Leben bis auf Widerruf

Die Jugendlichen der Pandemie sind heute junge Erwachsene. Ihre Erfahrungen sind wertvoll, um Folgeprobleme solcher Krisen zu reduzieren.

In dieser Zeichnung spielen zwei Kinder mit einem Fußball, der aussieht wie ein roter Corona-Virus. Das Bild ist Teil eines Beitrags der Soziologin Ulrike Zartler. Sie hat in einer Studie untersucht, wie sich die Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Corona-Pandemie einzudämmen auf 14- bis 16-jährige auswirkten. Die Schulschließungen wirkten sich besonders negativ aus. Auch waren Kinder und Jugendliche aus Familien mit weniger Geld besonders stark betroffen.
Soziale Isolation statt Spiel und Freude: Für Kinder und Jugendliche war die Corona-Pandemie eine prägende Erfahrung. © Francesco Ciccolella
×

Auf den Punkt gebracht

  • Krise. Lockdowns bedeuteten für junge Menschen krisenhafte Erfahrungen. Die Covid-Pandemie war eine tiefe Zäsur in ihrem Leben.
  • Erbe. Die tiefe Prägung der Jugendlichen durch die Pandemie hat Folgen, die ihr Ende lang überdauern werden.
  • Lehren. Um besser durch zukünftige Pandemien zu kommen, muss man wissen, wie Jugendliche und Familien durch diese Krise kamen.
  • Ungleich. Ebenso wie die Pandemie selbst, sind auch ihre Folgen durch große sozioökonomische Unterschiede bestimmt.

Wer wäre ich, wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte? Diese Frage habe ich von Jugendlichen während unserer Forschung zur Pandemie immer wieder gehört. Die Corona-Jahre wurden als einschneidendes Lebensereignis erfahren; verständlich, denn für jemanden, der zwölf Jahre alt ist, sind drei Jahre ein Viertel des gesamten Lebens – so viel wie ein ganzes Jahrzehnt für jemanden, der vierzig ist.

Das Dossier zum Thema

Die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns trafen Jugendliche genau in der Phase der Individualentwicklung, in der Menschen nach Autonomie und Abkopplung von ihrem Elternhaus streben. Statt Autonomie und Abkopplung erlebten junge Menschen eine Art Hausarrest, der, von ihnen nicht beeinflussbar, mal verhängt, mal aufgehoben wurde. Die Corona-Jahre wurden darum besonders intensiv erlebt und wirken bei jungen Erwachsenen noch heute nach. Die Pandemie ist für sie nicht vorbei.

Was konkret aber war an der Pandemie so „schlimm“ für junge Menschen? Was ist – im Guten wie im Schlechten – von der Pandemie geblieben? Kann die Gesellschaft insgesamt von den Erfahrungen der Jugendlichen lernen?

How to Survive

Als Österreich im März 2020 zum ersten Mal in den Lockdown ging, war schnell klar, dass es sich um eine gesellschaftliche Ausnahmesituation handelte. Ohne zu wissen, wie lang diese anhalten würde, haben wir als Forschungsteam beschlossen, zu dokumentieren und zu erforschen, wie Familien mit Kindern im Kindergarten- und Schulalter damit umgehen. Zweieinhalb Jahre lang haben wir, erst wöchentlich, dann in größeren zeitlichen Abständen, mit den Eltern gesprochen. Es ist meines Wissens die einzige derart umfangreiche qualitative Studie über die Corona-Jahre in Österreich.

Unter dem Titel „How to Survive a Pandemic“ haben wir in einem weiteren Forschungsprojekt gemeinsam mit 16- bis 17-jährigen Jugendlichen begonnen, ihre Sichtweisen auf die Pandemie zu erforschen. Wir wollten wissen, wie sie die Zeit erlebt haben, was positiv war, was sie belastet hat, und welche Strategien ihnen geholfen haben, damit umzugehen. Ein Ergebnis der Gespräche und Diskussionen ist ein Survival Guide, in dem die Jugendlichen schildern, wie sie durch die drei Jahre der Pandemie gekommen sind. Die Jugendlichen wünschen sich, dass er anderen hilft, mit Krisen produktiv umzugehen.

