Tor zur Welt

Brain-Computer-Interfaces sind bei progressiven Lähmungen eine Möglichkeit, sich mitzuteilen und eigenständig mobil zu sein.

Die ehemaligen Teammates der News Orleans Saints, Drew Brees (Quarterback) und Steve Gleason (Safety) begrüßen sich am Rande eines Football Spiels im April 2023 in Louisiana. Gleason trägt ein BCI, das es ihm ermöglicht, den Rollstuhl zu steuern und zu kommunizieren. Brees und Gleason haben die Stirn aneinander gelegt und blicken einander an. Im Hintergrund ist ein Computer von Gleason zu sehen.
Die ehemaligen Teammates der New Orleans Saints, Drew Brees (Quarterback) und Steve Gleason (Safety), im April 2023 in Avondale, Louisiana. Gleason ist an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt, eine Erkrankung, die mit fortschreitender Lähmung verbunden ist. Er kommuniziert via BCI und steuert den Rollstuhl damit. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Wirkungspfade. Forschung zu Interaktion und Wechselwirkungen von Gehirn- und Muskelaktivität sind die Grundlage von Brain-Computer-Interfaces.
  • Steuerung. BCI können Hirnsignale nutzen, um unmittelbar, ohne direkten physischen Kontakt, Computer, Schalter oder Maschinen zu steuern.
  • Kommunikation. Neben der Manipulation von Objekten ermöglichen BCI auch die direkte Übertragung von Gedanken in Schrift oder akustische Sprache.
  • Therapie. Die Technologie kann neuronale Verbindungen stärken oder neu schaffen, die durch Traumata wie etwa ein Schlaganfall geschädigt wurden.

Brain-Computer-Interfaces (BCI) sind technische Systeme, welche die Hirnaktivität von Menschen oder Tieren direkt auf Computer oder Maschinen übertragen. Direkt bedeutet, dass der willentliche Bewegungsapparat (Motorik) und das periphere Nervensystem (innere Organe und Muskeln) umgangen werden und die Hirnaktivität über entsprechende Schnittstellen (Interfaces) Computer, Schalter oder Maschinen aktiviert oder de-aktiviert, also ein- oder ausschalten kann.

Mehr über Computer

Insofern sind BCI nicht zu unterscheiden von dem üblichen, in der Evolution beschrittenen Weg vom (meist elektrischen) Hirnkommando zum Verhalten, nur dass mit BCIs Verhalten (Motorik, Sprache) nicht mehr notwendig ist, um die Umwelt zu beeinflussen, sondern die entsprechenden Hirnkommandos  über die technischen Schnittstellen direkt die Umwelt (Maschinen und Computer) und damit die Rückmeldung aus der Umwelt steuern können.

Nervenzellen wissen nicht, was sie tun

In beiden Fällen, dem BCI- gesteuerten Verhalten und dem Normalfall des motivierten, willentlichen Verhaltens – der bisher über die gesamte Evolution üblich war –, sind uns die dabei ablaufenden Hirnvorgänge und deren Weiterleitung zu Muskeln oder Maschinen nicht bewusst. Die Organismen lernen zwar, ihre Hirnvorgänge über die erzielten Rückmeldungen und deren Wahrnehmungen aus der Umwelt indirekt zu ändern und zu steuern, aber da die Nervenzellen keine Sinneszellen für ihre eigene Aktivität haben, können wir und Tiere die Aktivitätsänderungen der Nervenzellen, weder bewusst noch unbewusst wahrnehmen.

Steve Gleason mit Freunden im Garten. Er trägt das Shirt mit seiner Nummer als Safety, die 37. Die Freunde ebenso.
Steve Gleason 2014, drei Jahre, nachdem er seine ALS-Diganose publik machte, mit Freunden im Garten. Auf Gleason geht die Initiative Team Gleason zurück. Die Initiative betreibt Fundraising für ALS-Forschung und für innovative Assistenzsysteme, die bei der progressiven Lähmung, die mit ALS verbunden ist, Mobilität und vor allem Kommunikationsfähigkeit erhalten. © Getty Images

Die Ergebnisse der Neurofeedback-Forschung der vergangenen fünfzig Jahre zeigen dennoch, dass wir (und mit „wir“ sind auch immer höhere Tierarten gemeint) nach längerem Training mit positiven Rückmeldungen der eigenen elektrischen oder metabolischen Hirnaktivität ein bewusstes Gefühl in Form von Wahrnehmungsänderungen für einige Hirnvorgänge (zum Beispiel Hirnwellen wie sie mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) aufgezeichnet werden oder Blutflussänderungen mit dem Kernspintomographen) entwickeln können.

