Zeitfrage: Kommende Pandemien
Die nächste Pandemie ist sicher. Die Frage ist nur, wann sie kommt und welcher Virus sie auslöst. Eine Bewertung möglicher Kandidaten.

Nicht nur für Menschen, die sich normalerweise nicht mit Viren und Infektionsgeschehen beschäftigen, kam die Corona-Pandemie Ende 2019 überraschend. Vielleicht nicht im selben Ausmaß, aber auch Virologen und Epidemiologen hatten nicht damit gerechnet, dass zu eben jenem Zeitpunkt ein neuartiges Coronavirus eine Pandemie auslösen könnte.
Das Dossier zum Thema
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Heißt das, man kann kommende Pandemien nicht vorhersagen? Jein. Der Virologe Florian Krammer und der Biophysiker Richard Neher sowie der Wissenschaftsjournalist David Quammen gehören zu jenen Experten, die verdächtige Entwicklungen sehr genau beobachten. Wir haben sie gefragt, welche Viren das Potenzial haben, in näherer Zukunft eine erneute Pandemie auszulösen. Hier sind ihre Einschätzungen:
Florian Krammer über die Macht der Influenza-Viren
„Was man mit nahezu absoluter Sicherheit sagen kann, ist, dass es wieder eine Pandemie geben wird. Es reicht, einen Blick auf die Intervalle seit 1900 zu werfen: Wir hatten 1918, 1957, 1968, 1981/82, 2009 und 2019/20 Pandemien. Also müssen wir im Schnitt mit etwa vier Pandemien in 100 Jahren rechnen. Von den sechs Pandemien der letzten 100 Jahre wurden vier durch Influenzaviren ausgelöst, jeweils eine durch ein Lentivirus (HIV-1, 1981/82) und ein Corona-Virus.
Pandemien entstehen, wenn für den Menschen neue Viren von Tieren auf den Menschen überspringen und sich dann so verändern, dass sie von Mensch zu Mensch übertragen werden können und sich außerdem noch schnell verbreiten. Je mehr Menschen es gibt, je mehr natürliche Habitate zerstört werden und je mehr die Welt vernetzt ist, desto leichter kann es zu Pandemien kommen. Die Chancen für einen Sprung werden dadurch größer, und es kommt leichter zur Ausbreitung.
Nachdem Influenza-Viren bereits viermal eine Pandemie ausgelöst haben, ist es am wahrscheinlichsten, dass die nächste wieder eine Influenza-Pandemie sein wird. Nur, welcher Stamm der Influenza?
Wir kennen 19 verschiedene Subtypen von Influenza in Tieren. Einer davon ist H5N1, die Vogelgrippe, die uns derzeit Sorgen bereitet. Jedoch sind Vorhersagen schwierig: 2009, als es zu einer Schweinegrippe-Pandemie durch H1N1 kam, war die Vermutung, dass die nächste Pandemie von H5N1 ausgehen würde.
Zu den Erfolgsfaktoren von Influenza-Viren wie H5N1 gehört, dass sie für die Infektion Neuraminsäure-Rezeptoren verwenden, die auf allen möglichen tierischen Zellen vorkommen. Sie müssen sich deshalb nicht speziell an einen Wirt anpassen, sondern können sehr leicht überspringen. Außerdem mutieren sie schnell, wobei sie den Umstand ausnutzen, dass ihr Genom in Segmente aufgeteilt ist, was sie sehr flexibel macht. Wenn es zum Beispiel zu einer Infektion mit zwei Subtypen im selben Tier (oder Menschen) kommt, können diese ganze Segmente austauschen, und es entsteht ein Virus mit neuen Eigenschaften.
Influenza-Viren sind also ziemliche Alleskönner, und sie kommen fast überall vor: Die Vogelwelt ist voll mit ihnen, viele Säugetiere und sogar Fische haben sie. Immer wieder finden wir neue Subtypen. Aufgrund der momentanen Lage ist es zu begrüßen, wenn Länder wie Finnland H5-Impfungen für Menschen anbieten, die in Geflügelbetrieben arbeiten.
Grundsätzlich glaube ich aber, dass die Vorbereitung auf kommende Pandemien global betrachtet nicht besonders gut ist. Die technischen Möglichkeiten sind heute zwar viel besser als vor der Corona-Pandemie, etwa was das Monitoring von Mutationen oder die Herstellung von Impfstoffen betrifft.
