Verantwortung statt Zwang
Während der Pandemie in Schweden verzichtete man auf massive Einschränkungen und wurde dafür hart kritisiert. Verantwortlich für die Strategie war der Epidemiologe Anders Tegnell. In seinem Buch gewährt er spannende Einblicke.

Fünf Jahre ist es nun her, dass Covid-19 seinen Lauf nahm. Ein guter Anlass, um sich noch einmal die unterschiedlichen Wege vor Augen zu führen, die die jeweiligen Länder im Umgang mit einer noch nicht da gewesenen globalen Krise eingeschlagen haben. Schweden wählte einen Alleingang und entschied sich für eine Strategie der Freiwilligkeit und der Eigenverantwortung sowie einen Fokus auf die langfristige Resilienz der gesamten Gesellschaft. Dieser Weg wurde von vielen kritisch gesehen und sorgte für eine heftige Debatte vor allem in Ländern wie Deutschland und Österreich, die auf strenge Maßnahmen gesetzt hatten.
Das Dossier zum Thema
- Infektiologe Franz Allerberger erklärt (seinen) österreichischen Weg
- Eine Umfrage über die Fehler der Pandemie aus Sicht der Österreicher
- Mediziner Martin Sprenger über das verspielte Vertrauen
- Ökonom Martin Halla über die globalen Wirtschaftsfolgen
- Soziologin Ulrike Zartler über die Resilienztipps der Jugend
- Florian Krammer, Richard Neher und David Quammen über kommende Pandemien
- Die Übersicht: Alle Beiträge über die Corona-Pandemie
Appell an die Vernunft
Schweden verzichtete bewusst auf strikte Lockdowns und setzte stattdessen auf Verhaltensempfehlungen, um die Virus-Verbreitung einzuschränken. Jüngere Kinder konnten weiterhin die Schule besuchen, und die Geschäfte blieben offen – nach Maßgabe sorgfältig ausgearbeiteter Verhaltensregeln.
Diese Strategie kam in den politischen Führungsebenen Deutschlands und Österreichs nicht gut an, zumal man in diesen Ländern schnelle, rigorose und für alle verpflichtende Maßnahmen durchsetzte. Mit diesen weitreichenden Lockdowns, dem verpflichtenden Tragen von Atemschutzmasken und Ausgangssperren wollte man den Druck auf das Gesundheitssystem verringern und die Anzahl der Covid-Todesfälle so gering wie möglich halten. Die wirtschaftlichen und sozialen Kosten waren allerdings hoch.
Kritiker haben unseren Weg als unverantwortliches Laissez-faire abgetan – doch das traf nie zu.
Kritiker der schwedischen Strategie haben unseren Weg als unverantwortliches Laissez-faire abgetan. Doch das traf nie zu. Wir haben nur mit größter Sorgfalt versucht, eine Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit und anderen Bedürfnissen der Gesellschaft zu schaffen. Die negativen Effekte der rigorosen Maßnahmen wurden in vielen Ländern überhaupt nicht berücksichtigt.
Geringe Übersterblichkeit
In der Rückblende ergeben die Daten ein vielschichtiges Bild. Während Schweden anfänglich im Vergleich zu den Nachbarländern viele Covid-Todesfälle zu beklagen hatte, war die Übersterblichkeit letztlich geringer als in den meisten anderen Ländern. Vermieden haben wir auch Krisen in der psychischen Gesundheit der Bevölkerung, der Bildung und der Wirtschaft, wie sie in manch anderen Ländern leider zu beobachten waren.
Zahlen & Fakten
Aus beiden Strategien lassen sich Lehren für künftige Pandemien ziehen. Die Effizienz, mit der Deutschland und Österreich Ressourcen mobilisierten, zeigt die Wichtigkeit schnellen Handelns. Der schwedische Weg wiederum veranschaulicht, welch bedeutende Rolle Vertrauen und Nachhaltigkeit in der Gesundheitspolitik spielen. Im Rückblick erkennt man, dass jedes Land seine eigene Strategie im Kontext mit seinen eigenen Werten, dem jeweiligen politischen Stil und den gesellschaftlichen Prioritäten entwickelte und dass es in der globalen Pandemiebekämpfung keine Blaupause geben kann, die für alle Gültigkeit hat.
Die Pandemie in Schweden
Die folgenden Auszüge stammen aus dem Buch „Der andere Weg“, das Anders Tegnell zusammen mit der Journalistin Fanny Härgestam verfasst hat. Die WHO plädierte am 16. März 2020 für flächendeckendes Testen. Anders Tegnell und seine Kollegen sollten für Schweden eine Strategie formulieren:
Ich hatte meine Zweifel, was die Konzentration auf das Testen betraf, aber ich war ziemlich allein mit meiner Skepsis. Außerdem kam der Auftrag von weiter oben. Die Politik hatte nun das Sagen, und diese sah das Testen im großen Stil als Schlüssel in der Pandemiebekämpfung.
