Wer sind die Deutschen?

Von außen betrachtet wechselt das Bild des deutschen Michel zwischen Schlafmütze und Pickelhaube. Solche Janusköpfigkeit beunruhigt den Betrachter.

Die Illustration zeigt zwei Deutsche. Einmal mit Pickelhaube und einmal mit Schlafmütze. Das Bild illustriert einen Artikel über die deutsche Bevölkerung.
Die Klischees vom verschlafenen deutschen Michel sind zu kurz gedacht. © Jens Bonnke
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Auf den Punkt gebracht

  • Widersprüchlich. Die Gegensätzlichkeit der Klischees von Pickelhaube und Stahlhelm sagt mehr über die Deutschen aus als die Klischees selbst.
  • Nationalstereotype. Regionale Vielfalt, verschiedene Erfahrungen der Generationen und der gesellschaftliche Stimmungswechsel sprechen gegen Klischees.
  • Unberechenbarkeit. Die Ungewissheit über die Befindlichkeit der Deutschen macht den Nachbarn mehr zu schaffen als es ein negatives, aber dafür klares Bild würde.
  • Janusgesicht. Die deutsche Befindlichkeit wird in nicht allzu ferner Zukunft entweder in ein neues Biedermeier oder in hektische Betriebsamkeit münden.

Zwei Klischees sind in der Fremdwahrnehmung der Deutschen und ihrer Befindlichkeiten vor allem anzutreffen: dass sie, so das erste, am liebsten eine Pickelhaube oder den Stahlhelm als Kopfbedeckung trügen oder zumindest doch vor denen, die solches auf dem Kopf haben, innerlich strammstünden, oder aber dass sie, so das zweite, dem ersten radikal entgegengesetzte Klischee, notorisch schlafmützig seien, weswegen sie als Symbol dessen häufig als deutscher Michel mit einer großen Schlafmütze dargestellt werden. 

Um dieses Klischee zu verstehen, muss man wissen, dass der heilige Michael eigentlich der Kriegsheilige der Deutschen ist, der hier jedoch ganz ins Biedermeierliche verwandelt worden ist: Er sitzt nicht mit Helm, Harnisch und aufgerichteter Lanze zu Pferde und widersteht der Bedrängnis durch Tod und Teufel, wie dies auf Dürers berühmtem Stich „Ritter, Tod und Teufel“ zu sehen ist, sondern hat sich in die Behaglichkeit seiner Wohngemächer zurückgezogen, wo er sich bevorzugt im Bett aufhält. Er gibt sich ganz dem Behagen hin und will von der Welt draußen mit all ihren Versuchungen und Gefährdungen nichts wissen. Und schon gar nicht will er sich solchen aussetzen.

Man weiß nicht, woran man mit ihnen ist. Sie sind keine verlässlichen Gefährten auf den Wegen Europas.

Dass man die Deutschen beim Blick von außen in zwei derart gegensätzlichen Bildern wahrnimmt – Bildern, die als ikonische Verdichtungen ihrer Befindlichkeit angesehen werden können –, sagt wohl mehr über sie aus als jedes der beiden Klischees für sich genommen.

Man fasst die Deutschen als extrem widersprüchlich in den Blick. Mal sind sie so und dann wieder ganz anders; mal habe man sie an der Kehle und müsse sich ihres mörderischen Angriffs erwehren, und dann wieder lägen sie einem zu Füßen und winselten um Gnade, wie Churchill über die Deutschen gesagt haben soll. 

Woran ist man mit den Deutschen?

Kurzum: Man weiß nicht, woran man mit ihnen ist. Sie sind, so der Tenor des Doppelbildes, keine verlässlichen Gefährten auf den Wegen Europas. Vermutlich macht diese Ungewissheit über die Befindlichkeit der Deutschen den europäischen Nachbarn mehr zu schaffen, als es der Fall wäre, wenn sie ein klares, wenn auch unerfreuliches Bild von den Deutschen hätten.

Aber sagt nicht die Ausprägung solcher Klischees womöglich mehr über die aus, die sich ihrer bedienen, als über jene, die damit bedient werden? Wie soll es möglich sein, eine Bevölkerung von inzwischen bald 85 Millionen Menschen in einem Bild oder einem Begriff zu fassen? Und das auch noch in einer seit Jahrzehnten individualistisch grundierten und pluralistisch verfassten Gesellschaft – einer Gesellschaft zumal, in der viele Menschen auch noch einen, wie man inzwischen sagt, „migrantischen Hintergrund“ haben. 

