Wir leben in der besten Welt

Die Armut ist stark zurückgegangen, die Lebenserwartung massiv gestiegen. Es gibt immer weniger Kriege, und die Menschheit wird mit jedem Jahr klüger. Nie zuvor in der Geschichte war die Welt ein so angenehmer Ort wie heute. 

Zeichnung einer Weltkugel mit Sonnenbrille. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Frage, warum die beste aller Welten ist, wir dies aber nicht so sehen.
Der Rosy View gelingt meistens nur in Bezug auf die Vergangenheit, nicht die Gegenwart. Daher sehen wir vieles düsterer als es tatsächlich ist. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Besser als gedacht. Wir glauben, dass es anderen schlecht geht, selbst wenn wir mit unserem Leben zufrieden sind – aber auch den anderen geht es gut.
  • Happy Birthday. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um geboren zu werden: Die Lebenserwartung steigt, die Armut sinkt, und die Menschen werden klüger.
  • Verklärte Sicht. Unter anderem, weil wir die Vergangenheit verklären. „Rosy View“ heißt das Phänomen.
  • Weniger Leid, mehr Leiden. Dazu kommt ein weiteres Phänomen: Wenn es weniger Leid gibt, nehmen wir es schärfer wahr.

Geht es Ihnen gut? Oder anders gefragt: Auf einer Skala von 0 bis 10, wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben? Haben Sie eine Zahl? Und jetzt raten Sie: Wie gut geht es wohl den anderen Österreichern im Schnitt? Welche Zahlen würden diese sich auf der Zufriedenheitsskala von 0 bis 10 geben? Haben Sie auch hier eine Zahl?

Mehr Lösungen

Jetzt die Auflösung: Jahr für Jahr bewerten Österreicher ihre eigene Lebenszufriedenheit im Schnitt mit über 7 von 10 möglichen Punkten. Doch während fast alle denken, dass es ihnen selbst gut geht, denken fast alle, dass es den meisten anderen schlecht geht.

Experimente zeigen: Die Zufriedenheit der eigenen Familie können die meisten Menschen noch recht gut einschätzen. Ebenso die Zufriedenheit in der eigenen Gemeinde. Doch soll man die Zufriedenheit in der eigenen Stadt einschätzen, gleiten viele Einschätzungen schon zu weit ins Negative.

Der Schluss daraus: Je weiter entfernt Menschen von einem sind, für desto unzufriedener hält man sie. Woran liegt das? Warum denken wir, dass es Menschen so schlecht geht, selbst wenn die meisten Menschen mit ihrem Leben recht zufrieden sind?

Lebenserwartung steigt und steigt

Die Antwort könnte lauten: weil es dort draußen wirklich viel Unheil gibt. Doch fast alle Daten zeigen eigentlich das Gegenteil. Noch Anfang der 1980er-Jahre lebte fast jeder zweite Mensch weltweit in extremer Armut. Heute ist es weniger als jeder zehnte.

Doch weniger als einem Prozent aller Menschen ist dieser Rückgang bewusst. Der schnelle Rückgang extremer Armut ist vielleicht eine der größten Leistungen der Menschheit in der gesamten Geschichte. Trotzdem denken die allermeisten Befragten, die weltweite Armut habe zugenommen.

×

Zahlen & Fakten

All das wären jedoch hohle Gewinne, wenn sie nicht auch den weltweit Ärmsten helfen würden. Doch in dieser Gruppe sind die Zugewinne am größten. In Asien stieg die Lebenserwartung seit Anfang des 20. Jahrhunderts von etwa 28 auf 72 Jahre, in Afrika von 28 auf 62 Jahre.
 
Die Lebenserwartung steht in engem Zusammenhang mit der Kindersterblichkeit, die wiederum ein Gradmesser für die Stabilität und den Entwicklungsgrad einer Gesellschaft ist: Babys sind empfindlich. Gibt es kein Essen, sterben sie. Ist es zu warm, sterben sie. Ist es zu kalt, sterben sie. Gibt es zu viele Krankheiten, sterben sie. 1960 starb weltweit noch fast jedes fünfte Neugeborene innerhalb der ersten fünf Lebensjahre.

Wir werden immer klüger

Glücklicherweise hat sich das radikal geändert. Heute verstirbt weltweit weniger als jedes 20. Kind. Eine Mutter kann heute also viermal so sicher sein, dass ihr Kind überlebt. Auch davon haben die ärmsten Regionen am meisten profitiert. Heute in Subsahara-Afrika geboren zu werden bietet eine weitaus höhere Überlebenschance als vor 150 Jahren in Wien.