Die Kampfzonen der Pandemie

Die Lockdowns – in Österreich wurden von 2020 bis 2022 vier bundesweite Schließungen verhängt – ließen mehrere zentrale Lebensbereiche der Jugendlichen plötzlich zu einer Art Kampfzone werden: ihr körperliches, psychisches, soziales, schulisches und familiäres Leben. Das alles war plötzlich verändert.

Zuerst war es vor allem die erzwungene Bewegungslosigkeit. Kein Sport mehr, weder im Verein noch in der Schule. Stattdessen zu Hause herumsitzen, viel essen. Bei nicht wenigen verstärkten sich Essstörungen oder entstanden neu. Depressionen und Ängste aus dieser Zeit blieben auch nach dem Ende der Pandemie.

Die Jugendlichen erzählten uns von dem Gefühl der Isolation, nachdem mit den Schulschließungen der für sie wichtigste Ort des Austauschs und der sozialen Kontakte weggefallen war. Im Schuljahr 2020/21 waren die Schulen in Österreich an 80 Tagen ganz geschlossen, danach folgten Phasen von Schichtbetrieb und Teilschließungen. Viele Jugendliche erlebten die zwangsläufige Nähe zu ihren Familienmitgliedern als große Belastung: „Wir haben nicht wirklich eine Auszeit voneinander bekommen, weil wir einfach nirgends, gar nirgends hinkonnten“, so ein Schüler.

Hinzu kam das Gefühl einer tiefgehenden Verunsicherung, die durch das Stigma, „Superspreader“ zu sein, noch verstärkt wurde. Dabei waren die Bedingungen für Jugendliche aufgrund der geschlossenen Schulen und Vereine und der Kontaktverbote besonders hart. Dennoch hielten sich die Jugendlichen zumeist an die Regeln. Einige Jugendliche haben uns gesagt, wie sie das Leben, das sie vorher hatten, mehr schätzen lernten: „Mir war nicht bewusst, wie schön es früher war“, sagte einer.

Der zähe Brei

Obwohl die Corona-Jahre ein ganz massiv einschneidendes Erlebnis für die Jungen waren, ist die Zeit in ihrer Erinnerung flach, ohne besondere Hochs und Tiefs, sodass es ihnen schwerfällt, Ereignisse im Nachhinein zeitlich zuzuordnen: „ein einziger Klumpen“, „ein zäher Brei“, so die Beschreibungen. Die Jugendlichen erinnern sich, wie sie darum kämpften, sich zu motivieren, an viele Schulstunden vor dem Laptop bei ausgeschalteter Kamera, während sie etwas anderes taten.

Vor allem aber sind die oft enttäuschten Hoffnungen im Gedächtnis geblieben und das allgemeine Gefühl der Ziellosigkeit – Geburtstagsfeste, die geplant wurden, aber nie stattfanden; mündliche Prüfungen, die ebenso abgesagt wurden wie Maturabälle oder Skiausflüge, die „ganz sicher im nächsten Jahr“ nachgeholt würden. Viele berichten, sie hätten sich oft „völlig lost“ gefühlt.

Auf sich selbst zurückgeworfen, haben die Jugendlichen zugleich eine ganze Reihe von Gegenmaßnahmen entwickelt: Onlinespiele mit Freunden, Online-Treffen, Spaziergänge mit Freunden, sobald das möglich war, Sport, „Bucket Lists“ mit Vorhaben für die Zeit danach, auf die man sich freuen kann.

Für viele wurde Musik ein Rettungsanker, ein Soundtrack, um den Alltag zu bewältigen, aber auch, um sich (virtuell) auszutauschen. Viele versuchten, durch etwas Neues, zum Beispiel neue Sportarten, die Monotonie zu unterbrechen und das Gefühl der Ziellosigkeit zu bekämpfen.

Wurden die Kinder allein gelassen?

Dennoch wurden die Corona-Jahre als ein Leben im Provisorium und stets „bis auf Widerruf“ empfunden, wie eine Schülerin sagte. Das Scheitern von Vorhaben, Wünschen, Träumen und Zielen immer mit einzukalkulieren, war eine der größten Herausforderungen und eine der vielen Anpassungsleistungen, die diese Jugendlichen geschafft haben.

