Der Westen am Rande eines Bürgerkriegs?
In mindestens zehn europäischen Ländern scheint der Ausbruch eines Bürgerkriegs in den nächsten Jahren nicht unwahrscheinlich. Höchste Zeit, gegenzusteuern.

Die Warnung kommt von einem unwahrscheinlichen Ort: Nicht von einem politischen Aktivisten oder Medienpopulisten, sondern aus den nüchternen Hallen des King’s College in London. Professor David Betz, Experte für moderne Kriegsführung und Strategie, hat in diesen zwei Essays im Military Strategy Magazine eine beunruhigende Prognose gestellt: Die Wahrscheinlichkeit für Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Zustände in westlichen Gesellschaften liegt bei über 50 Prozent – und das ist seine konservative Schätzung.
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Auf den ersten Blick mag diese Einschätzung alarmistisch wirken, doch sie basiert auf jahrzehntelanger akademischer Forschung zu den Ursachen von Bürgerkriegen. Betz und andere Wissenschaftler wie Barbara Walter von der University of California San Diego haben erkannt, dass die Faktoren, die traditionell zur Vorhersage von Bürgerkriegen in fernen Ländern verwendet wurden, heute auch in Europa und Nordamerika präsent sind.
Die Anatomie der Spaltung
Die westlichen Gesellschaften befinden sich in einem Zustand explosiver Konfiguration, um bei der Terminologie von Betz zu bleiben. Die Grundlagen dieser Instabilität liegen in dem, was die Forschung als Fraktionalisierung bezeichnet: die Entstehung klar abgegrenzter Gruppen, die sich zunehmend entlang ethnischer, kultureller oder ideologischer Linien organisieren.
Diese Entwicklung sei kein Zufall. Sie ist das Ergebnis jahrzehntelanger bewusster politischer Entscheidungen, die von einer postnationalen Elite getroffen wurden, die sich zunehmend von den Sorgen und Interessen der breiten Bevölkerung entfremdet hat: Während nur 34 Prozent der europäischen Bürger das Gefühl haben, von der EU-Integration profitiert zu haben, sind es bei den Eliten 71 Prozent.
Das Scheitern des Multikulturalismus
Ein zentraler Faktor in dieser Krise ist das offensichtliche Scheitern des multikulturellen Projekts. Bereits in einer 2007 veröffentlichten Studie zeigte der Sozialwissenschaftler Robert Putnam anhand einer groß angelegten Umfrage unter 30.000 Amerikanern, dass Menschen in ethnisch vielfältigen Nachbarschaften dazu neigen, sich „einzuigeln“ („hunker down“). Sie zeigen weniger Vertrauen – sowohl gegenüber anderen Ethnien als auch gegenüber ihrer eigenen Gruppe. Altruismus, Gemeinschaftskooperation und Freundschaften werden seltener.
Die wachsende Frustration in Kombination mit einer sich verschärfenden sozioökonomischen Lage birgt alle Zutaten, um sich auch gewaltsam zu entladen.
In Europa können wir mittlerweile ähnliche Phänomene beobachten: In Ländern wie Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich leben die größten Populationen von Einwanderern der zweiten Generation, doch die Integration ist oft gescheitert. Anstatt einer Assimilation erleben wir vielerorts die Entstehung von Parallelgesellschaften, die zur Fragmentierung des sozialen Zusammenhalts beigetragen. Das Problem liegt nicht in der Migration per se, sondern in der Art und Weise, wie sie gestaltet wurde: zu schnell, zu umfangreich und ohne ausreichende Mechanismen zur Integration.
Die Erwartungslücke als Sprengstoff
Ein weiterer kritischer Faktor ist die wachsende Erwartungslücke zwischen dem, was den Menschen versprochen wurde, und dem, was sie tatsächlich erhalten. Zum ersten Mal seit der Industriellen Revolution sind Kinder weniger wohlhabend als ihre Eltern – sie verdienen weniger, besitzen weniger und haben geringere Aussichten auf Renten oder Eigenheime.
Diese materielle Verschlechterung wird von einer politischen Erwartungslücke begleitet: Einer der am weitesten verbreitete politische Glaube in der westlichen Welt ist heute, dass Wahlen nichts ändern. Diese wachsende Frustration in Kombination mit einer sich verschärfenden sozioökonomischen Lage birgt alle Zutaten, um sich auch gewaltsam zu entladen.
