Im Zeitalter der Ersatzreligionen

Die westliche Welt hat sich ihres Gottes entledigt, doch ohne Dogmen und Jüngstes Gericht kommt der moderne Mensch nicht aus. Die neuen Ersatzreligionen heißen Wokeismus und Klimatismus. 

Drei Hände, die drei Ersatzreligionen symbolisieren.
Wir beten nicht mehr zu Gott, sondern hängen Ersatzreligionen an. © Claudia Meitert
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Auf den Punkt gebracht

  • Neue Ersatzreligionen. Wokeismus, Klimatismus und Technizismus übernehmen klassische Glaubensstrukturen.
  • Moralischer Absolutismus. Neue Bewegungen fordern Gehorsam, bekennen Schuld und kennen keine Vergebung.
  • Verlust des Menschenbildes. Der Einzelne wird reduziert – auf Gruppenzugehörigkeit, Natur oder Algorithmen.
  • Werte in Gefahr? Ohne christliche Wurzeln könnten Menschenwürde und Freiheitsrechte an Halt verlieren.

Die Kirchen stehen wie entlaubte Bäume in der postmodernen Landschaft, die westliche Welt hat sich ihres Gottes größtenteils entledigt. Viele scheinen sich im Haus der Immanenz gut eingerichtet zu haben. Doch anstatt von allen religiösen Geistern verlassen zu sein, wimmelt es in der heutigen Gesellschaft von Ersatzreligionen, die ganz ohne Gott auskommen.

Eine davon ist der Wokeismus, eine gesteigerte Form der Political Correctness. Diese neue, säkulare Religion verlangt, dass man von seiner verblendeten Weltsicht ablässt und sich zur Wokeness bekehrt. Um der Erbsünde des institutionellen Rassismus und der sozialen Ungerechtigkeit zu entkommen, wird ein öffentliches Sündenbekenntnis eingefordert. Hält man sich nicht streng ans Woke-Dogma, droht einem die Verfolgung durch Shitstorm und die Exkommunikation in Form der Cancel-Culture. In der Woke-Religion ist kein Platz für Gnade und Barmherzigkeit: Ob eine Übertretung lange zurückliegt und welche Gründe dazu beigetragen haben, spielt keine Rolle. Das Jüngste Gericht der politischen Korrektheit kennt kein Vergeben und kein Verzeihen.

Den Ersatzreligionen verpflichtet

Mit der Klima-Religion, dem Klimatismus, hat sich eine weitere säkulare Religion ihren Weg in die westliche Gesellschaft gebahnt. In dieser Religion ist der Mensch nicht mehr einem Gott, sondern der Urmutter Natur Rechenschaft schuldig. Die strukturellen Ähnlichkeiten zur alten christlich-jüdischen Religion sind jedoch verblüffend: Hüben wie drüben geht es um Propheten, Apokalypse, Sünde bzw. Schuld und die Hoffnung auf Rettung. Verantwortlich für die Zerstörung der Welt sind die Machthaber des reichen Westens; gerettet werden kann nur, wer Verzicht und Entsagung übt, getreu dem neuen Gebot: Du sollst nicht konsumieren.

Erkennbar sind diese beiden Religionen nicht nur an ihren Dogmen und ihrem intoleranten Eifer, sondern auch daran, dass ihre Vertreter sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen, moralische Überlegenheit für sich in Anspruch nehmen und sich anmaßen, die Welt zu retten.

Die Selbstvergottung des Menschen könnte damit in die Selbstauslöschung des Menschen kippen.

Im Zeitalter der Technik, das mit Eingriffen in das biologische Erbgut und der Schaffung künstlicher Intelligenz einen zivilisatorischen Wandel herbeiführen könnte, treibt die Hybris den Menschen aber noch zu ganz anderen Höhenflügen: In seinem Bestseller Homo Deus beschreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari die Religion des Technizismus. Die neuen Technologien werden es der Menschheit ermöglichen, sich in einen Übermenschen zu verwandeln, Göttlichkeit zu erlangen und den alten Traum von der Unsterblichkeit zu verwirklichen.

Besser als der Mensch

Der Mensch erschafft eine künstliche Intelligenz, die das menschliche Gehirn transzendiert und ihm als eigenes, nichtorganisches Wesen gegenübertritt. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass ein durch die Technik ermöglichtes Upgrade von Menschen zu gottähnlichen Wesen dazu führen könnte, dass die gottgleichen Nachfahren uns Menschen nicht mehr brauchen und versuchen würden, uns loszuwerden. Die Selbstvergottung des Menschen könnte damit in die Selbstauslöschung des Menschen kippen.