Wie sehr Eltern für ihre Kinder da sein konnten, hing in starkem Maß davon ab, wie es ihnen selbst ging.

Je nach „Elterntypus“ war Unterstützung dabei mal mehr, mal weniger oder auch gar nicht gegeben. Jene Eltern, die wir in unserer Studie als „Coaches“ beschrieben haben, gaben ihren Kindern detaillierte Strukturen und Routinen vor: fixe Tagespläne, Essenszeiten – durchaus gepaart mit einem hohen Kontrollbedürfnis. Der zweite Typus waren die „Cheerleader“, die auf Nachfrage unterstützten und ansonsten versuchten, zu Hause gute Stimmung zu machen. Die „Buddies“ wiederum sahen die Verantwortung hauptsächlich bei den Kindern und boten ihnen nicht aktiv Hilfe an. Die „Bystander“ hielten sich fast gänzlich heraus.

Wie sehr Eltern für ihre Kinder da sein konnten, hing in starkem Maß davon ab, wie es ihnen selbst ging. Viele kämpften mit den neuen Rahmenbedingungen, insbesondere mit dem Homeoffice, viele bangten um ihren Job oder waren vielleicht als Pflegekräfte selbst überlastet. Je nach Situation in den Familien mussten die Jugendlichen teilweise sehr viel Verantwortung übernehmen. Im Großen und Ganzen kann man sagen, sie mussten sehr schnell erwachsen werden.

Generation Corona?

Aus den geteilten Erfahrungen von einer „Generation Corona“ zu sprechen, führt zu einem falschen Bild: Zum einen blieben die geschilderten Belastungen auch nach dem Ende der Pandemie bestehen, und zum anderen war die Pandemie, das zeigt auch unsere Studie, sozial sehr selektiv.

Im März und April 2020 schien es noch so, als sei Corona ein großer „Gleichmacher“. Doch Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien hatten größere Bildungsnachteile und kämpften stärker mit psychischen Problemen.

Die sozialen Unterschiede sind auch durch die Rahmenbedingungen erklärbar: Wenn nicht für jedes Kind ein Laptop zur Verfügung steht, können nicht alle am Online-Unterricht teilnehmen. Wenn man sich das Zimmer mit Geschwistern teilt oder die Wohnung klein ist, kann man sich noch weniger aus dem Weg gehen, und die Spannungen in der Familie sind größer – nicht selten verstärkt durch finanzielle Belastungen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit der Eltern. Die sozialen Unterschiede zeigten sich auf allen Ebenen.

In den Schulen wurde bisher wenig mit den Schülern über ihre Erlebnisse gesprochen – was auch daran liegt, dass mit der Pandemie für nicht wenige die Schulzeit endete. Das Gespräch mit den Jugendlichen wäre aber wichtig: Der Anteil derer, die körperlich und psychisch unter den Nachwirkungen und Folgen leiden, ist viel zu groß.

Für mögliche zukünftige Pandemien lehren uns die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen, dass wir ihr Wohlergehen mehr ins Zentrum rücken müssen, um die Folgen zu minimieren.

×

Conclusio

Verlust. Die mit Lockdowns und Schulschließungen verbundene Isolation wurde von jungen Menschen als besonders schlimm empfunden, weil mit der Schule nicht nur ein Ort des Lernens, sondern ein Ort des ­sozialen Austauschs verloren ging.
Generation. Nicht gemachte Erfahrungen in der Corona-Zeit sind für Jugendliche unwiederbringlich. Sie wurden in dieser Zeit erwachsen. In diesem Sinne prägte die Pandemie junge Menschen besonders stark – mit schweren Folgen bis heute.
Handlungsbedarf. Die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie sollten eine größere Rolle im öffentlichen Diskurs spielen, weil sie helfen könnten, Folgeprobleme wie zum Beispiel Depressionen zu vermeiden oder abzumildern.

Buch „Der andere Weg“ von Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell.

Der andere Weg

  • Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell die Pandemie zähmte
  • Der Pragmaticus Jahresabo + „Der andere Weg“ als Geschenk
  • Erscheinungstermin: 27.02.2025

Jetzt vorbestellen

Mehr über Jugend

Mehr vom Pragmaticus