Ohne in fragwürdige evolutionsgeschichtliche Zweckerklärungen zu verfallen, wäre es wohl wenig sinnvoll und würde unser Verhalten völlig blockieren, könnten wir im täglichen Leben unsere elektromagnetischen Änderungen, die Gedanken und Verhaltensweisen produzieren, bewusst wahrnehmen.

Der Albtraum vom Gedankenlesen

Hinter der Forschung zu BCIs steckt natürlich der alte Menschheitstraum, Gedanken lesen zu können. Dieser (Alb)traum wird gegenwärtig durch die technologische Entwicklung wiederbelebt, ein eindrucksvolles Zeichen dafür ist die vom Milliardär Elon Musk gegründete Firma „Neuralink“, die einen winzigen Chip mit 1.200 Elektroden zur Registrierung der elektrischen Hirnaktivität entwickelt hat. Nach chirurgischer Implantation sollen auch gesunde Menschen mit ihren Gedanken direkt ihre Umwelt manipulieren können.

Dass dies in begrenztem Ausmaß möglich ist, haben in den vergangenen zwanzig Jahren viele Untersuchungen gezeigt. Vom Gedankenlesen sind wir aber weit entfernt: Die Entschlüsselung der elektrischen Hirnaktivität beim Denken bereitet nach wie vor erhebliche methodische und theoretische Schwierigkeiten. Darüber hinaus muss man sich natürlich fragen, welchen Sinn dies bei Gesunden haben soll und welche ethisch-moralische Grenzen einem solchen Unterfangen gesetzt werden sollten. Dass dies den Gründer Musk und seine zahllosen „Follower“ kaum bewegt, ist mehrfach dokumentiert.

Therapie mit BCI

Jedes Jahr erleiden 1,6 Prozent der Bevölkerung einen Schlaganfall; ab dem 75. Lebensjahr sind es bereits 6,5 Prozent. Ein Drittel der Betroffenen stirbt innerhalb des ersten Jahres nach dem Schlaganfall. Ein weiteres Viertel bis Drittel der Betroffenen ist so schwer behindert, dass auch nach Jahren der Therapie und Rehabilitation zielgerichtete Bewegungen der betroffenen gelähmten Hand nicht möglich sind. Für diese Gruppe ist das BCI gedacht. Der Rest erholt sich unterschiedlich nach Physiotherapie und oder längerem Besuch von Rehabilitationseinrichtungen mit intensiven Übungsprogrammen.

Die überwiegende Mehrheit der Schlaganfälle kommt durch Verschluss eines Hirngefäßes (Ischämie) zustande, eine Minderheit durch Verletzung mit Blutung des Hirngefäßes (Hämorraghie) in das umgebende Gehirn.

Beides tötet die Betroffenen häufig, wenn nicht innerhalb von ein bis vier Stunden danach das Gefäß geöffnet oder, wenn verletzt, geschlossen wird. Häufig sind davon Gefäße betroffen, die den Bewegungsapparat der gegenüberliegenden Körperseite steuern, daher kommt es fast immer zu einseitigen Paresen (Lähmungen) von der gegenüberliegenden Hand und Bein.

Neuorganisation des Gehirns durch BCI

Vom Autor dieser Zeilen und seinen Mitarbeitern (vor allem dem Spanier Ander Ramos) wurde ein BCI erstmals zur Rehabilitation von völliger Lähmung einer Hand und eines Armes in einer Studie eingesetzt.

Bei dieser Therapie wird der gelähmte Arm und/oder die Hand des/der Patienten in einer Orthese/Prothese befestigt und er/sie muss auf ein Signal versuchen, den Arm zu bewegen oder sich eine Bewegung wenigstens vorzustellen. Wenn dies gelingt, ändert sich die gleichzeitig registrierte Hirnaktivität und aktiviert die Orthose, die nun auf das gedachte/vorgestellte Willenskommando die Hand oder den Arm bewegt. Dies wird viele Stunden und hunderte Mal wiederholt. Nach jeder Sitzung wird dieselbe Bewegung ohne BCI und technische Unterstützung in einer lebensnahen Situation zusammen mit einem Physiotherapeuten geübt.

