Wie sich Deutschland einschläfern ließ

Adolf Nazi lebt hier nicht mehr. Keine Großmachtsallüren, kein Kniefall vor starken Männern, keine wilden Träume: Deutschland ist brav und langweilig geworden – und das muss nicht unbedingt schlecht sein.

Die Illustration zeigt ein Sofa auf dem ein Kissen mit der Aufschrift „Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ liegt. Das Bild illustriert den Kommentar „Deutschland ist langweilig geworden“ von Josef Joffe.
Singen wir ein Hohelied auf die Langeweile, denn die ist besser für Deutschland als seine aufregenden Epochen bis 1945, meint Josef Joffe. © Jens Bonnke

„Mögest du in interessanten Zeiten leben“, lautet ein subtiler chinesischer Fluch. So erging es Europa im 20. Jahrhundert, als ein Unheil das andere jagte. Und niemand sonst hat diese Zeiten so „interessant“ gemacht wie die Deutschen.

Die abenteuerliche Karriere dieses Landes begann 1871, als Bismarck 25 Kleinstaaten mit „Eisen und Blut“ zusammenschweißte. Der Reichskanzler wusste um die prekäre Mittellage dieses neuen Giganten und zimmerte ein System, das den Status quo festigen sollte. Doch mit der Macht kam die Ambition unter Kaiser Wilhelm II. Dessen Hegemonialträume zerbrachen im Ersten Weltkrieg. Der Niederlage folgte das Strafgericht von Versailles mit Gebietsverlusten und untragbaren Reparationslasten.

Langweilig wurde es auch nachher nicht. 1923 brach eine mörderische Inflation aus, auf deren Höhepunkt 1 Dollar 4,2 Milliarden Reichsmark wert war. Sechs Jahre später folgte die Verelendung in der Weltwirtschaftskrise. Es tobte ein Quasi-Bürgerkrieg zwischen Nazis und Kommunisten, der das Ende der ersten deutschen Demokratie besiegelte.

Sechs Jahre später entfesselte Hitler gezielt den fürchterlichsten Krieg aller Zeiten – mitsamt dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. Der Preis dafür sollten totale Unterwerfung und die Zweiteilung des Landes sein. Noch „interessanter“ konnte es nach diesen Jahrzehnten nicht mehr werden.

Finis Germaniae?

Derweil die Ostdeutschen in die nächste Diktatur fielen, hatten die Westdeutschen märchenhaftes Glück, das sie dem Kalten Krieg verdankten. Denn der Westen brauchte Westdeutschland als strategischen Wall gegen Moskau. Diesmal bestand die „Strafe“ aus Re-Education, Marshallplan und Eingliederung in die demokratische Gemeinschaft. Plötzlich stand dieses Deutschland nicht mehr allein auf weiter Flur. Stattdessen durfte es eine Heimat und nie dagewesene Normalität genießen.

Zusammen mit dem Wirtschaftswunder erblühte das noch größere Politwunder. Das meistgehasste Land auf Erden saugte Demokratie ein und wuchs zu einem der beliebtesten heran. Niemand musste mehr vor den Deutschen Angst haben. Unter der Aufsicht der Alliierten konnten sie weder drohen noch bedroht werden.

Ihre ultrastabile Demokratie war das Kind der Sicherheit. Jetzt konnte kein Kaiser Wilhelm mehr bramarbasieren: „Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.“ Ein zweiter Adolf hatte keine Chance unter der Fuchtel des Westens, der zugleich einen Schutzschild lieferte.

Statt Adolf kam ein Adenauer, der heute fast vergessen ist, aber gleich neben dem Reichsgründer Bismarck im Olymp sitzt. Gegen heftigen Widerstand verankerte er die junge Bundesrepublik im Westen und hob den Fluch der Mittellage. Es verschwanden die Parteien der extremen Rechten und Linken. Im jugendlichen Alter hatte die Republik nur drei politische Anbieter, die sich in der Mitte gruppierten. Aufrüstung in der NATO ja, Ambition nie wieder.