Eine echte interne Diskussion über diese Frage führten wir in der FHM (Folkhälsomyndigheten, Behörde für öffentliche Gesundheit; Anm.) nie. Ich hatte keine schlagkräftige Argumentation vorzuweisen, abgesehen davon, dass der Umgang mit einer Pandemie ansonsten nicht so ablief. Laut dem Pandemieplan fährt man die Testungen zurück, sobald die Krankheit sich in der Gesellschaft ausgebreitet hat, da man es ohnehin nicht schafft, die Ergebnisse nachzuverfolgen, womit das Testen beinahe sinnlos ist. Normalerweise gehören Testen und Kontaktnachverfolgung zusammen. Aber nun war plötzlich Testen im maximalen Umfang angesagt, und zwar in allen Phasen.
International herrschte ein kolossaler Druck, breit zu testen. Alle Länder nützten ihre Kapazitäten bis zur Neige aus. Wer keine Kapazitäten hatte, versuchte, welche aufzubauen. Schon früh gab es in vielen Ländern die Absicht, Covid-19 komplett auszurotten, obwohl es keine Diagnose geben konnte, wenn man nicht testete. Dänemark sollte unter den nordischen Ländern später herausstechen, da das Land vom Beginn der Pandemie bis zum Herbst 2021 jeden Mitbürger im Schnitt sieben Mal testete, wie ein Bericht der nordischen Statistikbehörden angibt. Nur wenige Länder weltweit führten so viele Tests pro Kopf durch. (Zu dem Zeitpunkt war in Österreich jeder Bürger im Schnitt bereits zehnmal getestet worden; Anm.). (...)
In Schweden setzte man darauf, dass man bei Symptomen zu Hause bleiben sollte. Bei der Weltgesundheitsbehörde (WHO) schien das breite Testen zu einem Dogma geworden zu sein.
Schulen bleiben offen
Noch im März 2020 sperrten mehrere Staaten die Schulen zu, trotz der damit verbundenen Folgen für Kinder und Eltern. In Schweden wechselten nur Oberstufen und Universitäten zeitweise in den Fernunterricht.
Dänemark beschloss, seine Schulen zu schließen. Kurz darauf zog Norwegen nach. Dass sie diesen Kurs so schnell einschlugen, fand ich extrem. Die Informationen, die uns zu diesem Zeitpunkt vorlagen, deuteten nicht darauf hin, dass Kinder die Beschleuniger der Infektion waren. Sie schienen sich weder selbst in besonderem Maße anzustecken, noch steckten sie viele andere an. Eventuell Oberstufenschüler, dachten wir in der Gesundheitsbehörde. Also diskutierten wir mit den Schulbehörden darüber, wem Fernunterricht zuzumuten war. (...)
Einige Jahre zuvor hatte ich in Zusammenarbeit mit mehreren ausländischen Kollegen einen Artikel über den Effekt von Schulschließungen auf die Infektionsverbreitung verfasst, in dem wir Schulschließungen im europäischen Kontext problematisierten. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass Schulschließungen keine eindeutigen Vorteile bei der Seucheneindämmung hatten. Dagegen gab es eine Vielzahl von potenziell negativen Aspekten.
Nach Corona: Der fatale Tunnelblick
Dass es für Kinder extrem wichtig ist, in die Schule zu gehen, steht außer Frage. Kinder, die es ohnehin schon schwer haben, werden am härtesten von Schulschließungen getroffen. Wer zum Beispiel zu Hause Gewalt erfährt, ist dieser dadurch in größerem Ausmaß ausgesetzt. Außerdem stellt sich die Frage, was Kinder tun, wenn sie nicht in der Schule sind. Eine Gefahr bestand darin, dass neue, nicht nachvollziehbare Kontaktmuster entstünden und sie die Krankheit so an mehrere Personen weiterreichen würden. Dies gilt insbesondere für ältere Schüler, die nicht zu Hause bleiben, sondern Freunde treffen wollen.
Ein weiterer Risikofaktor war, dass die Eltern mit den Kindern zu Hause blieben, was sich wiederum auf die Kapazität im Gesundheitswesen auswirken würde, falls die dort angestellten Arbeitskräfte nicht zur Arbeit erschienen. Diese Studie hatte ich im Hinterkopf, als Dänemarks Entscheidung bekannt wurde, und ich stellte fest, dass die Pandemie sich im Rekordtempo zu einem politischen Pulverfass entwickelt hatte. Die Welt war in Panik.
