Himmel und Hölle sind wir selbst
Menschen brauchen keine Götter und Gebote, um zu wissen, was richtig und was falsch ist. Religionen können unsere natürlichen moralischen Instinkte aber verstärken – im Guten wie im Bösen.

Auf den Punkt gebracht
- Religion im Wandel. Frühere Religionen waren informell und bezogen sich auf Geister, Magie und Rituale, nicht auf moralische Gebote.
- Moralisierende Götter. Erst mit größeren Gesellschaften entstanden Religionen, die Moral und Strafe mit göttlicher Autorität verknüpften.
- Universelle Moral. Moralische Prinzipien wie Fairness, Loyalität und Gegenseitigkeit existieren unabhängig von Religion und sind evolutionär tief verankert.
- Religion als Werkzeug. Religion kann Zusammenarbeit fördern oder Konflikte verschärfen – ihre Wirkung hängt von der gesellschaftlichen Nutzung ab.
In Platons Dialog Euthyphro fragt Aristoteles, ob das Gute von den Göttern geliebt wird, weil es gut ist, oder ob es gut ist, weil es von den Göttern geliebt wird. Anders ausgedrückt: Würden wir ohne Religion den Unterschied zwischen richtig und falsch kennen? Die Wissenschaft liefert eine überzeugende Antwort auf diese Frage. Doch wie viele wissenschaftliche Erkenntnisse ist auch diese sowohl überraschend als auch, nun ja, ziemlich kompliziert, wenn man die Details betrachtet.
Mehr im Dossier „Die neue Macht der Religion“
Zunächst einmal geht es um den Begriff an sich: Wenn Menschen das Wort „Religion“ hören, denken sie gewöhnlich an allwissende Götter, göttlich sanktionierte Orthodoxien, Priesterschaften, tägliche Gebete und heilige Bücher. Aber diese Dinge haben sich erst recht spät in der Geschichte der Menschheit herausgebildet – frühestens vor ein paar tausend Jahren.
Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte hatten unsere Vorstellungen von jenseitigen Wesen und Kräften nur wenig mit dem Drumherum des organisierten Glaubens zu tun. Es handelte sich um eher informelle Ideen über das Leben nach dem Tod, übernatürliche Kräfte, Magie, Hexerei und die Macht von Ritualen. Die Menschen stützten sich schon immer auf solche Vorstellungen, um Unglück zu verhindern oder zu beheben – sei es durch eigene Anstrengungen oder mit Hilfe von Vermittlern wie Schamanen, Hexendoktoren, Medien und Wahrsagern. Und in der einen oder anderen Form ist diese Art von Religion auch heute noch in den meisten Gesellschaften anzutreffen.
Trost in der Geisterwelt
Meine Kollegen und ich bezeichnen diesen Volksglauben und dessen Praktiken als „wilde Religionen“. Sie sind wild in dem Sinne, dass sie spontan entstehen und sich in allen menschlichen Gesellschaften leicht verbreiten. Überall auf der Welt sind die Menschen mit der Vorstellung vertraut, dass es um uns herum körperlose Wesen gibt – in Form von Geistern der Toten oder in den Bäumen, Bergen und Sternen, die nachts den Himmel erhellen. Und viele suchen Hilfe in der Geisterwelt, indem sie Rituale durchführen und Gottheiten oder Ahnen Opfergaben darbringen.
In beängstigenden Umgebungen stellen wir uns gerne vor, dass Geister, Gespenster, Vampire, Hexen und Kobolde auf uns lauern.
Die wilde Religion ist in unserer evolutionären Vergangenheit verwurzelt. Wir alle verfügen über ein sehr empfindliches Alarmsystem im Gehirn, weil unsere Vorfahren tödliche Raubtiere schnell erkennen mussten, solange sie noch Zeit hatten, zu fliehen. Das führt dazu, dass wir Anwesenheit – echt oder eingebildet – übermäßig stark wahrnehmen. In dunklen oder beängstigenden Umgebungen stellen wir uns besonders gerne vor, dass Geister, Gespenster, Vampire, Hexen und Kobolde auf uns lauern. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Da unser Verstand die Herstellung von Werkzeugen ermöglicht hat, stellen wir uns vor, dass die Erde durch die Hände von Schöpferwesen geformt wurde und nicht durch sehr langsame Prozesse wie Erosion oder die Bewegung tektonischer Platten entstanden ist.
Aber es gibt auch Merkmale wilder Religion, die der menschlichen Logik widersprechen. Zum Beispiel erwarten schon kleine Kinder die Einhaltung bestimmter physikalischer Regeln: Objekte sollten Boden fallen (intuitive Schwerkraft); Objekte sollten sich in kontinuierlichen Bahnen durch den Raum bewegen und nicht hier verschwinden und dort wieder auftauchen (das Prinzip der Objektkohärenz); wenn Objekte zusammenstoßen, sollten sie sich gegenseitig verschieben oder zerbrechen (das Prinzip der Objektkontinuität). Ganz anders die Wesen in den wilden Religionen: Hexen fliegen. Geister materialisieren sich aus dem Nichts und gehen durch Wände. Und warum? Weil diese Art von Ideen sehr eingängig ist und Menschen sich gerne übernatürliche Kräfte vorstellen.