Doch ohne Ehrgeiz kommt nichts Aufregendes. So wurde das Land zum „Ohnemichel“, zum sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer. Dieser pflegte nur noch den eigenen Garten, was das Vertrauen der Sieger wachsen ließ. Wieso soll diese wundersame Besserung „langweilig“ sein? Weil das Brave wie bei einem Kind nicht sonderlich interessant ist. Keine Großmachtsallüren mehr, kein Kniefall vor starken Männern, keine wilden Träume, sondern Wohlerzogenheit und Berechenbarkeit. Solche Menschen lobt man, ist aber nicht fasziniert von ihren hellen oder abgründigen Seiten.

Es lässt sich trefflich plaudern, wenn man vom mächtigsten Bündnis aller Zeiten beschützt wird.

Das heutige Deutschland ist stark und reich – die größte Wirtschaft Europas, die drittgrößte der Welt. Doch es ist kein „großer böser Wolf“. Der einstige Superimperialist positionierte sich als „Friedensmacht“. Nervig ist bloß der Hang zum Moralisieren: „Frieden schaffen ohne Waffen“, tönt es in Deutschland. „Politische Probleme lassen sich nicht militärisch lösen“– was die übrige Welt seit Jahrtausenden tut. Es lässt sich trefflich plaudern, wenn man vom mächtigsten Bündnis aller Zeiten beschützt wird. So konnte die Republik züchtig Einfluss in Handel, Investitionen und EU-Institutionen suchen. Es regiert die Wiedergutwerdung der Deutschen.

Not invented here

Die Deutsche Bahn kommt so rechtzeitig wie eine Schildkröte. Was ist los in diesem gebenedeiten Deutschland? Das Land ist zuverlässiger als der ICE, der noch in zehn Jahren nur halb so schnell fahren wird wie ein französischer TGV oder die italienische Frecciarossa.

Deutschland war zwischen Gründer- und Nazizeit eine Dampfwalze der Moderne gewesen, ein Vorgriff auf das heutige Amerika. Inzwischen gilt der englische Spruch: „Not invented here“. Hollywood, Teflonpfanne, Harvard, Rockmusik, Apple, Quantencomputer hat die Welt den Amerikanern zu verdanken. Penicillin und die Entschlüsselung der DNA-Struktur sind britische Errungenschaften. Von den Franzosen kommen das Polohemd, Marie Curie und die Concorde.

Die Vorgänger der heutigen Bundesrepublik hatten zwischen Luther und Hitler die Welt revolutioniert. Mit der Literatur von Goethe bis Mann, der Musik von Bach bis Brahms, der Philosophie von Leibniz über Kant bis Wittgenstein (okay, der war Österreicher, genau wie Mozart). Technologie und Verfahrenstechnik, Chemie und Pharmakologie waren einst weitgehend „made in Germany“. Nicht zu vergessen: Gummibärchen und Dominosteine; der Hamburger ist indes rein amerikanisch.

Seit 1901 haben Deutsche 115 Nobelpreise kassiert, die allermeisten allerdings vor 1933 – von denen wiederum ein Drittel an deutsche Juden ging. Seit 1945 gibt der deutsche Dynamo nicht mehr den Strom her, der einst die Welt elektrisierte. Derweil die Deutschen zum demokratischen Vorbild heranwuchsen, sanken ihre Sterne am Firmament der Wissenschaft und Kultur. Unter den Ursachen stehen vorweg Vertreibung und Emigration der Besten. Von deren Verlust hat sich die deutsche Universität bis heute nicht erholt.

Tausende von jüdischen Wissenschaftlern aus dem deutschen Kulturkreis, Koryphäen in ihren Fächern, flüchteten nach Amerika und England. Es war ein doppelter Verlust. Was hier ausgerissen wurde, konnte keine Früchte mehr tragen; was dort eingepflanzt wurde, sprießte und säte neue Talente.