Drei Einwände gegen Klischees

Nationalstereotype und die auf ihnen beruhenden Klischees sind eine Übervereinfachung bei der Antwort auf die Frage, was denn die wesentliche Befindlichkeit einer Nation sei – oder besser einer Bevölkerung, deren Zusammengehörigkeit im Sinne von Identität ihnen von Intellektuellen zugeschrieben worden ist, in kultureller, sprachlicher und, zeitweilig jedenfalls, auch in rassischer Hinsicht. 

Wer mit Nationalstereotypen arbeitet, dem geht es so wie im Film von Charlie Chaplin beim Schließen seines Koffers, als er, weil er die eingepackten Sachen nicht ordentlich sortiert hat, die heraushängenden Hemdsärmel und Hosenbeine kurzerhand abschneidet. Um die Folgen dieser Problemlösung zu erfahren, muss man sich vorstellen, wie der nach dem Öffnen des Koffers mit dem Eingepackten Bekleidete aussehen wird: grotesk.

Gegen die Beliebtheit der Klischees und Stereotype als schnelle und handliche Orientierung in der Vielfalt der europäischen Staaten lässt sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive dreierlei einwenden: 

Vielfalt

Zunächst ist auf die Vielfalt der Regionen und Länder zu verweisen, aus denen eine Nation im Verlauf der Geschichte entstanden ist, und diese Vielfalt ist im Falle der Deutschen besonders groß und langlebig. Da sind die Süddeutschen und die Norddeutschen, die Bayern und die Hanseaten, die Sachsen und die Brandenburger (um von den Preußen und dem Preußischen nicht zu reden), die Ost- und die Westdeutschen, die einander in inniger Abneigung verbunden sind. Sie „über einen Kamm zu scheren“, wie man so schön sagt, ist kaum möglich. 

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Zahlen & Fakten

Die einen haben es mit dem Alpenländischen und seinen Traditionen, die anderen mit der See und den maritimen Gepflogenheiten, die einen schauen traditionell nach Westen, nach Frankreich, England und den USA, die anderen eher nach Osten, weswegen sie eine tiefe, selbst durch Putin nicht zu erschütternde Verbundenheit mit der „russischen Innerlichkeit“ (auch so ein Klischee!) haben. Die einen lieben für den Urlaub den Süden, Spanien, Italien und Griechenland, während es die anderen in den Norden, nach Skandinavien oder aufs nördliche Meer, zieht. Solche Zentrifugalität ist nicht zuletzt eine Folge der geografischen Mittellage Deutschlands, in der es sich den Anziehungskräften aller Himmelsrichtungen ausgesetzt sieht: politisch wie kulturell, hochkulturell wie spaßkulturell.

Generationenwechsel

Zur Vielfalt der Regionen kommt – zweitens – der Wechsel der Generationen hinzu, also jener Alterskohorten, die durch besonders eindrückliche Erlebnisse und Erfahrungen geprägt sind. Lange Zeit hat man in Deutschland von der „Kriegsgeneration“ gesprochen oder auch von der „Generation der Flakhelfer“, denen dann die „Generation Käfer“ und die „Generation Golf“ folgten.

War für die Ersteren die Erfahrung von Krieg und Zerstörung, Schuld und Niederlage prägend gewesen, war es für die Letzteren das Erlebnis der Automobilisierung durch ein Produkt des langlebigen Konsums – eines Konsums, den sich tendenziell alle leisten konnten, weswegen ja auch nicht von einer „Generation Mercedes“ oder „Generation Porsche“ gesprochen wird. An die Stelle der massenhaften Kriegserfahrung trat bei der Generation Golf der massenhafte Wohlstand. Beides hatte prägende Wirkung, aber der Prägestempel war doch ein grundlegend anderer. Was verbindet die Kriegsdeutschen und die Wohlstandsdeutschen eigentlich, außer dass sie einander mit skeptisch-vorwurfsvollem Blick beäugten?

Stimmungsumschwung

Und schließlich kommt bei der Antwort auf die Frage nach den kollektiven Befindlichkeiten noch ein Wandel der soziopolitischen Grundstimmungen hinzu. Von der liberal-optimistischen Gestimmtheit, die von der Kanzlerschaft Willy Brandts bis zu der Angela Merkels die deutsche Gesellschaft dominierte, ist inzwischen nicht viel geblieben. An ihre Stelle sind – wie übrigens auch sonst in Europa – national-konservative Grunddispositionen getreten, die sich bis in die bürgerliche Mitte hinein bemerkbar machen.