Die Mathematik des Zusammenbruchs
Betz stützt seine Prognosen auf statistische Modelle, die von Barbara Walter und anderen entwickelt wurden. Die Länder, in denen am ehesten mit dem Ausbruch gewaltsamer Zustände zu rechnen ist, sind Großbritannien und Frankreich – beide haben bereits Vorfälle erlebt, die als Vorboten beschrieben werden könnten.
Die Bedingungen sind jedoch in ganz Westeuropa ähnlich, ebenso wie – aus etwas anderen Gründen – in den Vereinigten Staaten; zudem muss angenommen werden, dass ein Ausbruch eines Bürgerkriegs an einem Ort wahrscheinlich auch auf andere Regionen übergreifen würde.
Betz erläutert, dass die Bedingungen, die Wissenschaftler als Anzeichen für einen bevorstehenden Bürgerkrieg betrachten, in westlichen Staaten weit verbreitet sind. Nach der besten Schätzung der vorhandenen Literatur liegt in einem Land, in dem diese Bedingungen herrschen, die Wahrscheinlichkeit für das tatsächliche Eintreten eines Bürgerkriegs bei vier Prozent pro Jahr. Geht man von dieser Annahme aus, ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 18,5 Prozent für das Auftreten eines Bürgerkriegs innerhalb von fünf Jahren.
Das wirklich Beunruhigende ist jedoch, dass diese Bedingungen in mindestens zehn europäischen Ländern vorliegen. Berücksichtigt man zusätzlich, dass Bürgerkriege dazu neigen, sich auszubreiten – mit einer angenommenen Übertragungswahrscheinlichkeit von 50 Prozent zwischen benachbarten Ländern –, steigt die Gesamtwahrscheinlichkeit auf etwa 60 Prozent, dass ein Bürgerkrieg, sollte er in einem Land ausbrechen, auf andere übergreifen wird.
Verwaltete Demokratie als Endstadium
Was wir heute erleben, ist das, was der Politikwissenschaftler Sheldon Wollen als „verwaltete Demokratie“ bezeichnet hat. In diesem System sind Wahlen performativ – sie ändern nichts Grundlegendes, sondern dienen lediglich als Schauspiel für die Öffentlichkeit.
Wolin beschreibt in seinem Werk Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism (2008), dass in modernen westlichen Staaten demokratische Prozesse zunehmend formalisiert und kontrolliert werden. Wahlen hätten in diesem System eine eher performative Funktion, ohne grundlegende politische Veränderungen zu bewirken, und dienten vor allem der Legitimation bestehender Machtstrukturen.
Die Zeit für kosmetische Reformen ist vorbei.
Die traditionellen Methoden politischer und gesellschaftlicher Kontrolle versagen zunehmend und die Mittel zur Beruhigung sozialer Spannungen durch Wohlfahrtsausgaben schwinden, da schlichtweg das Geld ausgeht. Externer Druck durch den Krieg in der Ukraine oder die Lage im Nahen Osten werden diese Probleme noch verschärfen.
Europas Zukunft: Retribalisierung oder Erneuerung?
Die Zeichen deuten auf eine grundlegende Umgestaltung der westlichen Gesellschaften hin. Betz spricht von einer möglichen „Retribalisierung“ – der Auflösung kohärenter nationaler politischer Einheiten in ethnische Kleinstaaten oder, im schlimmsten Fall, großflächige Bevölkerungsbewegungen ähnlich denen in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg.
Diese Entwicklung ist nicht unvermeidlich, aber sie erfordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit den strukturellen Problemen unserer Gesellschaften. Statt weiterhin in den illusionären Komfort einer gescheiterten multikulturellen Ideologie zu flüchten, müssen europäische Gesellschaften zu einer realistischen Politik der Integration und des nationalen Zusammenhalts zurückkehren.
Professor Betz Analyse ist keine Panikmache, sondern eine nüchterne wissenschaftliche Bewertung der aktuellen Lage. Seine Warnung sollte als Weckruf dienen: Die Zeit für kosmetische Reformen ist vorbei. Europa steht vor der Wahl zwischen einer grundlegenden Erneuerung seiner politischen und gesellschaftlichen Strukturen oder dem Abstieg in eine Ära der Fragmentierung und des Konflikts.
Die Ironie ist, dass diejenigen, die am lautesten vor den „Gefahren des Populismus“ warnen, durch ihre eigene Weigerung, sich den realen Problemen zu stellen, genau jene Bedingungen schaffen, die sie zu verhindern behaupten. Wie Napoleon sagte: „Der Krieg bildet nicht den Charakter, er offenbart ihn.“ Die kommende Krise wird zeigen, aus welchem Holz unsere Gesellschaften wirklich geschnitzt sind.
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