Ein Hoch auf Marx!

Linke Zensur-Verfechter sollten bei ihrem Vorbild Karl Marx nachschlagen. Er wusste, wie schnell sich Verbote gegen einen selbst richten, sobald sich der Wind einmal gedreht hat.

Illustration von Karl Marx, der den Mittelfinger zeigt und in der anderen Hand ein Handy mit einem Stoppzeichen auf dem Display hält. Das Bild illustriert einen Artikel darüber, dass Marx für die Zensur nur Spott und Hohn übrig hatte. Er wusste, wie schnell sich Verbote gegen einen selbst richten, sobald sich der Wind einmal gedreht hat.
Karl Marx hatte für die Zensur nur Hohn und Spott übrig. © Jens Bonnke

Seit einiger Zeit wird über die Frage, ob in Deutschland und Österreich die Meinungsfreiheit bedroht sei, heftig gestritten. Die berüchtigte Rede von J. D. Vance, dem Vizepräsidenten der USA, bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2025 hat zusätzlich Öl in dieses lodernde Diskursfeuer gegossen. Ob die Bemühungen der nationalen Regierungen und der EU, vor allem auf den digitalen Plattformen die Verbreitung von Fake News sowie von Hass und Hetze zu unterbinden, ein notwendiges Korrektiv zur Macht der Internetkonzerne oder einen beispiellosen Eingriff in ein fundamentales Grundrecht einer freien Gesellschaft darstellen – darüber scheiden sich die Geister.

An dieser Auseinandersetzung wollen wir uns auch gar nicht beteiligen, sondern einmal kurz nachfragen, was jene Köpfe dachten, die sich im 19. Jahrhundert für das freie Wort, die freie Rede, die freie Meinung stark gemacht hatten. Aus dieser kleinen historischen Reminiszenz werden sich die Antworten auf brennende Fragen unserer Zeit ganz von selbst ergeben.

Beginnen wir mit einem Denker, für den die Ironie der Weltgeschichte eine besondere Pointe bereithält. Im Namen dieses Mannes wurden nach seinem Tod in den kommunistischen Staaten einige der rigidesten Zensurgesetze des 20. Jahrhunderts erlassen. Beginnen wir also mit Karl Marx. Der spätere Revolutionär und Analytiker des Kapitalismus startete seine schriftstellerische Karriere in jungen Jahren ausgerechnet mit einem journalistischen Text über die Frage der Pressefreiheit. In seinen Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion, publiziert 1842, unterzieht Marx diese Zensurrichtlinien einer ebenso scharfsinnigen wie polemischen Kritik. Aus heutiger Perspektive verblüfft daran vor allem eines: Vieles, was Marx aus dieser Instruktion zitiert und hämisch kommentiert, klingt nach genau jenen Argumenten, mit denen die Beschneidung des vermeintlichen Wildwuchses im Internet verteidigt wird.

Marx hatte für die Zensur nur Hohn und Spott übrig.

Man darf nicht vergessen: Die Zensurbehörden des 19. Jahrhunderts und ihre Beamten waren schon durch die Schule der Aufklärung gegangen. Sie schätzten die Freiheit des Denkens als ein hohes Gut, verlangten aber, dass damit verantwortungsvoll umgegangen werde. Kommt uns das nicht bekannt vor? So heißt es in dieser Instruktion: „Beleidigende Äußerungen und ehrenkränkende Urteile über einzelne Personen sind nicht zum Druck geeignet.“ Marx merkt dazu zynisch an, dass da wohl eine „objektive Bestimmung“ dieses Delikts fehle. Zählt nur die subjektive Befindlichkeit, sind willkürlichen Interpretationen Tür und Tor geöffnet.