Im globalen Ranking sind acht US-Unis unter den Top Ten; die erste deutsche – Heidelberg – nimmt Platz 55 ein. Persönlicher Einschub: Als dieser Autor seinen Ph. D. in Harvard machte, saßen in seinem Prüfungsausschuss nur Professoren, die ohne Fluchtgeschichte in Berlin, Prag, Riga und Wien unterrichtet hätten.

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Zahlen & Fakten

Doch diese Lesart löst das Rätsel nicht. Zwar gibt es am Standort D keine wissenschaftlichen Leuchttürme mehr, wie es einst Göttingen, Heidelberg und Berlin waren. Daran kann aber nach einem Menschenalter nicht allein Adolf Nazi schuld sein. Denn der zweite Niedergang begann in den 1960er-Jahren, als die Republik sich entschied, die einstige Elite- in eine Massenuniversität zu verwandeln – im Namen der sozialen Gerechtigkeit. Gleichheit und Genialität vertragen sich allerdings nicht. Es fehlen Auswahl, Konkurrenz und Leistungsdruck.

In den USA gibt es nicht nur Harvard, Stanford und Co, sondern an die 6.000 Tertiär-Institutionen, von denen die meisten nicht gerade hell leuchten. Aber fünfzehn unter den globalen Top 20 sind eben amerikanische Institutionen – nennen wir sie Leuchttürme oder Brutstätten des Geistes. Nun herrscht die Massenuniversität auch anderswo, aber England hat Cambridge, Oxford und die LSE. Frankreich hat Sciences Po und ENA. In der Schweiz rangiert die ETH Zürich weit vor Heidelberg. Diese Unis sind elitär, aber gehören längst nicht mehr der Standes- und Geldelite. Sie locken Talente und stacheln sie an.

Die Deutschen haben für Egalität statt Exzellenz optiert, was sozial vorbildlich ist, aber weder ein MIT noch ein Cambridge blühen lässt. Desgleichen in anderen Bereichen, wo das Soziale das Intellektuelle schlägt. Das fängt schon in der Schule an, die kein Kind zurücklassen oder diskriminieren darf. Der Effekt ist pervers, schicken doch begüterte Eltern ihre Sprösslinge in teure Privatschulen und später zum Studium nach Amerika und England. So manche kehren nicht mehr zurück, sondern machen Karriere im Ausland. Das geschieht ganz ohne „Nachhilfe“ von Adolf H.

Früher war mehr Lametta

In der Politik fehlen ebenfalls Glanz und Gloria. Dieser Autor fragt gern junge Talente: „Willst du in die Politik gehen?“ Keiner sagt ja. War früher alles besser? Bestimmt nicht. Es gab Armut, schwere Arbeit und unheilbare Krankheiten.

Vergleichen wir dennoch die deutschen Politiker bis in die 1970er-Jahre mit den heutigen – also etwa Helmut Schmidt mit Olaf Scholz. Wer den Bundestag durchsucht, wird kaum Figuren finden, deren Namen im Gedächtnis bleiben. Stattdessen erblickt man Politiker, die schon als Teenies in die Jugendorganisation der Parteien eintraten und hernach die Ochsentour einschlugen, ohne je einen richtigen Beruf ergriffen zu haben. Sie leben nicht für, sondern von der Politik. Sie kommen aus Gewerkschaften und Verbänden. Oder aus dem pensionsberechtigten Sozial- und Schulbetrieb.

Unvergessen bleibt der Spruch eines verstorbenen Großen in der deutschen Politik, Otto Graf Lambsdorff: „Der Bundestag ist mal voller, mal leerer, aber immer voller Lehrer.“ Doch hatte schon Konrad Adenauer eine Ahnung gehabt, wie es um die deutsche Politik stand. Als sich ein Kabinettsmitglied bei ihm über ein anderes beschwerte, erwiderte er lakonisch: „Man muss die Leute so nehmen, wie sie sind; es gibt keine anderen.“ Die Sache ist seit dem Gründervater nicht besser geworden.

