Brauchen wir noch Religion?

Wie präsent ist die Kirche noch in unserem Alltag? Und welche Rolle sollte sie spielen? Darüber diskutieren ein Priester, eine Sozialethikerin und ein Philosoph.

Die Teilnehmer des Round Table zu Religion
Welche Rolle hat Religion in unserem Alltag? Und welche sollte sie haben? © Gregor Kuntscher
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Auf den Punkt gebracht

  • Kirche und Gesellschaft. Auch säkulare Menschen sind christlich geprägt – oft stärker, als sie glauben.
  • Religion und Politik. Die Trennung von Kirche und Staat wird wieder aufgeweicht – aber seitens des Staates, der die Kirche für seine Zwecke einspannt.
  • Moral und Religion. Pluralismus braucht gemeinsame Regeln – aber brauchen wir dazu Religion?
  • Glaube und Orientierung. Gerade in Krisenzeiten sehnen sich Menschen nach Orientierung – die bieten aber nicht nur Religionen.

Das Christentum prägt unseren Alltag immer noch, weit mehr, als wir glauben. Ob das gut ist? Da scheiden sich die Geister. Klar ist: Österreich und Europa sind in einer Sonderposition. Während sich hier immer mehr Menschen als Atheisten und Agnostiker bezeichnen, steigt weltweit die Zahl jener Menschen, die gläubig sind – und insbesondere die Zahl der Muslime. Weil viele dieser Frommen nach Europa zuwandern, gewinnt auch die Frage der Rolle des Christentums in unserem Alltag und unserer Gesellschaft wieder an Bedeutung. Die Kulturchristen etwa sehen sich als Anhänger christlicher Werte und Traditionen wie Weihnachten und Ostern – ohne aber daran zu glauben, dass da Gottes Sohn wiederauferstanden sei.

Wo begegnet Ihnen Gott im Alltag?

Ingeborg Gabriel: Direkt begegnet Gott einem in außergewöhnlichen Lebenssituationen, bei der Geburt eines Kindes oder in großer Not. Er ist aber auch im Alltag präsent, und der biblische Gott ist das große Du, das für Menschen ansprechbar ist. Religiöse Einrichtungen und Rituale erinnern daran und wollen das vermitteln.

Philipp Blom: Die kirchlichen Institutionen spielen noch eine große Rolle, und ich glaube, dass auch Menschen, die sich als säkular begreifen, hierzulande stärker kirchlich geprägt sind als in anderen Ländern. In dieser Form begegnet mir Gott tatsächlich täglich.

Martin Rhonheimer: Ich bin als Kind zum Glauben gekommen. Und damals habe ich immer gesagt, ich möchte nicht  fliegen, weil ich dabei die Füße des lieben Gottes sehen würde. Das wollte ich nicht. Und ich glaube, dass viele Menschen, die sich als Atheisten bekennen, in solchen Bildern aus ihrer Kindheit quasi gefangen sind und deshalb eine Vorstellung von Gott haben, die Sie, Herr Blom, natürlich zu Recht zurückweisen.

Blom: Da unterstellen Sie mir etwas.

Rhonheimer: Mag sein. Ich habe mich mit dem bekannten Atheisten Richard Dawkins auseinandergesetzt. Er ist ja ein ähnliches Kaliber wie Sie – das ist jetzt ein Kompliment.

Blom: Ich hoffe nicht, dass er intellektuell ein ähnliches Kaliber ist, weil er doch ein sehr simplistischer Denker ist. Er attackiert Religion an ihren schwächsten Stellen, und das ist schlicht und einfach billig.

Philipp Blom beim Round Table zu Religion
Philipp Blom ist Historiker, Autor und säkularer Humanist. © Gregor Kuntscher

Wo sind Ihre Angriffspunkte?

Blom: Eben in diesem Befund, dass wir noch viel stärker religiös – und zwar christlich-theologisch – denken, als uns bewusst ist. Zum Beispiel in der Klimadebatte. Es geht immer darum, ob wir kollektiv ins Paradies oder in die Hölle kommen. Geschichte funktioniert nicht so, aber unsere Erwartungen an Geschichte funktionieren durch unsere christliche Prägung so. In vieler Hinsicht haben die Aufklärer einfach christlich-theologische Denkfiguren neu etikettiert.

Rhonheimer: Sie betrachten das als etwas, was zu überwinden wäre?