Der entscheidende Vorteil, der dieses Verfahren deutlich effizienter als alle bisherigen Rehabilitationsversuche bei vollständig einseitig gelähmten Schlaganfallopfern macht, ist die Tatsache, dass der Patient oder die Patientin beziehungsweise das Gehirn dieser eine unmittelbar erfolgreiche Rückmeldung über den Willensakt erhält: Das Gehirn assoziiert wieder einen Bewegungsimpuls mit der erfolgreichen Konsequenz dieser Bewegung.

Dieser assoziative Vorgang verbindet die vorhandenen gesunden Nervenzellen in den Bewegungsarealen, die davor still und nicht aktiviert worden waren, miteinander und führt zu einer Re-, beziehungsweise Neuorganisation des Gehirns in der Umgebung der zerstörten Areale. Das konnten wir an den Kernspinaufnahmen der Patienten und Patientinnen vor und nach der BCI-Therapie sowie ein Jahr danach sehen. Vor allem die kompensatorische Überbenutzung der gesunden Hand und Hirnhemisphäre wird durch die Aktivierung der erkrankten Hirnhemisphäre ersetzt.

Hilfe bei Locked-in-Syndrom

In der Literatur existieren viele Zeugnisse und Selbstzeugnisse von Menschen, die, meist nach einem Schlaganfall, völlig gelähmt waren und nur noch mit Augenbewegungen oder Muskelzuckungen im Gesicht auf Fragen antworten oder Bedürfnisse signalisieren konnten.

×

Zahlen & Fakten

Lou Gehrig von den New York Yankees steht vor einer Tribüne mit vielen Menschen und signiert einen Baseball. Er trägt seine Baseballkleidung und eine Baseballkappe mit LL auf der Stirn. EIn Junge mit Schirmmütze steht vor ihm und blickt in die Kamera.
New York 1928: Lou Gehrig gibt Autogramme. © Getty Images

Lou Gehrig, Steve Gleason und ALS

  • Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) wird in den USA auch Lou Gehrig Disease genannt. Bei ALS sterben Nervenzellen im Rückenmark und im Gehirn, die für die Motorik zuständig sind, ab; es ist eine sogenannte Motoneuron-Erkrankung. Die Krankheit schreitet langsam fort, bis schließlich auch die Atmung betroffen ist. Die Krankheit verläuft tödlich; die Ursachen sind noch weitgehend unbekannt.
  • Lou Gehrig war ein legendärer First Baseman der New York Yankees 1925 bis 1939, er spielte insgesamt 2.130 Spiele. Gehrig starb zwei Jahre nach seiner ALS-Diagnose 1941.
  • Steve Gleason ist ein Football-Spieler. Er war Safety für die New Orleans Saints von 2000 bis 2006. Am 25. September 2006, im ersten Spiel der NFL im Superdome in New Orleans nach Hurricane Katrina, blockte er in bemerkenswerter einen Punt im Spiel gegen die Atlanta Falcons und sicherte den Saints damit den ersten Score nach Katrina. 2011 machte er seine ALS-Erkrankung publik.
  • Gleason ist in der NGO Team Gleason engagiert. Die Initiative setzt sich für die Weiterentwicklung von Assistenzsystemen für Menschen mit degenerativen Erkrankungen wie ALS ein und entwickelte mit Microsoft ein System, um Computer mit den Augen zu steuern. Team Gleason unterstützt Forschung. Das große Ziel ist, ALS eines Tages heilen zu können. Der Slogan: No White Flag.

Der Großvater in Alexandre Dumas Graf von Monte Christo oder das Buch von Jean Dominique Bauby, das mit Augenbewegungen nach einem Schlaganfall diktiert und in Schmetterling und Taucherglocke (1997) verfilmt wurde, machten weltweit auf das Schicksal der Betroffenen aufmerksam.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde ein erschütterndes Buch und ein Film von Dalton Trumbo mit dem Titel Johnny got his gun über einen verstümmelten Soldaten ohne Gesicht, aber mit intaktem Denkapparat berühmt. Edgar Allan Poe hat in mehreren Erzählungen Vergrabene und Eingemauerte zum Leben erweckt oder sie zu Zeugen und Auslösern schrecklicher Verbrechen gemacht.

