Orientierung ohne Aberglaube

Immer mehr Menschen berufen sich auf Religion als kulturelles Erbe, ohne dabei an einen Gott zu glauben. Das Kulturchristentum ist für das Christentum eine Chance.

Kulturchristentum: Eine Friedenstaube über den Religionen?
Kulturchristen glauben, dass Religion ohne Glauben auskommen kann – und trotzdem Orientierung bietet. © Claudia Meitert
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Auf den Punkt gebracht

  • Religion als Kultur. Religiöse Symbole und Rituale sind auch kulturelle Identitätsstifter.
  • Säkularisierung. Religiöse Inhalte wandern in weltliche Kontexte – von Festen bis zur Popkultur.
  • Protestantismus & Moderne. Protestantische Werte formten Ideale wie Individualismus und Freiheit.
  • Kulturchristentum. Eine säkulare Form des Glaubens bewahrt Traditionen ohne dogmatische Enge.

Im Jahr 2018 tobte in Deutschland ein eigentümlicher Streit. Anlass war die Anordnung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, in allen Dienstgebäuden des Freistaates sichtbar ein Kruzifix anzubringen. Wie nicht anders zu erwarten, hagelte es umgehend Kritik.

Und die kam nicht nur von Konfessionslosen und Laizisten, sondern auch von den Kirchen. So betonte der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber: „Wir müssen dafür eintreten, dass die religiöse Bedeutung des Kreuzes nicht zugedeckt wird von kulturellen Identitätsspielen.“ Und Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, erklärte: „Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden.“

Dass das Kreuz „nur“ ein kulturelles Symbol ist, würde allerdings niemand behaupten – auch Markus Söder nicht. Aber natürlich kann das Kreuz ein kulturelles Symbol sein, wie indirekt sogar Kardinal Marx zugestand.

Zwischen profan und sakral

Wenig überraschend sind religiöse Objekte zugleich kulturelle Symbole und Identitätsstifter. Eine Ikone ist für orthodoxe Kirchen ein heiliger Gegenstand, zugleich aber ästhetischer Ausdruck der Kultur Osteuropas. Die klerikalen Kompositionen Bachs sind religiöse Musik, zugleich aber gern gehörte Werke in weltlichen Konzertprogrammen.

Der Isenheimer Altar ist ein Kultgegenstand der katholischen Liturgie, zugleich aber ein bedeutendes Renaissance-Kunstwerk und wichtiger Teil europäischer Kulturgeschichte.

Allerdings hat man in der christlichen Tradition immer wieder darauf gepocht, eine klare Trennlinie zwischen profaner Kulturwelt und der sakralen Sphäre zu ziehen. Die Gründe für diese Trennung von Kultur und Religion liegen in den Anfangsjahren des Christentums. Spätestens mit dem Apostel Paulus löste sich das Christentum von seinen jüdischen Ursprüngen und wanderte in fremde Kulturen ein: in den Hellenismus, in das Römische Reich, in keltische und germanische Riten, später in die slawischen Kulturen Osteuropas und die indigenen Gesellschaften Südamerikas, Afrikas und Asiens.

Was Religion mit Kultur zu tun hat

Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Sprache zu. Da die Bibel selbst konservativen Christen als von Menschen geschriebenes Werk gilt, ist sie in alle möglichen Sprachen und damit Kulturen übersetzbar. Aus christlicher Sicht pfropft sich Religion einer Kultur gleichsam auf, ist aber nicht mit dieser identisch.

Anders im Islam. Der Koran gilt den Gläubigen als vom Erzengel Gabriel – also von Allah – diktiert. Jedes seiner Worte ist heilig, eine Übersetzung im Grunde nicht möglich. Deshalb ist der Islam sprachlich und ästhetisch nach wie vor stark an die arabische Kultur gebunden, an arabische Schriftzeichen, arabische Haartracht und arabische Kleidung. Religion ist hier Kultur und umgekehrt.