Blom: Es ist erst mal eine Frage der Denkhygiene. Wenn man in solchen Figuren denkt, sollte man sich zumindest bewusst sein, aus welcher Tradition sie kommen.

Gabriel: Der von mir sehr geschätzte österreichische Philosoph Rudolf Burger hat sich als katholischen Atheisten bezeichnet. Ich finde das gut, weil damit gezeigt wird, dass der kulturelle Hintergrund auch im Atheismus eine wichtige Rolle hat.

Blom: Da muss ich energisch intervenieren: Ich bin kein Atheist, ich bin ein säkularer Humanist. Ich möchte mich nicht dadurch definieren, was ich nicht glaube. Nur weil ich glaube, dass die Erde rund ist, bezeichne ich mich doch nicht als Nicht-Flacherdler.


Unsere Kultur des säkularen Rechtsstaates ist auf dem Humus des Christentums gewachsen.

Martin Rhonheimer

Gabriel: Das war auch nicht gemeint, und ich bin eine christliche Humanistin – oder humanistische Christin. Das Problem ist, dass die Aufklärung mit ihrem Fortschrittsmythos Religion als veraltet und überholt erklärt hat. Um Goethe zu zitieren: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat auch Religion; wer beides nicht hat, der habe Religion.“ Religion ist demnach für Minderbemittelte. Die positive Rolle der Religion in der Gesellschaft wird damit negiert. Die hat sie aber offenkundig.

Rhonheimer: Ich möchte eigentlich Herrn Bloms These untermauern: Wir sind christlicher, als uns bewusst ist. Und ich meine da nicht nur religiöse Feiertage. Sondern dass unsere Kultur des säkularen, freiheitlichen Rechtsstaates auf dem Humus des Christentums gewachsen ist. Im Gegensatz zum Islam ist das Christentum von seinem Ursprung her nicht politisch. Es hat auch kein eigenes Recht entwickelt. Es hat alles übernommen: von den Griechen das Denken, von den Römern das Recht. Und es hat all das in einer Weise weiterentwickelt, die Moderne und Aufklärung überhaupt erst möglich gemacht hat.

Blom: Darüber kann man debattieren.

Rhonheimer: Was wir gegenüber dem Islam verteidigen müssen, sind nicht die christlichen Werte, sondern die Werte des freiheitlichen, säkularen Rechtsstaates.

Welche Rolle hat die Kirche dabei?

Rhonheimer: Wir sind zuständig für das Heil der Menschen. Der Staat ist kein Heilsbringer. Er wird nie zum Glück und zur ewigen Seligkeit führen. Die Kirche ist nicht für das Klima zuständig, sondern dafür, die Sehnsucht nach Heil und Glück zu erfüllen. Wer das will, muss sich an die Kirche wenden. Diese Arbeitsteilung halte ich für wesentlich.

Blom: Warum würde die Kirche nicht für den Umgang mit der Schöpfung – und damit für die Klimafrage – verantwortlich sein?

Rhonheimer: Nicht die Kirche ist es, sondern die Christen generell sind es.

Ingeborg Gabriel beim Round Table zu Religion
Ingeborg Gabriel ist eine katholische Theologin und Sozialethikerin. © Gregor Kuntscher

Gabriel: Diese Unterscheidung finde ich höchst eigenartig. Gehören nur Kleriker und Amtsträger zur Kirche? Sind sie nicht auch Christen? Aber wichtiger: Der innerste Kern der jesuanischen Botschaft und der Bibel ist, dass es um den ganzen Menschen mit Leib und Seele geht. Sie fordert Solidarität mit allen ein, vor allem den Schwachen, und eine Weltverantwortung in allen Bereichen, daher auch in der Klimafrage.

Rhonheimer: Sie haben mich missverstanden. Klerikalismus war die frühere Haltung, dass der Staat der verlängerte Arm der Kirche ist, wo die Kirche über die staatliche Gewalt eben auch ihre Ansprüche und auch das Kirchenrecht durchsetzen kann – bis hin zur Zensur. Da sind wir uns einig, dass wir das nicht wollen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat da eine Zäsur bewerkstelligt. Wenn ich jetzt von „der Kirche“ spreche, spreche ich vom Papst, den Bischöfen, von den Priestern. Die sind nicht für Fragen des Klimawandels zuständig. Das sind die Bürger, und die Christen unter ihnen haben eine besondere christliche Verantwortung. Aber die können nicht aufstehen und sagen: „Das ist die katholische Ansicht, die ich vertreten muss.“

Gabriel: Das heißt, Sie würden die Enzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus nicht gelten lassen, in der er sich kirchenoffiziell für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzt?