Allerdings hat bis vor wenigen Jahren niemand ein zusammenhängendes Selbstzeugnis oder einen Bericht eines Menschen erhalten, der oder die völlig eingeschlossen war, also keinerlei Signal mehr an die Außenwelt geben konnte, obwohl der Mensch geistig intakt und bei vollem Bewusstsein war. Diesen Zustand nennt man „Complete Locked-in State (CLIS)“, einen Zustand des vollständigen Eingeschlossen- Seins. CLIS tritt vor allem im fortgeschrittenen Stadium der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) auf, in den USA auch als Lou Gehrig’s Disease bezeichnet, nach einem populären Baseballspieler, der daran erkrankte.

ALS und fortschreitende Lähmung

Der Autor dieser Zeilen und seine Mitarbeiter erhielten zusammenhängende und vollständige „Nachrichten“ aus dieser Welt mit Hilfe der BCI-Technologie und nach Jahrzehnten neuropsychologischer und neurophysiologischer Forschung, Entwicklung und Umgang mit CLIS-Patienten und ihren Familien.

Steve Gleason 2022 mit Assistenzsystem mit seiner kleinen Tochter auf dem Schoß.
Steve Gleason mit seiner Tochter Gray im Juni 2022 in Chicago bei einem Spiel der St. Louis Cardinals gegen die Chicago Cubs. © Getty Images

Ein Dokumentarfilm des Schweizer Filmemachers Jean-Stephane Bron, The Brain (2021), zeigt die Arbeit mit zwei CLIS-Patienten und dem Autor besonders eindrucksvoll. Sie beinhaltet eine Episode mit einem nicht-invasiven BCI und eine andere mit einem invasiven BCI, bei dem die unten beschriebenen Mikroelektroden in das Gehirn des Patienten neurochirurgisch eingepflanzt worden waren.

CLIS-Patienten, die an ALS erkrankt sind, liegen Monate bis Jahre und Jahrzehnte bis zum Lebensende am Rücken im Bett, werden künstlich ernährt und künstlich beatmet (auch Atembewegungen und Schlucken und Sprechen sind nicht mehr möglich). Ihre Augen sind meist geschlossen, hin und wieder öffnen Pfleger oder ein Familienmitglied die Augen. Diese können aber nicht lange offen bleiben, da sie sonst ohne Lidschlag und ohne Augenbewegungen austrocknen. Deshalb ist die Sehfähigkeit dieser Personen nach längerer Krankheit eingeschränkt.

Kontakt zur Außenwelt

Der Hörsinn, Tastsinn und Schmerzsinn sind normal und intakt, können aber auch nur mit einem BCI geprüft werden, da die Patientinnen und Patienten nicht reagieren können. Auch Denken und Fühlen ist zumindest in der ersten Zeit des CLIS-Zustandes mit großer Wahrscheinlichkeit normal, kann aber auch nur mit einem BCI getestet werden.

Ohne Kommunikation und Bewegung erfahren wir nichts mehr, auch wenn der Geist aktiv ist. Wie sich Denken und Fühlen nach Jahren in CLIS verändern, wissen wir nicht, nach wenigen Monaten und einigen wenigen Jahren scheint sich aber wenig zu verändern.

So lange die Augenmuskeln funktionieren oder irgendein anderer Muskel des Körpers aktiviert werden kann, ist Kommunikation mit kommerziellen Augencomputern möglich: Mit Pupillenbewegungen oder Blinken des Augenlids, das vom Computer über Kameras oder Muskelpotenziale registriert wird („eye-tracker“), kann man heute schnell und nach einiger Übung fehlerfrei Buchstaben und Worte auswählen; Satzergänzungsprogramme, die auf Algorithmen der Künstlichen Intelligenz beruhen, erkennen blitzartig, was der oder die Kranke formulieren will und erleichtern die Kommunikation.

Erstaunlich ist, dass bei allen ALS-Patientinnen und Patienten, die in LIS und CLIS sind und in der Familie gepflegt werden, die Lebensqualität sehr gut ist. Bei CLIS wurden aber bisher nur wenige Patientinnen und Patienten befragt, bei denen der Autor und seine Mitarbeiter ein BCI über längere Zeit im Haus der Patienten installiert hatten. Bei allen war die Lebensqualität zufriedenstellend.

Die Frage der Sterbehilfe

Etwa 95 Prozent der ALS-Kranken entscheiden sich gegen das Leben und lebenserhaltende Maßnahmen, wenn die Atmung nicht mehr eigenständig gelingt, obwohl die künstliche Beatmung heute relativ problemlos über viele Jahre funktioniert. Ausnahmen sind allerdings einige Länder wie Japan, Israel und vermutlich auch Deutschland, wo sich mehr Patienten für die Beatmung entscheiden.