Langer Kampf gegen missliebige Gesinnung

Des Weiteren sollten durch diese Richtlinien schädliche und missliebige politische Gesinnungen eingedämmt werden. Diese „Zensur der Tendenz“ entlarvt Marx als die „Tendenz der Zensur“. Das erinnert an die vom Digital Services Act der EU legitimierten „Trusted Flaggers“ (vertrauenswürdige Hinweisgeber), die gefährliche Inhalte im Netz schon in ihren Ansätzen erkennen und melden sollen, um deren Bekämpfung zu ermöglichen.

Die preußische Zensurinstruktion erlaubte zudem – als wäre sie dieser Tage formuliert worden –, die publizistische Unterstützung verfassungs- und religionsfeindlicher Umtriebe zu verbieten. Marx hat dafür nur Hohn und Spott übrig. Natürlich wollte die preußische Zensur dabei keine „ernsthafte Untersuchung der Wahrheit“ behindern – das erinnert an unsere Faktenchecker, die angeblich solcher Ernsthaftigkeit verpflichtet sind und streng über die Form wachen, die Nachrichten annehmen dürfen. Für Marx ist dies jedoch ein Angriff auf die Freiheit des Denkens: „Ich darf das Gesicht meines Geistes zeigen, aber ich muss es vorher in vorgeschriebene Falten legen.“ Das charakterisiert wunderbar die Phrasen, die jeder dem Mainstream folgende Text aufweisen muss.

Wenn Marx sich darüber mokiert, dass Kritik an der Regierung zwar erlaubt sei, diese aber nicht „gehässig und böswillig“ sein dürfe, fühlt man sich ganz in der Gegenwart angekommen. Und die folgenden Worte von Marx möchte man überhaupt jedem Medienpolitiker ins Stammbuch schreiben: „Gesetze, die nicht die Handlung als solche, sondern die Gesinnung des Handelnden zu ihrem Hauptkriterium machen, sind nichts als positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit.“ Gesinnungsgesetze, so Marx mit außergewöhnlicher Schärfe, sind keine Gesetze des Staates für Staatsbürger, sondern Gesetze einer Partei gegen eine andere Partei, unterliegen also einem politischen Machtspiel. Gesinnungsgesetze „basieren auf der Gesinnungslosigkeit“, sie sind „ein indiskreter Schrei des bösen Gewissens“.

Ach, hätten diejenigen, die solche Gesetze nun für den Kampf gegen Rechts fordern oder schon durchgesetzt haben, doch ihren linken Marx gelesen. Sie wüssten, dass – dreht sich der politische Wind, wie zurzeit in den USA – dieselben Gesetze auch gegen sie angewandt werden können. Darüber aber sollte man dann nicht jammern. Es wird einem lediglich mit jener Münze heimgezahlt, die man selbst geprägt hat.

Mit spitzer Feder greift Marx ein beliebtes Argument aller Apologeten der Einschränkung eines freien Meinungsaustausches an: dass die Freiheit missbraucht werden kann, dass in ihrem Namen gehasst und gehetzt wird: „Die Freiheit gibt die Möglichkeit des Bösen. Also ist die Freiheit böse.“ Ein Fehlschluss, dem alle, die eine Beschneidung dieser Freiheit fordern, verfallen. Doch Marx hat für diesen Eingriff in ein Grundrecht, der bekanntlich stets in bester Absicht erfolgt, die richtige Antwort parat: „Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.“ Marxens Conclusio ist eindeutig: „Die eigentliche Radikalkur der Zensur wäre ihre Abschaffung.“ Das gilt mutatis mutandis für alle aktuellen Versuche, die Freiheit der Meinung im Namen besonderer Vorsichtsmaßnahmen und im Sinne „faktenbasierter“ Kommunikation einzuschränken.

Der Staat darf nicht vorschreiben, wie seine Bürger zu denken haben.

Aber, so wird man dem entgegenhalten, es gibt zweifellos Meinungen und Gedanken, die falsch, böse und gefährlich sind und großen Schaden anrichten können. Und davor muss man die Menschen schützen, denn diese haben ein Recht auf einen Kommunikationsraum, in dem Respekt und Faktentreue die obersten Kriterien sind. Haben sie dieses Recht wirklich? Oder wird ihnen dadurch ein entscheidendes Recht vorenthalten?