Der Aufstieg populistischer Parteien mit Präferenz fürs Autoritäre ist etwas, was man sich in Deutschland vor wenigen Jahren noch kaum vorstellen konnte. Ob das strukturell prägend sein wird, bleibt abzuwarten. Für die gegenwärtigen Befindlichkeiten der Deutschen spielt es indes eine wichtige Rolle. Wie kann man, wie soll man derlei in ein die Zeiten übergreifendes Bild „des Deutschen“ einarbeiten?

Zwischen Betulichkeit und Aktivismus

Wer also sind sie, die Deutschen? Solche, die beim Verteilen von Prügeln seitens der Obrigkeit rufen, sie wollten nicht fünfzig, sondern hundert Hiebe bekommen, wie es in Erich Kästners „Lied vom kleinen Mann“ heißt? Oder solche, die bei jeder Gelegenheit einen Anwalt und zahllose Gerichte bemühen, um ihre Interessen beziehungsweise „ihr gutes Recht“ zur Geltung zu bringen?

In die Frage nach der Befindlichkeit übersetzt: Handelt es sich bei den Deutschen wesentlich um Leute, die vom Staat erwarten, dass er für Zucht und Ordnung sorgt? Oder um Leute, die sich in einem fort von oben und nebenan ungerecht behandelt fühlen und darüber zu „Prozesshanseln“ oder politischen Anarchisten werden, die also das staatliche Rechtswesen durch Überforderung ungewollt lahmlegen oder es gezielt auflösen und zerstören wollen?

Die Deutschen sind missmutiger geworden, und diese Unzufriedenheit schlägt zunehmend ins Bösartige um.

Man kann es nicht sagen, denn tatsächlich gibt es diese wie jene in einer relevanten Anzahl. Eines freilich wird man sagen können: Sie sind missmutiger geworden, als sie bis vor kurzem noch waren, die Deutschen, und diese Unzufriedenheit, dieser Missmut und das Gefühl, schlecht behandelt zu werden, schlagen zunehmend ins Bösartige um. Aber, so könnte man sofort einwenden, ist das nicht allenthalben in ganz Europa so? Ist es gar nicht nationalspezifisch deutsch?

Vielleicht gibt der aktuelle Hype um die Bilder von Caspar David Friedrich am ehesten eine Antwort auf die – zumindest gegenwärtige – Befindlichkeit der Deutschen: romantisch und melancholisch, eher der Natur als dem Artifiziellen zugewandt, ermüdet und überfordert von den offenkundig kaum erfolgreichen Anstrengungen einer aufgeklärten Reformpolitik, ganz hingegeben der Betrachtung des Bleibenden und sich von Mal zu Mal Wiederholenden, eher ruhig und versonnen, als auf Veränderung und Umgestaltung bedacht. 

Will man es ins Positive wenden: also ganz bei sich. Oder wenn man eine gehörige Portion Essig dazugibt: in einer Zwischenphase, die so nicht lange bleiben kann und entweder von einem neuen Biedermeier oder aber von hektischer Betriebsamkeit abgelöst werden wird. Es ist dieses Janusgesicht, das ein ums andere Mal die Deutschen und ihre Befindlichkeit kennzeichnet.

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Conclusio

Das Bild der Deutschen changiert zwischen Extremen. Man weiß nicht, woran man mit ihnen ist. Nationale Stereotype verkürzen die Wirklichkeit stets ins Groteske – besonders in Deutschland, mit seiner Vielfalt an Regionen und Ländern, den verschiedenen Erfahrungen, die die Generationen geprägt haben, sowie dem Wechsel der gesellschaftlichen Grundstimmung vom Liberal-Optimistischen ins National-Konservative. Jedenfalls sind die Deutschen – wie die übrigen Europäer auch – in den letzten Jahren missmutiger geworden. Sie befinden sich in einer Zwischenphase: melancholisch eher der Natur zugewandt als der Moderne und skeptisch den künftigen Veränderungen gegenüber. Diese Phase kann in einen betulichen Rückzug ins Private oder in einen aufwallenden Aktivismus münden. Deutschland ist und bleibt unberechenbar.

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