Insbesondere konservative Christen stellten sich immer mit Nachdruck gegen die Einheit von Religion und Kultur.

Hätten Christen das genauso gesehen, das Christentum wäre auf ewig eine jüdische Sekte geblieben. Doch nur wenige Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus von Nazareth expandierte es in andere Sprachen und Kulturen. Es entstand ein Dualismus, der streng zwischen der heiligen Sphäre der Religion und weltlichem Leben unterschied. Das ging so weit, dass bis heute debattiert wird, wie sich der historische Jesus zum geglaubten Christus verhält.

Insbesondere konservative Christen stellten sich immer mit Nachdruck gegen die Einheit von Religion und Kultur. Einen Kultgegenstand als profanes Kulturgut zu betrachten, ist aus ihrer Sicht ein Sakrileg, eine Entweihung und unzulässige Verweltlichung. Und immer dann, wenn die Verschmelzung von Kultur und Religion zu eng zu werden drohte – etwa in Form des römischen Katholizismus –, traten Kritiker auf, die diese Amalgamierung geißelten, wie etwa monastische Reformbewegungen oder die Bettelorden, die jedem Zierrat, jeder verzichtbaren Kultur entsagten.

Der folgenschwerste Protest gegen die Überlagerung des Christentums durch katholische Kulturelemente formierte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Gestalt des Protestantismus. Das protestantische sola scriptura, also der Aufruf, dass allein die Schrift Maßstab christlichen Glaubens sein dürfe, war der wütende Einspruch gegen eine verweltlichte Kirche, deren Ästhetik, Rituale, Gewänder, Kirchengebäude und Zeremonien sehr viel mit spätantiker und mittelalterlicher Herrschaftskultur zu tun hatten – aber nichts mit der Botschaft des Wanderpredigers Jesus von Nazareth.

Unser Erlöser Luke Skywalker

Doch Religion ohne Kultur ist nicht machbar. Jede Religion muss sich in Bauten, Ritualen und Symbolen manifestieren. Jede Religion formt zudem das Denken und Handeln der Menschen jenseits religiöser Feste und Praktiken. Ein gutes Beispiel dafür ist paradoxerweise der Protestantismus selbst. Denn über die Jahrhunderte hat er die Mentalität der Menschen in seinem Verbreitungsgebiet nachhaltig geprägt, ihre Vorstellung von Arbeit, Bildung, Moral oder Ästhetik. Ein norddeutscher Protestant fühlt, denkt und handelt anders als ein süddeutscher Katholik; die jeweilige Bildsprache ist eine andere, die Kunst, sogar das Design oder die Mode.

Religion und Kultur sind also auch in der Moderne aufs Engste ineinander verflochten.

Allerdings veränderte der Protestantismus die Alltagskultur auch weit über seine klassischen Verbreitungsgebiete hinweg in katholische und schließlich außerchristliche Weltregionen hinein. Über seine spezifische Ethik, sein Menschenbild, seine Lebenshaltung reformierte er die neuzeitliche Gesellschaft. Nicht wenige Historiker betonen daher, dass es die Moderne, so wie wir sie kennen, ohne den Protestantismus gar nicht gäbe. Ideale wie Individualismus, Selbstverwirklichung, Emanzipation, Autonomie und Freiheit sind Konzepte, die unmittelbar in protestantischen Frömmigkeitsvorstellungen gründen. Die Moderne, so wie sie sich im 19. Jahrhundert konstituierte, wurde durch protestantisches Denken, protestantische Ethik und ein protestantisches Menschenbild moduliert.