Ähnliche Fortschritte zeigt die Schulausbildung. Selbst in Subsahara-Afrika sind zuletzt mehr als zwei Drittel der Bevölkerung zur Schule gegangen, während das Anfang des 20. Jahrhunderts nur für eine winzige Minderheit galt. Damit geht der vielleicht merkwürdigste Effekt von allen einher – der sogenannte Flynn-Effekt. Die Intelligenztests müssen immer schwieriger gemacht werden, weil der durchschnittliche IQ alle zehn Jahre um drei Punkte steigt.

Wer heute als durchschnittlich intelligent gilt, hätte vor 100 Jahren zu den schlauesten zwei Prozent gehört. Und das Beste daran: Menschen mit höherem IQ sehen auch die Konsequenzen ihrer politischen Entscheidungen präziser voraus, sind empathischer und seltener gewalttätig.

Immer weniger Kriegstote

Deshalb ist es wohl kein Zufall, dass immer weniger Menschen in kriegerischen Konflikten umkommen. Im Zweiten Weltkrieg starben jährlich ungefähr 400 von 100.000 Menschen durch Krieg. 1950 lag diese Zahl bei etwa 20, vor dem russischen Angriff auf die Ukraine war es nur noch eine von 100.000 Personen. Ein Rückgang gegenüber den 1950er-Jahren um 95 Prozent. Putins Überfall trieb die Zahl wieder in die Höhe, sie liegt aber (mit wahrscheinlich drei Todesfällen je 100.000) noch immer deutlich unter den Werten früherer Zeiten.

Ein Grund dafür ist, dass es immer mehr Demokratien gibt – und diese führen nun mal keine Kriege gegeneinander. Ende der 1970er-Jahre war etwa ein Viertel aller Länder demokratisch, heute sind es fast 60 Prozent. Doch auch hier gilt: Fortschritt passiert nicht automatisch. Seit dem Jahr 2000 steigt diese Zahl nicht mehr, seit 2015 gibt es einen leichten Rückgang, und erst mit dem Ende der Covid-Pandemie kündigt sich eventuell eine Verbesserung an.

Es könnte schnell bergab gehen

Generell ist Vorsicht angebracht: Keine dieser positiven Veränderungen muss ewig weitergehen. Die Welt kann morgen wieder schlechter werden. Doch wenn Sie einen Zeitpunkt in der Geschichte wählen müssten, an dem Sie geboren werden, ohne zu wissen, welche Nationalität, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung oder welches Elternhaus Sie haben, sollten Sie sich entscheiden, genau jetzt geboren zu werden.

Nicht vor fünf Jahren, nicht vor zehn, nicht vor 50 und erst recht nicht vor 100 Jahren. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Punkt in der gesamten Menschheitsgeschichte, an dem das Leben für so viele Menschen so angenehm war wie heute.

Es waren stets engagierte Menschen, die den Fortschritt zustande brachten.

Diese Tatsache widerspricht nicht der Idee, sich für eine bessere Welt zu engagieren. Denn es waren stets engagierte Menschen, die den Fortschritt zustande brachten. Auf dem richtigen Weg zu sein ist kein Grund, stehen zu bleiben, ganz im Gegenteil. Doch warum denken viele Menschen, dass die Welt so viel schlechter sei, als es die realen Daten nahelegen? Dafür existieren mehrere Gründe.

„Rosy View“ zurück

Klimawandel, geringe Einkommenszuwächse in entwickelten Ländern und Artensterben sind keine Hirngespinste, sondern real. Doch vieles spricht dafür, dass wir die Welt schon immer negativer wahrnahmen, während wir die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart verklären. In der Psychologie wird dieses Phänomen als „Rosy View“ bezeichnet.

Um diese These zu belegen, wurden Menschen nach ihrer Zufriedenheit befragt, während sie einen Vergnügungspark besuchten. Die Antworten waren durchwachsen. Fragte man dieselben Menschen einige Tage später nochmals, bezeichneten sie den Tag als einen der schönsten ihres Lebens. Immer wieder zeigen psychologische Versuche dieses Phänomen. Es ist ein allgemeines Muster, dass wir die Vergangenheit über eine rosa Brille wahrnehmen – diese aber ablegen, sobald wir die Gegenwart bewerten.

Wir sehen die Welt viel zu negativ

Neben realen Problemen wird unsere negative Sicht auf die Welt von einem „Negativitätsbias“ ausgelöst, der durch unzählige psychologische Experimente belegt ist. Mit einfacheren Worten: Negative Reize beeinflussen uns stärker als positive.

Wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass mehr als 60 Prozent aller Ehepartner zusammenbleiben, während fast 40 Prozent aller Ehen geschieden werden, so erinnern Sie sich besser an die zweite, negativ verpackte Information – obwohl es sich um denselben Inhalt handelt. Aus Sicht der Evolution war diese überhöhte Vorsicht kein Fehler. Zu wissen, dass ein Gewächs giftig sein kann, ist relevanter, als dass es gut schmeckt.