Um die globale Zusammenarbeit steht es derzeit aber eher schlecht. Und nicht alle Viren verursachen die gleichen Probleme; man braucht also angepasste Ansätze und Gegenmaßnahmen sowie globale Szenarien und Pläne. Weil wir gerade eine Pandemie erlebt haben, hofft man, dass so bald keine neue kommt. Ich fürchte, dass uns die nächste vermutlich wieder recht unvorbereitet erwischen wird.“
Richard Neher über Ebola im Vergleich zu SARS
„Pandemien entstehen, wenn es einem für den Menschen neuen Virus gelingt, sich so an den Menschen anzupassen, dass eine Übertragung von Mensch zu Mensch möglich ist und das Virus sich weltweit in der menschlichen Population ausbreiten kann. Einer Pandemie muss nicht unmittelbar ein solches „Spillover-Event“, bei dem ein Virus von einem Tier auf den Menschen überspringt, vorausgehen. Im Prinzip können sich auch bekannte Viren exponentiell ausbreiten, wenn sich die Umwelt oder das Virus verändern.
Pandemien haben ein Ablaufdatum: Sobald ein Virus kontinuierlich im Menschen zirkuliert und das exponentielle Wachstum vorbei ist, spricht man von einer Endemie; das klassische Beispiel dafür ist saisonale Grippe.
Das Ebola-Virus zirkuliert nicht im Menschen, es hat sein Reservoir in Tieren. Dort vermehrt es sich und entwickelt sich weiter. Nur gelegentlich kommt es zu Ausbrüchen beim Menschen, die aber regional begrenzt bleiben. Der größte Ebola-Ausbruch war vor zehn Jahren in Westafrika, als einige 10.000 Menschen daran starben. Diese begrenzten Ausbrüche sind Epidemien.
Dass eine Ebola-Pandemie entstehen könnte, ist unwahrscheinlich: Eine Infektion bemerkt man sofort, weil Betroffene sehr schwer erkranken. Da Ebola durch Körperflüssigkeiten und Körperkontakt übertragen wird, kann man das Virus gut eindämmen, indem man Erkrankte isoliert.
Im Gegensatz zum Ebola-Virus kann ein Corona-Virus wie SARS-CoV-2 viel leichter eine Pandemie auslösen: Es gibt eine unglaubliche Anzahl unterschiedlicher Corona--Viren, die sehr viele Tierarten infizieren. Die Chance, dass dabei ein Virus entsteht, das Menschen infizieren kann, ist entsprechend größer als bei Ebola. Zu den Erfolgsfaktoren von SARS-CoV-2 gehört, dass Infektionen mitunter fast ohne Symptome verlaufen und die Übertragbarkeit mittels Tröpfchen und Aerosolen eine Ausbreitung erleichtert.
Es gibt eine Reihe fortgeschrittener mathematischer und molekular-biologischer Methoden, um frühzeitig das „Pandemiepotenzial“ von Viren abzuschätzen. Zum Beispiel suchen Forschungsgruppen in den Erbinformationen von Viren im Tierreich nach Veränderungen, die es mit sich bringen, dass ein Virus besser an den Menschen angepasst ist. Wir kennen inzwischen eine Reihe von Warnsignalen, die ein potenziell erhöhtes Risiko für eine Übertragung von Tier zu Mensch, aus der sich eine Epidemie oder Pandemie entwickeln könnte, anzeigen.
Da auch Viren, die bereits im Menschen vorkommen, Risiken bergen, rekonstruieren wir unter anderem den „Familienstammbaum“ dieser Viren, um ihre Ausbreitung nachzuvollziehen und um frühzeitig zu erkennen, ob es Veränderungen gibt, die diese bekannten Viren funktional verändern – sie also zum Beispiel leichter übertragbar machen.
Trotz dieses technologisch sehr fortgeschrittenen Monitorings gibt es immer wieder Überraschungen. Niemand hatte etwa damit gerechnet, dass sich Rinder mit dem Vogelgrippe-Virus H5N1 anstecken würden.
Wann und wo genau eine neue Pandemie entsteht, ist daher leider fast unmöglich vorherzusagen.“
David Quammen über das Potenzial der Vogelgrippe
„Die Vogelgrippe steht bei Wissenschaftlern aktuell ganz oben auf der Watchlist. H5N1 ist wie das Corona-Virus, das die Covid-19-Pandemie ausgelöst hat, ein einsträngiges RNA-Virus. Solche Viren haben den Vorteil, dass sie sehr hohe Mutationsraten haben. Das heißt, sie können sich sehr schnell verbessern. „Verbessern“ bedeutet, neue Wirte zu erschließen, sich schneller auszubreiten, ansteckender zu werden. Je mehr Gelegenheiten es für Mutationen gibt, desto schneller können besonders erfolgreiche Varianten entstehen.