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Religion und Kultur sind also auch in der Moderne aufs Engste ineinander verflochten. Und das in doppelter Weise: Zahlreiche religiöse Feste, Symbole und Kunstwerke sind fester Bestandteil eines weltlichen Kulturerbes. Zugleich prägen christliche Wertvorstellungen, Denkmotive und Bilder aber auch unsere profane Alltagskultur. Religiöse Inhalte artikulieren sich in weltlichen Romanen, Kompositionen, Filmen, Konsumartikeln oder politischen Überzeugungen. Eine popkulturelle Figur wie Luke Skywalker ist massiv von christlichen Erlöser-Bildern geprägt. Und nur in einer christlichen Kultur konnte die Idee der Menschenrechte entstehen. Den entsprechenden Prozess nennt man Säkularisierung.

Diese Säkularisierung ist also eine Doppelbewegung. Einerseits verweltlichen religiöse Institutionen und Rituale. Sie werden Teil der profanen Kultur, wie etwa das Weihnachtsfest. Zugleich wandern religiöse Motive in eine scheinbar profane Alltagskultur ein, gerne auch in Form von Ersatzreligionen politischer, ästhetischer oder lebensberatender Natur. Theologisch betrachtet fußt die Säkularisierung in einem zunehmend schwindenden Glauben an das Überirdische oder Heilige.

Die Menschen glauben nicht mehr an Gott, wollen aber an kulturellen Traditionen und Überlieferungen festhalten und bekannte Erlösungstechniken in ihre Lebenswelt einbauen – was etwa die Popularität von Pilgerwanderungen oder Fastenzeiten unter Atheisten erklärt. Es entsteht ein Kulturchristentum, das die traditionellen Glaubensinhalte (Gott, Gottessohn, Auferstehung, Himmelfahrt) nicht mehr nachvollziehen kann, aber Halt und Orientierung in Ritualen findet.

Reduziert auf das Wesentliche

Dieses Kulturchristentum ist kein Verlust, im Gegenteil. Es reduziert Religion lediglich auf das Entscheidende. Und das sind keine Dogmen oder Lehrsätze hinsichtlich des Übernatürlichen. Wesentlich ist vor allem die unüberschaubare Summe aus kulturellen Überlieferungen: die Feste und Feierlichkeiten, die Lieder, Bilder und Symbole, die Lichter des Adventskranzes, der Geschmack von Christstollen.

Für traditionelle Gläubige mag diese Kulturreligiosität vielleicht eine Provokation darstellen. Doch sie ist vor allem auch eine Chance. Denn eine liberale Kulturreligiosität ist in der Lage, jene mit der Globalisierung einhergehenden Ängste vor Identitätsverlust aufzufangen, welche die eigentliche Ursache für die fundamentalistischen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte sind. Und wenn nicht alles täuscht, ist auch der Islam auf dem langsamen Weg zu einem Kulturislam, der eine eigene Form des Umgangs mit der modernen Welt und ihren technischen und alltagskulturellen Entwicklungen findet. Das geht nicht ohne Verwerfungen einher. Doch letztlich wäre es fatal, wenn die Menschheit nur zwei Alternativen hätte: unaufgeklärte Frömmelei oder entseelte Säkularität. Kulturreligiosität jedoch bietet Halt und Orientierung ohne den Preis der Regression in Antiaufklärung und Aberglauben.

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Conclusio

Kruzifix. Die Debatte um ein so-genanntes Kulturchristentum lässt sich am Kreuz festnageln: Ist es ein rein religiöses Symbol, oder hat es auch eine kulturelle Komponente? Also: Ist es nur für Gläubige wichtig oder für unsere ganze Kultur?

Verweltlichung. Dass viele Glaubensinhalte Einzug in die weltliche Welt gehalten haben, ist auch für das Christentum keine schlechte Nachricht. Im Gegenteil: Es beweist seine Relevanz, eben auch für Nichtgläubige.

Reduktion. Das Kulturchristentum ist kein Verlust, es reduziert Religion auf ihre entscheidende Rolle: Halt und Orientierung auch für Menschen zu bieten, die mit Himmelfahrten und Auferstehungen wenig oder nichts mehr anfangen können.

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