Rhonheimer: Abgesehen davon, dass es darin eine Menge von Fehlern faktischer Natur gibt – wie zum Beispiel, dass Städte schlecht für die Energiewende seien, obwohl das Gegenteil der Fall ist: Städte sind im höchsten Maße energieeffizient –, abgesehen davon also ist es falsch, dass sich das kirchliche Lehramt in solche technischen Fragen einmischt: weil es da nicht kompetent ist. Die Kirche ist für den Glauben und die Offenbarung zuständig. Nicht für Energieprobleme, Klimaschutz oder gar eine globale Umverteilung.

Blom: Davon muss ich mich erst mal erholen. Ich dachte in meiner Naivität immer, dass Jesus von Nazareth ein Rebell gewesen sei und dass die Kirche in ihren zweitausend Jahren Geschichte ziemlich politisch agiert habe. Ich bin ja kein Theologe. Aber: Wir wissen, dass Ideologien jeder Art, ob kirchlich oder kommunistisch, jede Form von Freiheit unterdrückt haben. Das hat die Kirche getan, bis die Aufklärung sie entmachtet hat.

Rhonheimer: Wie bitte? Jede Form von Freiheit unterdrückt?

Blom: Zumindest die Denkfreiheit ganz erheblich. Aber es geht mir darum – und da stimme ich mit Ihnen überein –, dass wir im Rahmen einer säkularen, liberalen Ordnung Platz für alle finden, die bereit sind, sich an die Spielregeln zu halten. Der beste Vergleich sind für mich die Verkehrsregeln. Wenn jemand von rechts kommt, hat er Vorrang. Und da ist es wurscht, woran er glaubt, welches Auto er fährt oder welche Musik er hört. Pluralistische Gesellschaften sind komplizierter als ideologisch gepolte, die eine Zensur über sich haben. Deshalb ist es in diesen Gesellschaften wichtig, dass alle bereit sind, gewisse Regeln zu befolgen. Wenn mir meine Religion gebietet, auf der anderen Straßenseite zu fahren, ist das ein Problem.

Ich finde es völlig inakzeptabel, dass vor einem Kruzifix Recht gesprochen wird. 

Philipp Blom

Wir leben in diesem Spannungsfeld, in dem wir uns als pluralistische Gesellschaft verstehen, in der aber Kreuze in Klassenzimmern und Gerichtssälen hängen.

Blom: Ich finde es völlig inakzeptabel, wenn ich eine Richterin sehe, die im Namen des österreichischen Staates vor einem Kruzifix Recht spricht. Da kann man das Foto des Bundespräsidenten hinhängen oder einen wie auch immer gearteten Vogel.

Gabriel: Ich verwende den Vergleich mit dem Straßenverkehr auch. Aber er reicht nicht aus. Hier hält man sich aus Eigeninteresse an die Regeln, weil man keinen Kollisionsschaden will. Aber was ist, wenn das Eigeninteresse nicht greift? Oder nur langfristig? Eine tragfähige Moral muss mit solchen Fragen umgehen. Da helfen die Regeln des Straßenverkehrs nicht.

Blom: Ich würde vielleicht mit Ihnen übereinstimmen, dass wir das brauchen, dass wir ein Bedürfnis danach haben – aber nicht, dass es das auch gibt.

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Gabriel: Der französische Philosoph Paul Ricœur hat von der menschlichen Identität als moralischer Identität gesprochen, die für Menschen und ihr Selbstverständnis zentral ist. Sie spielt in allen Kulturen eine große Rolle. Ihr Argument mit dem Kreuz im Gericht kann ich gut nachvollziehen. Doch wenn wir Gipfelkreuze, Kirchenkreuze und religiöse Feiertage abschaffen, dann würden wir in einen jakobinischen Furor verfallen, der außerordentlich destruktiv wäre. Das alles ist ja auch eine kulturelle Ressource. Wir brauchen diese Erinnerungen. Johann B. Metz hat einmal vom „Elefantengedächtnis“ des Christentums gesprochen.