Die aufgeklärte westliche Welt, die dem Christentum den Rücken kehrte, bringt also im 21. Jahrhundert Religionen hervor, in denen nicht nur Gott von der Bühne abgetreten ist, sondern auch der einzelne Mensch nur mehr eine Statistenrolle spielt.

Für Technizisten ist der Mensch ein Algorithmus, der durch bessere, höhere Algorithmen ersetzt werden kann.

Während der Wokeismus das, was den Menschen ausmacht, im Wesentlichen auf dessen soziale Gruppe, Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft reduziert, steht der einzelne Mensch in der die Natur vergöttlichenden Klima-Religion nicht mehr im Zentrum des Kosmos, sondern wird eins mit der Natur und geht im großen Ganzen unter.

Ersatzreligionen: Christliche Werte ohne Gott?

Die Religion des Technizismus wiederum treibt die Entpersönlichung des Menschen voran bis hin zu seiner gänzlichen Verdrängung. Für Technizisten ist der Mensch im Grunde ein Algorithmus, der in Zeiten künstlicher Intelligenz durch bessere, höhere Algorithmen ersetzt werden kann.

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Zahlen & Fakten

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Dieser ernüchternde Befund befeuert nicht nur die religiöse Vorstellungskraft, sondern er rührt auch an grundlegende Fragen: Verdunsten mit dem Christentum auch die in der jüdisch-christlichen Religion gründenden Werte wie die unveräußerliche Würde, die Autonomie und die individuelle Freiheit des Menschen? Verlieren diese Werte, die der liberalen Demokratie zugrunde liegen und die ja nicht vom Himmel gefallen, sondern aus der jüdisch-christlichen Religion und deren Menschenbild entstanden sind, ihre Substanz, wenn der Glaube an die Verbindung zwischen dem Menschen und dem Göttlichen verloren geht? Zweifel an der Unantastbarkeit der Menschenwürde dürften auch durch gegenwärtige Herausforderungen, etwa im Bereich künstlicher Intelligenz und durch Eingriffe in das Gehirn und das Genom, genährt werden.

Was uns verunsichern sollte

Das Beispiel des chinesischen Wissenschaftlers He Jiankui, der das Erbgut von drei Kindern gentechnisch veränderte, zeigt sehr deutlich, dass die Würde des Menschen und die Unverletzlichkeit der Person zunehmend unter Druck geraten. Offenbar sind die Früchte der Aufklärung schnell ausgerissen, wenn sie nicht im Transzendenten gründen. Wird also Friedrich Nietzsche letzten Endes recht behalten? Als Nietzsche sah, wie die Gebildeten Europas dem Christentum den Rücken kehrten und sich als wissenschaftliche Freidenker stilisierten, die angeblich ohne Gott lebten und dennoch an Menschenrechte und die Würde eines jeden Menschen glaubten, argumentierte der Philosoph, dass diese Ideen unverwechselbar christlich seien. Sie wären niemandem in den Sinn gekommen, der nicht an ein von Gott erschaffenes Universum glaubt, lautete sein Urteil.

Doch die Frage, die Nietzsche für sich beantwortete, stellt sich heute angesichts der voranschreitenden Erosion des christlichen Glaubens wieder in zugespitzter Weise: Haben die aus dem christlichen Glauben heraus entstandenen humanistischen Werte noch Überzeugungskraft in einer Gesellschaft, die diesen Glauben aufgibt und in der Gott für die meisten gestorben ist? Die Frage muss offenbleiben, aber sie sollte uns zumindest verunsichern.

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Conclusio


Wokeismus. In unserer Gesellschaft machen sich säkulare Ersatzreligionen breit, die nach demselben Muster von Schuld und Sühne funktionieren wie das Christentum. Wokeismus und Klimatismus zählen zu den modernen Ersatzreligionen.

Selbstvergottung. Nicht nur das, der Mensch schwingt sich auch selbst zum Gott auf, er erschafft künstliche Intelligenzen – selbst auf die Gefahr hin, dass diese zur Selbstauslöschung der ganzen Menschheit führen.

Werteverlust. Die Frage, ob die aus dem christlichen Glauben heraus entstandenen humanistischen
Werte noch Überzeugungskraft haben, wenn Gott gestorben ist und niemand mehr glaubt, muss bis auf weiteres offen bleiben.

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