Keine Lockdowns
Noch im März 2020 verhängten mehrere Staaten Lockdowns. In Schweden kamen Ausgangssperren nie in Frage.
„Lockdown“ war im Zusammenhang mit Infektionsschutz noch kein etablierter Begriff und in der Neuzeit noch nie mit Pandemien in Verbindung gebracht worden. Aber dann brach er rasend schnell über die Menschen herein. Die konkrete Form der Lockdowns variierte von Land zu Land. (...)
Die gesamte Gesellschaft abzuriegeln, war für uns zu keiner Zeit denkbar.
Die Lockdownbefürworter, deren Argumente ich gehört hatte, rechtfertigten eine solche Abriegelung mit dem Vorsorgeprinzip. Eine weite Verbreitung des Virus zu verhindern und die Bevölkerung durch eine Abriegelung des öffentlichen Raums zu schützen, war vor diesem Hintergrund eine präventive Handlung. Nach dieser Logik müsste die Anzahl der Erkrankungen und Todesfälle zurückgehen, jedenfalls auf kurze Sicht. Aber ich fragte mich, zu welchem wirtschaftlichen und sozialen Preis. Das Vorsorgeprinzip im Hinblick auf den Infektionsschutz beschäftigte mich unaufhörlich.
Dabei deutet vieles darauf hin, dass übertriebene Maßnahmen negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Lebensqualität hätten, und daher sollte jede Maßnahme sorgfältig gegen andere Faktoren abgewogen werden. Es gibt zu wenige wissenschaftliche Studien, aber meine eigenen Erfahrungen, sowohl beruflich als auch privat, bringen mich zu diesem Schluss. (...)
Von außen betrachtet schien es, als stellten wir uns gegen die ganze Welt. Wann hatten wir uns dafür entschieden? Den einen Augenblick gab es nicht, dazu diskutierten wir zu lange und zu ausführlich. Wir überprüften permanent unsere eigenen Einschätzungen. Aber die gesamte Gesellschaft abzuriegeln, war für uns zu keiner Zeit denkbar.
Gegen eine Maskenpflicht
Schweden verzichtete auf eine Maskenpflicht. Möglich war das nur, weil die Politik den Experten folgte.
Fast die ganze Welt hatte die Masken schon ab einem frühen Stadium der Pandemie empfohlen. Aber wir fanden keine neuen, schlagkräftigen Argumente, um sie für Schweden zu empfehlen.
Wie konnte es sein, dass die ganze Welt falschlag und wir richtig?
So hatte ich das nie gesehen, mich aber monatelang gewundert, dass so viele Länder so sehr auf die Masken setzten. Ich wurde bei Pressekonferenzen oft danach gefragt, aber für uns waren die Masken keine große Sache. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie so viele Länder sich auf eine Maßnahme stützen konnten, deren Sinnhaftigkeit so zweifelhaft war. (...)
Warum andere zu einem anderen Schluss kamen, vermag ich nicht zu sagen. Ich glaube, die Antwort lag in der Politik. Die Frage hatte schnell große politische Sprengkraft entfaltet. Auf den Regierungen lastete großer Druck – man musste handeln und der Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit geben. Da passten Atemschutzmasken gut ins Bild. In Schweden jedoch hörte die Regierung auf ihre Experten.
Impfung ohne Polarisierung
Auch Debatten über die Impfpflicht blieben den Schweden erspart. Die Behörden setzten auf Aufklärung und Freiwilligkeit.
Ich halte es für unerhört wichtig, dass der Staat seine Bürger in einer Pandemie nicht überfährt und von jetzt auf gleich eine Impfkampagne startet. Die Menschen müssen Gelegenheit haben, sich vorzubereiten, und Antworten auf eventuelle Fragen bekommen. Daher muss man gesichertes Wissen kommunizieren und allfällige Zweifel respektieren. Solche Zweifel begegneten uns nicht zuletzt in gewissen Social-Media-Gruppen. Wir versuchten, sie im Auge zu behalten und ihre Fragen zu beantworten. Doch die Zweifler waren in der Minderheit. Im Herbst 2020 warteten die allermeisten Schweden sehnsüchtig auf den Impfstoff. (...)
Obwohl ich im Alltag nicht das Gefühl hatte, dass das Eintreffen des Impfstoffs ein Meilenstein war, zeigen die uns heute vorliegenden Zahlen, dass genau das der Fall war – es gab ein Davor und ein Danach. Die Lage war endlich unter Kontrolle.
Der andere Weg
- Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell die Pandemie zähmte
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- Erscheinungstermin: 27.02.2025