Wahrscheinlich, weil in diesen Ländern die medizinische und pflegerische Versorgung gut ist, in Israel und Deutschland aber vor allem als Konsequenz der massenhaften Euthanasie im Nationalsozialismus. In Japan dagegen besteht eine Kultur der Achtung vor dem Alter und Gebrechen, das die Abneigung gegen Sterbehilfe vielleicht erklärt.

Die wissenschaftlich mehrfach nachgewiesene hohe Lebensqualität der betroffenen ALS-Erkrankten nach der Beatmung hatte bisher nur geringen Einfluss auf die Überlebensrate. In Ländern wie Holland und Belgien mit einem extrem „liberalen“ Euthanasiegesetz ist die Zahl derer, die sich beatmen lassen, viel geringer als in Deutschland, Japan und Israel. Fast alle entscheiden sich dort auch unter dem sozialen Druck und der heute unbegründeten Furcht vor Kommunikationslosigkeit für den Tod.

In dieser Situation muss betont werden, dass Sterbehilfe und assistierter Suizid unter bestimmten Umständen in Einzelfällen vertretbar und gesetzlich erlaubt sein sollten, wenngleich die Grenzen viel enger gesteckt sein müssten als sie in den Gesetzestexten und existierenden Gesetzen meist sind. Vor allem darf der Meinung der Mehrheit ebenso wenig gefolgt werden wie den vielen politischen und sozialen Initiativen, die auf Liberalisierung oder Verschärfung der Gesetze drängen.

No White Flag: Nicht aufgeben

Entscheidend muss die Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen sein, welche ihren Sterbewunsch mehrfach zu verschiedenen Zeiten ohne Gegenwart von anderen Personen (Ärzten, Familienmitgliedern et cetera) äußern sollen: Es muss medizinisch und vor allem in kontrollierten wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen sein, dass bei Verlängerung des Leidens die Lebensqualität weiter extrem schlecht bleibt (was bei chronischen Erkrankungen wie der ALS oder Alzheimer oder Multipler Sklerose oder unipolarer chronischer Depression keineswegs immer der Fall ist) und keine wirksame Therapie vorhanden ist oder kurz vor der Zulassung steht.

Steve Gleason mit einem T-Shirt auf dem mit Hashtag Never Punt steht. Das Bild ist Teil eines Beitrags über ALS und
„Never Punt“: Im American Football ein riskanter Kontrollverlust, wurde Never Punt ein Slogan der ALS-Aktivisten. Als Safety der New Orleans Saints wurde Gleason 2006 berühmt für das Blocken eines Punts. Es war das erste Spiel im Superdome nach Hurricane Katrina. „No White Flags“, sich nicht geschlagen geben, ist der Slogan der Initiative Team Gleason. © Getty Images

Die Lebensqualität muss mehrfach mit den international geeichten Fragebögen für Lebensqualität und Depression ohne Einflussnahme anderer über Computer und wenn möglich schriftlich oder aufgezeichnet (zum Beispiel über ein BCI) erfragt werden.

Ein Jurist muss feststellen, dass kein Interesse an etwaigen Erbschaften besteht, ein Psychologe oder Psychiater hat eine detaillierte Verhaltensanalyse aller möglichen psychologisch-sozialen Einflussfaktoren zu erstellen und ein Arzt die Therapie- und Besserungschance bei einer medizinisch relevanten Erkrankung abzuschätzen. Kommerzielle Selbsttötungsunternehmen wie „Exit“ sind auszuschließen.

In keinem Fall darf ein Euthanasiewunsch erfüllt werden bei der ALS, bei der gezeigt wurde, dass die Lebensqualität bis in den CLIS- Zustand bei liebevoller Betreuung und Pflege gut bis sehr gut bleibt. Ist keine Kommunikation mit dem Patienten oder der Patientin auch bei Anwendung von BCI oder anderen Kommunikationshilfen möglich, zum Beispiel im Koma oder im vegetativen Zustand (non-responsive state), hat Euthanasie zu unterbleiben.

Auch nach schweren Hirnschäden und anhaltender Bewusstseinstrübung hat Euthanasie zu unterbleiben, da Besserungen möglich sind und die Lebensqualität nicht abschätzbar und ohne Kommunikation nicht zu erfragen ist.

Mehr zum Thema

Unser Newsletter