Blom: Aber es ist schon ein Unterschied, ob man in jakobinischen Furor verfällt oder sich darüber unterhält, wie die Symbolik eines Gerichtssaals funktioniert.

Rhonheimer: Ich komme aus der Schweiz und bin in einer größtenteils jüdischen Familie aufgewachsen. Österreich ist mir fast zu katholisch, obwohl ich als Konvertit einen bewussten Katholizismus gelebt habe. Für mich sind die USA das beste System. Da kann jeder seinen Glauben in der Öffentlichkeit leben, und auf der Dollarnote steht „In God We Trust“ – und es würde niemandem in den Sinn kommen, dass das für Atheisten beleidigend wäre.

Herr Rhonheimer, Sie sprechen gleichzeitig von den USA als bestem System und davon, dass die Kirche keine politischen Positionen beziehen sollte – aber gerade dort wurden in den vergangenen Jahren mit christlichen Argumenten strenge Abtreibungsverbote erlassen. Da greift die Kirche massiv in die Freiheitsrechte der Frauen ein.

Rhonheimer: Ich überspitze jetzt mal. Wenn eine Frau sagt: „Ich will mein geborenes Kind töten, anstatt es vorher abzutreiben, weil das weniger schädlich und riskant für meinen Körper ist“ – soll sie diese Freiheit haben? Hier geht es zunächst einmal um ein menschliches Leben und dessen Lebensrecht und eigentlich nicht um die Frage, ob die Frau das Recht hat, ihr eigenes Leben selbst zu bestimmen. Sie kann auch Nein sagen, bevor sie Verkehr mit einem Mann hat.

Martin Rhonheimer beim Round Table zu Religion
Martin Rhonheimer ist katholischer Priester, Philosoph und Leiter des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy © Gregor Kuntscher

Blom: Das gilt, wenn man daran glaubt, dass im Moment der Befruchtung eine Seele vorhanden ist – also religiös argumentiert.

Rhonheimer: Die Frage ist, ob das ein Mensch ist, der getötet wird. Das ist keine religiöse Frage. Rechtlich geht es um die Frage des Schutzes des Lebens eines Unschuldigen. Ist das ein Wesen mit einem Lebensrecht, das der Staat schützen muss?

Was in den USA oder Ungarn als christliche Werte angepriesen wird, hat wenig damit zu tun. 

Ingeborg Gabriel

Aber es ist auf jeden Fall ein Punkt, wo die Kirche versucht, den Staat zu beeinflussen – wo die Kirche eine klare politische Position bezieht.

Rhonheimer: Sagen wir mal so: Der liberale Staat hat die Aufgabe, das Leben zu schützen. Wenn das Tötungsverbot nicht durch das Gewaltmonopol des Staates durchgesetzt wird, dann ist gesellschaftliches Zusammenleben nicht möglich. Diese Argumentation greift aber nicht gegenüber den Ungeborenen. Man kann aber so argumentieren: Als Weißer kann man risikolos Schwarze diskriminieren, weil man nie schwarz sein wird. Arme zu diskriminieren, ist etwas anderes – denn verarmen kann man selbst auch. Aber auch ein Ungeborener wird man nie mehr sein, insofern könnte also der staatliche Verzicht auf die Durchsetzung des Tötungsverbots gegenüber Ungeborenen auch ein Diskriminierungsphänomen sein.

Blom: Ich finde es virtuos, was Sie da gerade sagen.

Rhonheimer: Meinen Sie das ironisch?

Blom: Ja!

Gabriel: Mit Diskriminierung in dem Bereich wäre ich vorsichtig: Ein Mann kann nie in die Position kommen, eine Abtreibung zu haben. Aber mein Punkt ist ein anderer: Was in den USA oder Ungarn als christliche Werte angepriesen wird, hat wenig damit zu tun, wenn Verträge und die liberale Rechtsordnung mit Füßen getreten werden und Solidarität außer Kraft gesetzt wird.

Sehen Sie in Ungarn und den USA eine Rückbesinnung auf christliche Werte, Herr Blom?

Blom: Es ist eine demografische Frage. Weiße Europäer haben Angst, dass sie aussterben, und das macht sie allergisch gegen Migration. Herr Putin überfällt die Ukraine, weil weiße Russen weniger werden. Deshalb stiehlt er dort Zehntausende von Kindern, um sie russisch erziehen zu lassen. Die Demografie wendet sich gegen Europa, und deshalb gibt es in rechtsgerichteten Ländern sehr stark natalistische Tendenzen – die berühmte Herdprämie ist so eine Tendenz. Und natürlich kann man das mit religiösen Interessen verknüpfen.

