Macht Religion krank?
Das Jerusalem-Syndrom ist eine psychiatrische Erkrankung, die Besucher der Stadt zu religiösen Fanatikern macht. Aber existiert es wirklich?

Auf den Punkt gebracht
- Gottgesandt. Vor allem um die Jahrtausendwende sammelten sich in Jersusalem Menschen, die sich einbildeten, der Messias zu sein.
- Eingewiesen. Viele von ihnen wurden in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo dem Phänomen ein Name gegeben wurde: Jerusalem-Syndrom.
- Medienhype. Wenig überraschend wurde die These, dass die konzentrierte Religiosität der Stadt die Menschen krank macht, zu einer Sensation.
- Fehldiagnose. Viel verbarg sich nicht dahinter: Alle diese Personen kamen bereits psychisch krank in die Stadt, sie wurden nicht erst dort verrückt.
Vor fünfundzwanzig Jahren, kurz bevor die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts durch die Zweite Intifada zunichte gemacht wurde, führte ich eine Feldforschung unter den Messiassen, Propheten und anderen durch, die glaubten, dass Gott sie nach Jerusalem gesandt hatte. Zu ihnen gehörten ein niederländischer Messias und ein amerikanischer aus Phoenix, der die Toten auferstehen lassen wollte, eine internationale Gruppe von etwa 25 evangelikalen Christen, die sich „House of Prayer“ nannten und in Israel zueinander gefunden hatten, ein deutsches Mädchen, das den Namen Ruth angenommen hatte, und ein heilender Prophet der Maori. Fast alle hegten den Glauben, dass ihre persönliche Berufung, nach Jerusalem zu reisen, in direktem Zusammenhang mit bevorstehenden endzeitlichen Ereignissen stand.
Mehr im Dossier „Die neue Macht der Religion“
Ihre Reisen begannen oft inmitten einer persönlichen Krise, häufig in Form einer psychischen Erkrankung. Doch die symbolische Bedeutung, die sie Jerusalem beimaßen, war in den drei monotheistischen Traditionen verwurzelt. Um ihre Rolle in der bevorstehenden Endzeit zu erfüllen, begingen viele dieser von Gott gesandten Ausländer Taten, die zu ihrer Verhaftung führten. So folgte beispielsweise der Australier Denis Rohan 1969 dem Befehl Gottes und setzte die Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg in Brand. Andere griffen „götzendienerische“ Statuen in Kirchen an, und einer attackierte die Klagemauer mit einem Schwert.
Selbstkastration im religiösen Eifer
Einem psychiatrischen Artikel zufolge wurden 13 Prozent der dieser Personen, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, verhaftet, weil sie nackt herumgelaufen waren (Sie beriefen sich auf Jesaja 20 in der Bibel: „Geh, leg dein Bußgewand ab und zieh deine Schuhe aus! Jesaja hatte es getan und war nackt und barfuß umhergegangen.“). Eine Person versuchte, sich selbst zu kastrieren (Matthäus 19,12: „Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht und manche haben sich selbst dazu gemacht - um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es.“).
Das Jerusalem-Syndrom sei eine psychotische Reaktion, die durch die kognitive Dissonanz zwischen den Erwartungen an das Heilige Land und der Realität ausgelöst werde.
Nach ihrer Verhaftung wurden diese Diener Gottes in der Regel in das Kfar Shaul, eine psychiatrische Klinik in Jerusalem, eingewiesen. Dort wurde der Begriff „Jerusalem-Syndrom“ geprägt. Auf der Grundlage von Beobachtungen ihrer vorübergehenden Gäste argumentierten israelische Psychiater in angesehenen medizinischen Fachzeitschriften wie dem British Medical Journal, dass das Jerusalem-Syndrom eine psychotische Reaktion sei, die durch die kognitive Dissonanz zwischen den religiösen Erwartungen an das Heilige Land und der Realität des modernen jüdischen Israel ausgelöst werde. Sie behaupteten, dass Christen, insbesondere Protestanten, am anfälligsten seien.