Vom Segen der Farblosigkeit

Andererseits: Wer aus dem Ausland zurückkehrt, weiß die Effzienz der deutschen Bürokratie zu schätzen. Ein Gesundheitssystem, das Leistungen nicht rationiert wie das britische oder so unbezahlbar ist wie das amerikanische. Eine Polizei, die nicht verängstigt. Einen Rechtsstaat, der dem Bürger endlosen Rekurs gegen den Staat bietet. Eine ausgewogene Einkommensverteilung, gepaart mit hoher sozialer Sicherheit. Einen großzügig alimentierten Kulturbetrieb. Und nicht zu vergessen: einen hochkompetitiven Lebensmittelmarkt, dessen Niedrigpreise Besucher aus Amerika und Europa vor Neid erblassen lassen.

Bloß „interessant“ sind diese Errungenschaften nicht. Man denke nur an die deutsche Autoindustrie, die die E-Revolution verschlafen hat. Oder daran, wie schwierig es für einen Jungunternehmer ist, Gründungskapital zu bekommen, den Wust der Regulierungen zu durchbrechen.

In der angeblich dekadenten Weimarer Republik hatten dagegen Kunst, Theater, Film, Wissenschaft, Literatur geblüht. Berlin war cooler als New York, L. A., Paris oder London. Lag’s nur an den Juden, der Hefe im Teig? Damals lebten in Deutschland über 500.000 Gemeindemitglieder, heute nur 90.000. Nach hundert Jahren überzeugt diese Begründung nicht, zumal heute noch 80 Millionen Andersgläubige im Spiel sind. Schwerer wiegen die Ernüchterung und Ermüdung nach den „interessanten“ Zeiten bis 1945.

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Zahlen & Fakten

Doch steht Deutschland in dieser Beziehung nicht allein da. Vergleichen wir das heutige Europa mit seinen atemberaubenden Leistungen im vergangenen Halbjahrtausend: Renaissance, Reformation und Aufklärung haben die Europäer erfunden, das technisch-wissenschaftliche Zeitalter ebenso. Inzwischen ist der Schwerpunkt der Kreativität nach Amerika, zu Europas Kind, gewandert.

Hohelied auf die Langeweile

Wir wissen, wie den Deutschen die Lust am Abenteuer ausgetrieben wurde. Nach der blutigen Vergangenheit schwand die Lust an Experimenten und am Wettstreit – jedenfalls abseits des Sports und der Musikhochschulen, welche die Ehrgeizigen aus aller Welt anlocken. In 16 Jahren Angela Merkel ließ sich die Republik willentlich einschläfern. Schon Helmut Kohl hatte das Land in seinen 16 Jahren nicht gerade vorwärtsgepeitscht. Die gegenwärtige „Ampelkoalition“ ist zum Witz geworden.

In 16 Jahren Angela Merkel ließ sich die Republik willentlich einschläfern.

Singen wir trotzdem ein Hohelied auf die Langeweile. Überall auf dem Kontinent sammeln Rechtsnationale Punkte in der Wählergunst. Diesmal ist Deutschland auf einem beruhigenden „Sonderweg“. Obwohl die extreme AfD in den Umfragen absahnt, sind ein Donald Trump und die scharfe Polarisierung Amerikas hier nicht vorstellbar. In Deutschland gibt es keinen Viktor Orbán. Nicht einmal einen Boris Johnson mit seinen Eskapaden. Auch keinen Nicolas Sarkozy, der 2021 wegen allerlei Unterschleif zu drei Jahren verurteilt wurde. Oder einen übel beleumundeten Pulcinella wie Silvio Berlusconi.

Von den Habsburgern hieß es: „Andere mögen Kriege führen, du, glückliches Österreich, heirate!“ Für Deutschland gilt: „Vergiss Krieg und Hochmut. Bleib bescheiden, zuverlässig und berechenbar. Mögest du nicht mehr in ‚interessanten Zeiten‘ leben!“

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