eine politische Organisation.
Doch Erfahrungen, wie die bei der Eindämmung der Ebola-Epidemie in Westafrika, haben Tegnell gelehrt, dass solche Gesundheitskrisen erst in den Griff zu kriegen sind, wenn die Bevölkerung versteht, worum es geht. Alle Versuche, strikte Maßnahmen durchzupeitschen hatten versagt, erst mit Aufklärung und Eigenverantwortung änderte sich die Lage.
Impfpflicht als fatales Signal
Die Akzeptanz der Impfung in Schweden war sehr hoch. „Wir haben die Menschen genau aufgeklärt und darauf gesetzt, dass sie sich für eine Impfung entscheiden. Wir wussten, sie schützt sehr gut vor schweren verläufen, aber nicht vor Ansteckung, und haben das kommuniziert.“ Zugangsbeschränkungen oder gar eine Impfpflicht wären daher nicht sinnvoll gewesen. „Der beste Weg, das Vertrauen in die Impfung zu untergraben, ist sie vorzuschreiben“, sagt der Mediziner.
Was ist die wichtigste Lektion für die nächste Pandemie? Für Anders Tegnell steht fest: „Wir werden nicht die gleiche Pandmie wieder erleben. Viele machen den Fehler, stets die letzte Gesundheitskrise anzugehen, statt sich auf die neue Situation einzustellen. Wir müssen flexibel bleiben, neue Erkenntnisse analysieren und mit Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten umsetzen.“
Mehr über den schwedischen Weg gibt's hier zum Nachlesen:
Der andere Weg
- Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell die Pandemie zähmte
- Der Pragmaticus Jahresabo + „Der andere Weg“ als Geschenk
- Erscheinungstermin: 27.02.2025
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