Warum das Jersualem-Syndrom ein Medienhype wurde
Es überrascht nicht, dass das Jerusalem-Syndrom zu einer Mediensensation wurde. Die Vorstellung von einem Ort, der die Gemüter religiöser Gläubiger destabilisiert, war nicht nur sensationell, sondern bot auch eine Erklärung für die scheinbar endlosen Konflikte des Landes. Der zugrunde liegende Gedanke war, dass fromme religiöse Juden, Christen und Muslime so sehr an ihren Vorstellungen vom Heiligen Land festhielten, dass eine friedliche Koexistenz unmöglich wurde.
Das Problem bei dieser Erklärung der Messiasse und Propheten Jerusalems ist jedoch, dass sie völlig falsch ist. Tatsächlich war das psychiatrische Verständnis des Jerusalem-Syndroms selbst Teil des Problems.
Zahlen & Fakten
Welche anderen Syndrome sind nach Städten benannt?
Das vielleicht bekannteste nach einer Stadt benannte Syndrom ist das Stockholm-Syndrom – es beschreibt eine emotionale Bindung von Geiseln an ihre Entführer und geht auf einen Banküberfall in Stockholm 1973 zurück, bei dem die Geiseln ihre Geiselnehmer verteidigten und sich mit ihnen solidarisierten. Das Paris-Syndrom befällt vor allem japanische Touristen, deren idealisierte Vorstellungen der Stadt mit der realen Stadt kollidieren. Das Florenz-Syndrom (auch Stendhal-Syndrom) ist ein wenig das Gegenteil davon: Überwältigende Kunst führt zu Schwindel und Herzrasen. Und das Lima-Syndrom ist das Gegenteil des Stockholm-Syndroms: Der Begriff stammt von einer Geiselnahme in Lima, Peru, im Jahr 1996, als Mitglieder der Tupac-Amaru-Rebellenbewegung die japanische Botschaft stürmten, aber aus Mitleid viele Gefangene frühzeitig freiließen.
1999 war das Jahr des Jahrtausendwahns. Es gab wilde Spekulationen über religiöse Gruppen, die Gewalttaten gegen sich selbst oder andere planten, um nicht nur das neue, sondern auch das letzte Jahrtausend einzuläuten. Da ich mich mit dem Jerusalem-Syndrom beschäftigte, wurde ich häufig von Journalisten kontaktiert, und einmal nahm ich an einem Treffen zwischen Wissenschaftlern und einer Gruppe von Mitarbeitern der nationalen Sicherheit teil.
Warten auf den Untergang
Sowohl die Journalisten als auch die Regierungsbeamten wollten in erster Linie wissen, wo und wie religiöse Fanatiker am 31. Dezember um Mitternacht ein gewalttätiges Ereignis inszenieren würden. Sie zeigten wenig Interesse an der wissenschaftlichen Perspektive, dass religiöse Traditionen ziemlich gut darin sind, den Menschen zu helfen, die Brücke zwischen Erwartung und Realität zu überwinden, was ohnehin notwendig ist, da die zentralen Akteure in diesen Traditionen in der Regel unsichtbar sind.
Nach sechs Jahren, während derer sein Gott ihm verboten hatte, die Altstadt Jerusalems zu verlassen, gab er offen zu, dass ihm das Warten ziemlich langweilig geworden war.
Sie wollten nicht hören, dass die Begehung von Gewalttaten zu bestimmten Daten nur einer von vielen möglichen Wegen zur Endzeit ist. Der Mann aus Phoenix zum Beispiel erwartete, dass seine heilige Aufgabe mit der Ankunft in Israel beginnen würde. Der Mangel an begeisterten Menschen am Flughafen und sein schnell schwindendes Budget veranlassten ihn jedoch, von einem Hotel auf eine billige Herberge umzusteigen, und als ich mit ihm nach sechs Jahren in Israel sprach, während derer sein Gott ihm verboten hatte, die Altstadt Jerusalems zu verlassen, gab er offen zu, dass ihm das Warten ziemlich langweilig geworden war.