Den bestimmten Zweig, Klade genannt, von H5N1, dem derzeit Millionen von Wildvögeln zum Opfer fallen, gibt es seit etwa 2020. In dieser Zeit ist es dem Virus gelungen, auch Säugetiere zu infizieren, darunter Milchkühe. Die milden Infektionen beim Menschen waren auf den Kontakt mit den Rindern zurückzuführen.
Was der Wissenschaft nun Sorgen macht, ist, dass es auch schwere Infektionen mit H5N1 gab, von denen eine tödlich war. Diese scheinen auf eine andere Variante des Virus zurückzugehen; es ist nicht die gleiche, mit der sich die Rinder infizierten. Sollte dieser Typ die Fähigkeit entwickeln, von Mensch zu Mensch übertragbar zu werden, hätten wir ein Problem.
Ob eine Pandemie entsteht, ist eine Frage des Zufalls oder, anders gesagt, der Gelegenheit, zufällig die eine erfolgreiche Mutation hervorzubringen. Man muss also schneller sein als das Virus, um eine Pandemie zu verhindern. Es ist die Frage, ob wir das können. Bei SARS-CoV-2 konnten wir es nicht.
Bleiben wir bei H5N1: Zu jedem beliebigen Zeitpunkt gibt es auf der Erde gut 70 Milliarden Hühner in landwirtschaftlichen Betrieben. Nehmen wir an, der Kot einer Wildente gelangt in einen der größeren Betriebe, und die Hühner infizieren sich mit der Vogelgrippe. Wird das Unternehmen, dem diese Vögel gehören, die Hühner sofort töten, oder wird es vorerst schweigen, die Vögel töten und versuchen, die Behörden gar nicht oder erst später zu informieren? Wird sich die Influenza in der Folge im Bestand ausbreiten können?
Falls ja, hat H5N1 eine wunderbare Gelegenheit erhalten, sich weiterzuentwickeln und dabei praktischerweise auch gleich mit potenziellen weiteren Wirten in Form der Bauern und der Beschäftigten auf dem Betrieb in Kontakt gekommen zu sein.
Die großen Tierhaltungsbetriebe machen also das Auftreten neuer Viren, insbesondere neuer Einzelstrang-RNA-Viren, sehr viel wahrscheinlicher, weil sie Orte sind, an denen diese Viren reichlich Gelegenheit zur Mutation und zur Infektion von Menschen erhalten.
Viren können weder gehen noch rennen noch schwimmen noch fliegen, aber sie können reisen. Besonders gut mit dem Flugzeug. Innerhalb eines Tages kann eine Virusmutation aus dem Südwesten der USA einmal um die Welt jetten.
Kommt es zu einem Ausbruch mit einem neuen Virus wie jetzt bei der Vogelgrippe, wäre es also besonders wichtig, die Verbreitung sofort einzudämmen. Wir müssen verstehen, dass wir mit dem Zurückdrängen der Natur und mit unserer Art der Massentierhaltung eine neue Ära angestoßen haben – jene der Pandemien.“
Conclusio
Komplex. Pandemien entstehen nicht aus dem Nichts, sondern im Kontext bestimmter, miteinander zusammenhängender und sich wechselseitig beeinflussender Faktoren und Entwicklungen. In gewisser Weise sind Pandemien ein Kind der menschlichen Zivilisation.
Fehlende Puffer. Massentierhaltung und globale Vernetzung machen es Viren leicht, neue Fähigkiten zu entwicklen und sich zu verbreiten. Durch die Zerstörung natürlicher Ökosysteme fehlen zudem Puffer, um Pandemien zu verhindern.
Vorsorge. Das Risiko von Pandemien ist heute größer als vor der Industrialisierung und Globalisierung, aber auch die Möglichkeiten, Ausbrüche frühzeitig zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu setzen. Es gibt hochentwickelte Impftechnologien, die Risiken abmildern können. Was fehlt, ist internationale Kooperation und die Bekämpfung der Pandemie-Ursachen.
Der andere Weg
- Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell die Pandemie zähmte
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- Erscheinungstermin: 27.02.2025
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