Rhonheimer: Sie unterstellen der Reaktion auf diese demografische Problematik eine rassistische Motivation. Es ginge um die Erhaltung der weißen Rasse, der Ungarn und der Deutschen.

Blom: Auf eine gewisse Weise ja.

Rhonheimer: Ich glaube nicht, dass das der Punkt ist. Wir brauchen eine Bevölkerung, die kulturell integriert ist und die fähig ist, unseren Wohlstand zu erhalten. Darum geht es. Und da können wir nicht einfach massenhaft Leute aus Afrika einwandern lassen, die unsere Kultur und Sprache nicht verstehen und nicht verstehen wollen.

Da sind wir dann wieder bei Dawkins, der sich als prominenter Atheist nun plötzlich als Kulturchrist bezeichnet. Auch mit dem Argument, dass wegen der Zuwanderer aus fremden Kulturen christliche Werte erhalten bleiben müssen.

Blom: Wir haben über die Verkehrsregeln gesprochen und was – metaphorisch gesprochen – passiert, wenn Menschen sie nicht mehr befolgen wollen. Egal ob das junge Burschen aus Afghanistan oder FPÖ-Wähler sind. Was passiert, wenn ein Trump gewählt wird? Wir könnten vor einem gesellschaftlichen Zusammenbruch in den nächsten Jahren stehen, und da müssen wir resiliente Gesellschaften schaffen. Auf welche Werte, auf welche ethischen Ideen und moralischen Prinzipien können sie zurückgreifen? Und wie wird diese Gültigkeit verhandelt? Damit muss eine Gesellschaft umgehen lernen, wenn sie nicht mehr das moralische Fundament hat, das ein Glaube ihr geben würde.

Gabriel: Der Sozialphilosoph Michael Walzer hat die Frage gestellt, ob wir dauernd in einem Hotelzimmer leben wollen oder nicht doch ein echtes Zuhause brauchen. Der Seele ein Obdach zu geben, ist eine wichtige Funktion von Religionen. In ihnen sind kulturelle Erinnerungen für alle gespeichert, und in ihren Räumen spielt sich vielfach das soziale Leben ab, sie sind Orte des sozialen Zusammenhalts und der Gewissensbildung. Es wäre zynisch, zu meinen, dass die hunderttausende Menschen, die in Österreich am Sonntag einen Gottesdienst besuchen, immer das Gegenteil von dem tun, was sie dort hören, zum Beispiel, „dem unter die Räuber gefallenen Nächsten“ beizustehen. Und das zeigt schon, die Caritas gehört wesentlich zur christlichen DNA.

Rhonheimer: Es ist hier immer von einem Wir die Rede. Dieses Subjekt gibt es nicht. Es gibt nicht „die Gesellschaft“, die reflektiert. Es gibt Intellektuelle, es gibt Medien, es gibt Politiker. Dass „wir“ die Gesellschaft neu denken oder retten können, das ist so eine intellektuelle Vorstellung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Woher kommen eigentlich unsere Probleme? Ich bin der Meinung, dass wir zunehmend in einem politisch und wirtschaftlich dysfunktionalen System leben und dass gerade dieses „Wir“ – die Politik – die Probleme nicht löst, sondern schafft. Der Staat wächst, die Schulden wachsen. In bestimmten Fällen lohnt es sich gar nicht mehr, zu arbeiten. Und die Stimmen, die das benennen, werden dann als Rechtspopulisten abgetan.

Verschiedene Kirchen schmieden neuerdings wieder Allianzen mit dem Staat, ob das die orthodoxe Kirche in Russland ist oder die Evangelikalen in den USA. Da verschwimmt die Trennung von Staat und Kirche wieder.