Die Behörden ignorierten diese Nuancen und ergriffen Präventivmaßnahmen. Meinem holländischen Messias wurde per einstweiliger Verfügung untersagt, sich der Klagemauer zu nähern, und das letzte, was ich von der Gruppe „House of Prayer“ sah, war ihre dramatische Verhaftung im Fernsehen. Gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends, in den frühen Morgenstunden des Jahres 2000, ging ich zum Ölberg und traf dort auf ein einsames Kamerateam, das vergeblich auf religiöse Gruppen wartete, die die Apokalypse vorantreiben sollten. Am Ende hatten meine Messiasse die Gewalt nicht entfacht. Stattdessen war es der symbolische Besuch von Premierminister Ariel Sharon auf dem Tempelberg neun Monate später, der die blutige Zweite Intifada auslöste.
Reden über das Jerusalem-Syndrom als Form der Polemik
Die hartnäckigen Missverständnisse über das Jerusalem-Syndrom um die Jahrtausendwende zeigen nicht, dass es die Religion ist, die das Heilige Land in Aufruhr hält, sondern die Gefahr des Sprechens über Religion, Pathologie und Gewalt im Dienste parteipolitischer Zwecke. Dies fiel mir zum ersten Mal auf, als ich auf der Suche nach Interviewpartnern war und Institutionen und Herbergen sehr unterschiedlich reagierten.
Muslimische Herbergsbesitzer neigten dazu, schnell zu leugnen, dass Muslime jemals unter so etwas gelitten haben; Vertreter jüdischer Einrichtungen behaupteten oft, dass das Jerusalem-Syndrom ein christliches Phänomen sei; und eine europäische christliche Organisation, die eine überwiegend christliche Klientel betreut, begegnete meinen Anfragen mit Verlegenheit und Ablehnung. Letztendlich stellte mir nur das Personal muslimischer und christlich-arabischer Herbergen Messiasse und Propheten vor - allesamt Christen, mit denen sie sich nicht identifizierten.
Betrifft das Jerusalem-Syndrom nur Christen?
Die stereotype Behandlung der Religion durch die israelischen Psychiater lässt sich vielleicht mit einem nicht sehr ausgefeilten Verständnis von religiösem Verhalten entschuldigen. Dass mehr christliche als jüdische Touristen als Messiasse in Krankenhäusern landeten, könnte durch eine Statistik des israelischen Tourismusministeriums erklärt werden: dass in jenen Jahren einfach mehr christliche als jüdische Touristen Israel besuchten. Dennoch offenbaren diese Versehen die zugrundeliegenden Vorurteile dieser säkularen jüdischen Psychiater: Religion stellt eine Gefahr für die geistige Gesundheit und das friedliche Zusammenleben dar, und jüdischen Psychen geht es in Jerusalem besser als nichtjüdischen, weil Israel ein jüdisches Land ist.
1931 behauptete Haim Hermann, Psychiater am Jerusalemer Krankenhaus Ezrat Nashim, im Archiv für Psychiatrie und später in Folia Clinica Orientala, dass die frühzeitige Entlassung schizophrener jüdischer Einwanderer bemerkenswert wirksam sei. Er behauptete, das „besondere Freiheitsgefühl der in Palästina lebenden Juden“ habe eine heilende Wirkung auf diese Juden. Aber beruhte dies auf seiner Beobachtung oder war es eine Projektion seiner eigenen Überzeugung und vielleicht seiner eigenen Einwanderungserfahrung, dass die Heimkehr ins Land Israel aus dem Wahnsinn des Exils eine Heilung für die Seele ist?
Conclusio
Messias-Komplex. Eine Ansammlung von religiösen Eiferern beschäftigte Psychiater in Jerusalem.
Medien-Hype. Die Diagnose, dass die Stimmung in der Stadt Menschen krank machen könnte, wurde zur Sensation.
Missverständnis. Viele der säkularen Psychiater schrieben dabei der Religion eine Rolle zu, die sie am Ende einfach nicht hatte.