Die angeborene Vorsicht wird mit der sogenannten „Verfügbarkeitsheuristik“ zu einer toxischen Mischung. Darunter versteht man die menschliche Tendenz, etwas für umso wahrscheinlicher zu halten, je einfacher man sich daran erinnern kann. Auch das war früher sinnvoll.

Wenn wir uns besser an etwas erinnern konnten – beispielsweise daran, dass es geschneit hat –, war es meist auch wahrscheinlicher, dass dieses Ereignis in Zukunft wieder eintreten würde. So weit, so harmlos. Problematisch wird der Effekt, wenn er auf die heutige Medienberichterstattung trifft, die vor allem auf Probleme fokussiert.

Breaking News: Flugzeug sicher gelandet

Niemand interessiert sich dafür, wie ein Flugzeug sicher gelandet oder ein Haus nicht abgebrannt ist. Wir wollen etwas über die spektakulären Abweichungen von positiven (und deswegen meist langweiligen) Trends erfahren. Diese negativen Ausnahmen liefern uns die Medien gerne und in immer stärkerem Ausmaß frei Haus.

So zeigt eine für mein Buch (Warum es uns noch nie so gut ging – und wir trotzdem ständig von Krisen reden) durchgeführte Auswertung, dass ein ungefähr gleichbleibender Anteil aller Artikel in den deutschen Zeitschriften Spiegel und Zeit von Hungersnöten und Kriegen berichtet, obschon Armut und Krieg in den letzten 70 Jahren eben spektakulär seltener wurden. Wir erfahren heute also genauso viel über Probleme, die unvergleichlich kleiner sind als früher.

Empfindlicher für Leid

Das führt zum letzten Grund für unsere negative Sicht auf die Welt. Dieser hat den sperrigen Namen „prävalenzinduzierter Konzeptwandel“ und bedeutet einfach nur, dass wir empfindlicher für Leid werden. Obwohl es faktisch weniger Leid gibt, nehmen wir es schärfer wahr.

Darauf sind Forscher gekommen, indem sie Versuchsteilnehmern unterschiedlich einschüchternde Gesichter zeigten. Je seltener den Probanden dabei tatsächlich einschüchternde Gesichter vorgelegt wurden, desto öfter wurden auch jene Gesichter als einschüchternd eingestuft, die vorher noch als harmlos durchgingen.

Dasselbe zeigte sich mit mehr oder weniger unethischen Forschungsprojekten. Je seltener die Forscher den Versuchsteilnehmern tatsächlich unethische Forschungsprojekte präsentierten, desto schneller stuften Probanden auch jene Forschungsprojekte als unethisch ein, die ihnen vorher noch harmlos vorgekommen waren.

Selbst als man den Versuchsteilnehmern immer weniger blaue Murmeln vorlegte, wurden diese sensibler für die Farbe Blau. Die Forscher halten diese Tendenz für einen psychologischen Mechanismus. Wir werden empfindsamer für alles, was wir seltener wahrnehmen.

Seien Sie kein Optimist

Umgelegt auf unser Bild von der Welt heißt das: Gerade weil es immer weniger Probleme gibt, reagieren wir immer stärker auf die verbliebenen. Das kann man moralischen Fortschritt nennen. Allerdings wird daraus ein Rückschritt, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, wirkliche Verbesserungen zu erkennen.
 
Mein Rat an alle, die etwas positiver durchs Leben gehen wollen: Seien Sie kein Optimist, seien Sie Realist. Im Grunde reicht das schon, um die Welt ein gutes Stück positiver zu sehen.

×

Conclusio

Natürlich sind Bedrohungen wie der Klimawandel oder das Artensterben real, und wir sollten entschlossen dagegen kämpfen. Andererseits gab es noch nie eine Epoche, in der es so vielen Menschen so gut ging wie heute. In nahezu allen wichtigen Bereichen wurden Fortschritte erzielt, von denen frühere Generationen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Woher kommt also die weit verbreitete pessimistische Weltsicht? In unserem täglichen Leben liegt der Fokus sehr stark auf negativen Nachrichten, auch psychologische Effekte wie der „Rosy View“ auf die Vergangenheit spielen eine Rolle. Außerdem gilt: Je weniger wir mit existenziellen Sorgen belastet sind, umso stärker reagieren wir auf noch verbliebene Probleme. Ein realistischer Blick auf die Welt könnte helfen, empfiehlt der Autor. 

Alles wird gut!

Oder doch nicht?

Mit dem Laden des Inhalts akzeptierst du die Datenschutzerklärung von Jetpack VideoPress.