Machen wir einen kleinen zeitlichen Sprung: Nicht einmal zwei Jahrzehnte nach Marx’ Invektiven gegen die liberalen Zensurgesetze veröffentlicht der englische Philosoph John Stuart Mill unter tätiger Mitwirkung seiner Gefährtin Harriet Taylor den Essay On Liberty (Über die Freiheit). Mill schreibt keine polemische Abhandlung gegen die Zensur, sondern er untersucht die Funktion und Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine liberale Gesellschaft. Sein Befund: Die Grundlage aller Freiheit ist die Freiheit der Meinung. Und diese darf keinen Einschränkungen unterliegen.

Mill fordert ohne Umschweife die „Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und der gefühlsmäßigen Wertungen in allen Dingen, praktischen wie theoretischen, wissenschaftlichen, moralischen wie theologischen“. Der englische Philosoph denkt kompromisslos: Man kann und darf zu allem eine Meinung haben und äußern, ob diese mit Fakten, dem Common Sense, einem Mainstream oder einer dominanten Ideologie übereinstimmt, ist für das Recht auf freie Meinungsäußerung ohne jeden Belang. In einer liberalen Gesellschaft dürfte es deshalb generell keine Meinungs- oder Gesinnungsdelikte geben. Und schon gar nicht darf der Staat vorschreiben, wie seine Bürger zu denken oder seine Wissenschaftler zu forschen haben.

Die Mode, dass mittlerweile Politik oder Justiz darüber befinden, wie historische Ereignisse zu klassifizieren und zu beurteilen sind, ist ein Unding. Entweder handelt es sich um eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft – dann sollte diese ihrer Arbeit ohne Vorgaben nachgehen dürfen; oder es geht um subjektive oder ideologische Bewertungen – dann gilt jede Meinung dazu so viel wie eine andere.

Diskursverweigerung als Schwächezeichen

Mill führt unter anderem einige pragmatische Gründe für seine radikale Auffassung an. Gerade wer von der Richtigkeit seiner eigenen Meinung überzeugt ist, müsste doch ein Interesse daran haben, diese durch eine Auseinandersetzung mit gegenteiligen Positionen zu stärken. Die heute gerne geübte Diskursverweigerung ließe sich so als Eingeständnis der eigenen Schwäche interpretieren.

Überdies ist es nach Mill nicht ausgeschlossen, dass auch im größten Unsinn ein Körnchen Wahrheit steckt und dass der Fortschritt im Denken auf mitunter abseitig erscheinende und zugespitzt formulierte Ideen angewiesen ist. Gerade wer an der Wahrheit interessiert ist, wird aus erkenntnistheoretischen Gründen keine Meinung oder Ansicht, und sei sie noch so abstrus, ohne Prüfung ablehnen. Der Irrtum gehört zur Erfolgsgeschichte der modernen Wissenschaft.

Wir werden behandelt wie Kinder.

Daneben kennt Mill noch ein schönes prinzipielles Argument: Wer sich einer Debatte verweigert, weil er glaubt, die Wahrheit ohnehin zu kennen, beansprucht für sich eine ziemlich erhabene Position: „Jede Unterbindung einer Erörterung ist eine Anmaßung von Unfehlbarkeit.“ Wäre dies nicht der Fall, müsste man nämlich zugestehen, dass man andere Meinungen aus Gründen der Macht, der Eitelkeit, der Feigheit oder der Unduldsamkeit nicht zulassen oder debattieren will.

Mill spricht sich deshalb auch radikal gegen jede Einschränkung der Meinungsfreiheit in Sachen religiöser Befindlichkeiten aus und beruft sich dabei nicht ohne Witz auf eine antike Weisheit: „Beleidigungen der Götter sind Sache der Götter.“ Da niemand nachweisen kann, dass beleidigte Götter den Menschen zürnen und sich an diesen rächen, kann es in einer freien Gesellschaft keinerlei Blasphemiegesetze geben.