Gabriel: Wir haben seit dem Ende der 1970er-Jahre weltweit eine religiöse Renaissance. Das begann mit der Islamischen Revolution 1979 im Iran, wir sehen das aktuell auch in Indien oder Sri Lanka. Fast alle Religionen haben eine neue politische Rolle gefunden. Da sehe ich die große Gefahr, dass sich Religionen in diese Dienste stellen lassen. In Ungarn werden die christlichen Kirchen als soziale Akteure vom Staat finanziert und dadurch in ein Abhängigkeits- und Loyalitätsverhältnis gebracht. Wir haben eine Schwächung der liberalen Kräfte, die sich für eine Trennung von Kirche und Staat einsetzen. Das sieht man auch bei der FPÖ, die bei der Verabschiedung von Kardinal Schönborn im Stephansdom nicht präsent war, aber das Kreuz und „Euer Wille geschehe“ plakatiert.

Rhonheimer: Diese Plakate sind schon fast blasphemisch.

Blom: Was mir Sorgen macht, sind nicht die großen etablierten Kirchen, die theologisch längst auf die Aufklärung reagiert haben. Aber wir finden uns derzeit in einer Welt wieder, in der sich die Menschen nicht mehr auskennen. Es gibt eine rasende Entwicklung von Technologien und Lebensmodellen, um uns herum brechen politische Ordnungen zusammen. Dass Menschen in so einer Zeit nach Orientierung suchen, ist sehr verständlich. Aber viele Menschen landen dann in islamistischen Moscheen oder bei Freikirchen – die oft sehr radikale moralische Ideen haben und völlig unwissenschaftliche Vorstellungen propagieren. Unter diesem Gesichtspunkt kann Religion sehr wohl noch immer eine Herausforderung für liberale Demokratien werden.

Zeigt das aber nicht auch, dass es immer noch ein Bedürfnis nach Religion und Religiosität gibt?

Blom: Ich habe vor kurzem ein faszinierendes Gespräch mit einem jungen Aktivisten von der deutschen Linken gehabt. Er meinte, China will den Weltfrieden, weil es kommunistisch ist. Deshalb muss sich Europa demilitarisieren, um dem Weltfrieden eine Chance zu geben. Eine interessante Lesart der gegenwärtigen Geschichte, die zeigt, dass man auch als säkularer Mensch in ganz fürchterliche Rattenlöcher fallen kann. Also: Das Bedürfnis nach Orientierung ist nicht auf Religionen begrenzt. Die Aufklärung hat dieses Bedürfnis unterschätzt und gesagt, dass es irrational und falsch sei und deshalb bekämpft werden muss. Ich glaube hingegen, dass dieses Bedürfnis sehr real ist.

Gabriel: Um an Ihr Beispiel anzuschließen: Ich las, dass TikTok mit seinen zwei Milliarden Usern massiv religiöse Desinformation und Deepfakes verbreitet. Eine neue Art des Klassenkampfes?

Rhonheimer: Herr Blom, Sie haben uns jetzt ein Beispiel von ideologischer Verblendung vor Augen geführt. Das heißt, Sie würden sagen, dass also Christen auch ideologisch verblendet sind.

Blom: Nein, es gibt verschiedene Anbieter, und man kann sich nicht nur in religiöser Hinsicht völlig verrennen. Ich kenne religiöse Menschen, die ideologisch vernagelt sind, und ich kenne solche, die differenziert argumentieren.

Rhonheimer: Sie wollen uns erklären, wieso Menschen religiös sind: So wie dieser junge Mann sein Bedürfnis nach Sinn stillt, werden andere halt religiös. Beides, sagen Sie, sei irrational, ideologische Verblendung. Das war der Sinn Ihrer Aussage. Ich sehe es anders: Das religiöse Bedürfnis kann man nicht einfach ad acta legen. Der Mensch ist ein Wesen, das notwendigerweise nach Glück und natürlich auch nach Sinn strebt.

Da gibt es Antworten von Ideologien, aber auch von Religionen, und die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was ist die wahre Antwort? Es muss eine wahre Antwort geben, sonst zerstören Sie den Menschen. Wir müssen uns diese Frage ernsthafter stellen, als Sie das tun. Sie nehmen den Menschen nicht wirklich ernst in seiner Suche nach Glück und Erfüllung und Wahrheit.

Gabriel: „Religio“ heißt Verbindung, und das Zweite Vatikanum sagt, dass es die erste Aufgabe der Kirche ist, eine innere Verbindung zwischen Gott und den Menschen und den Menschen untereinander zu stiften. Insofern gibt es nicht nur ein individuelles Bedürfnis nach Religion – das ist sicher so –, aber sie hat immer auch eine soziale und gesellschaftliche Aufgabe über die individuelle Sinnstiftung hinaus.

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