Freiheit ist eine Frage der Mündigkeit

Mills Freiheitsbegriff kennt allerdings eine anspruchsvolle Voraussetzung: den souveränen, selbstbewussten, gebildeten und mündigen Bürger. Sein Konzept gilt nicht für Kinder oder junge Leute unterhalb der Volljährigkeitsgrenze. Nur diejenigen, die noch die Fürsorge anderer benötigen, müssen vor Meinungen, die sie nicht beurteilen können, geschützt werden. Mit anderen Worten: Alle Argumente der Gegenwart, die Einschränkungen, Kontrollen, Meldesysteme und Verbote mit dem Hinweis fordern, dass wir ansonsten den Algorithmen und Manipulationen der Social-Media-Plattformen hilflos ausgeliefert wären, sprechen den Menschen prinzipiell ihre Mündigkeit in Meinungsfragen ab.

Wir werden behandelt wie Kinder. Was uns als Kampf gegen demokratiegefährdende Ideologien verkauft wird, ist ein Programm der Gegenaufklärung, die Rückführung des Menschen in eine selbstverschuldete Unmündigkeit. Was sollte einen Erwachsenen, der bei Sinnen ist, daran hindern, gerade die Vielfalt der modernen Informationsmöglichkeiten zu nützen, um einseitigen Beeinflussungen zu entgehen? Der Einzelne, so hören wir, wäre damit überfordert. Wie gut, so könnte man ausrufen, dass die Wächter über unseren Geist damit nicht überfordert sind. Wenn es aber diese schaffen – warum nicht auch wir selbst?

Für Mill gibt es nur ein Kriterium, das die Freiheit der Meinung einschränkt: Wenn diese aufhört, Meinung zu sein, und zu einer schädigenden Tat wird oder zu einer solchen aufruft. Das ist klar und durch das Strafgesetz geregelt. Wenn Menschen in ihrer persönlichen Integrität angegriffen, wenn sie an der Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten gehindert werden, gerät die Freiheit an eine Grenze. Aber eben erst dann. Und vor allem: Worte sind keine Taten. Meinungen sind keine Handlungen. Gesinnungen sind keine Aktionen.

Das Recht auf Meinungsfreiheit gründet darin, dass es tatsächlich um Meinungen, Werturteile, Gedanken, Thesen, Phantasien oder Theorien geht. Nicht die Menschen müssen vor Meinungen, die freie Meinungsäußerung – wie falsch, wirr, bösartig, gemein, wie utopisch, idealistisch oder romantisch sie sein mag – muss vor übereifrigen Menschen, die gerne Vormund spielen, geschützt werden.

Man wird, nach den Erfahrungen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts und ihren Propagandisten und Vordenkern, diesem radikalen Ansatz vielleicht mit Unbehagen begegnen. Die Sorge, dass eine allzu große Freiheit den Keim der bösen Tat in sich tragen könnte, mag berechtigt sein. Wer sich aus diesen Gründen dazu durchringt, einige dieser divergenten und mitunter üblen Vorstellungen, Kommentare und Einwürfe zu untersagen, sollte jedoch nicht mehr von Meinungsfreiheit sprechen, sondern von politisch zulässigen und deshalb erlaubten und politisch unzulässigen und deshalb zu unterbindenden Ansichten. Und er sollte die Instanzen, die diese Zulässigkeitsgrenze überwachen, beim Namen nennen: Zensurbehörden. Das wäre wenigstens ehrlich.

Karl Marx hatte seinen Artikel, noch ganz im Stil des Bildungsbürgers, mit einem Zitat des römischen Historikers Tacitus beschlossen: „Rara temporum felicitas, ubi quae velis sentire et quae sentias dicere licet“ (Seltenes Glück der Zeiten, in denen man denken kann, was man will, und sagen kann, was man denkt). Auch uns, so scheint es, ist dieses Glück nicht immer hold.

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