Die launischen Götter
Der interessante Punkt aber ist, dass es diesen übernatürlichen Akteuren über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte ziemlich egal war, wie die Menschen miteinander umgingen. Andere Wesen – von Göttern und Ahnen bis hin zu Waldgeistern – wurden im Allgemeinen als ziemlich egozentrisch angesehen. Wenn man sich bei ihnen beliebt machen wollte, waren Schmeichelei und Großzügigkeit die beste Methode. Im Gegenzug für üppige Geschenke und sklavische Ergebenheit konnte man, mit etwas Glück, die Götter auf seine Seite ziehen. Aber man musste auf der Hut sein, denn sie waren auch launisch und leicht zu kränken. Der kleinste Fehltritt, eine vernachlässigte rituelle Pflicht oder ein Tabubruch, und die Welt des Übernatürlichen konnte plötzlich zu einer Quelle schweren Unglücks werden.
Die übernatürlichen Wesen in den wilden Religionen der Welt sind nicht so moralisierend wie die viel mächtigeren Götter der Weltreligionen. In alten Gesellschaften – und in vielen traditionellen und indigenen Gruppen, die heute noch existieren – ist es den Göttern, Ahnen und Geistern des Waldes völlig gleichgültig, ob Sie Ihren Partner betrügen, Ihren Nachbarn bestehlen oder Ihren Feind ermorden. Diese religiösen Autoritäten haben vielleicht ein paar scheinbar zufällige moralische Vorstellungen und mögen zum Beispiel bestimmte sexuelle Praktiken oder legen Wert auf die gute Betreuung der Ältesten. Aber im Großen und Ganzen interessiert sie nur, wie man sie behandelt, und nicht, wie die Menschen sich gegenseitig behandeln.
Als die Götter moralisierend wurden
Das änderte sich, als die Gesellschaften größer und komplexer wurden. Die ersten Weltreiche beherbergten viele unterschiedliche kulturelle Gruppen, und auf den ersten Blick sehr verschiedene religiöse Vorstellungen begannen sich zu vermischen. Beginnend im alten Ägypten und in Judäa, verbreitete sich die Idee der moralisierenden und strafenden Götter. In den Zivilisationen Südasiens entwickelten die Religionen Theorien über Bestrafung oder Belohnung für Taten in einem früheren Leben – das Karma.
Die Verbindung zwischen Religion und Moral ist relativ jung und wurde von den Vorläufern der heutigen Weltreligionen erfunden.
Diese moralisierenden Religionen lieferten eine Reihe gemeinsamer Werte, die es den immer vielfältigeren Bevölkerungen multiethnischer Reiche und den riesigen Handelsnetzen, die sie hervorbrachten, ermöglichten, effektiver zusammenzuarbeiten. Es bildeten sich neue Formen gemeinsamer Identität aus, die über frühere Gruppenausrichtungen hinausgingen. Außerdem neigen Menschen dazu, sich auch im Umgang mit Fremden besser zu benehmen, wenn sie mit übernatürlicher Bestrafung oder Belohnung – also einer Art jenseitigem Überwachungssystem – rechnen müssen.
Die Verbindung zwischen Religion und Moral ist also relativ jung und wurde von den Vorläufern der heutigen Weltreligionen erfunden. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Religion brauchen, um uns einen moralischen Kompass zu geben. Ein solcher war in Wirklichkeit schon immer da. Er hat seine Ursprünge sehr früh in unserer evolutionären Vergangenheit, lange bevor es organisierte Religionen gab, geschweige denn moralisierende Götter.
Die sieben goldenen Regeln
Es gibt überzeugende Evidenz dafür, dass unsere moralischen Intuitionen eng mit sieben Formen der Zusammenarbeit verbunden sind. Meinem Kollegen Oliver Scott Curry zufolge – der die Theorie der Moral als Kooperationsform entwickelt hat – finden sich die sieben goldenen Regeln bei einer Vielzahl von sozialen Spezies in der gesamten Natur. Diese Regeln lauten: Sei loyal gegenüber deiner Gruppe, hilf deinen Verwandten, erwidere Gefälligkeiten, zeige Mut, respektiere Vorgesetzte, teile die Ressourcen gerecht auf und respektiere das Eigentum anderer.
Zusammen mit einem meiner ehemaligen Studenten – Dan Mullins – haben Curry und ich gezeigt, dass diese Regeln in fast allen Kulturen auf der ganzen Welt als moralisch gut angesehen werden. Das deutet darauf hin, dass sie universell und uralt sind und höchstwahrscheinlich tief in unserer Psyche verwurzelt.
Lediglich auf einer abgelegenen Insel in Mikronesien wurde offenes Stehlen als lobenswert angesehen.
Wie sind wir zu diesem Schluss gekommen? Die Antwort ist, dass wir eine riesige Menge an Daten über sechzig Gesellschaften aus sechs großen Weltregionen durchforstet haben, um eine möglichst große Vielfalt an menschlichen Kulturen zu erfassen. Um in unsere Stichprobe aufgenommen zu werden, musste jede Gesellschaft mindestens ein Jahr lang von einem professionellen Anthropologen untersucht und auf mindestens 1.200 Seiten beschrieben worden sein.
Wir fanden 3.460 Textstellen, in denen unsere sieben goldenen Regeln erwähnt wurden, und in fast tausend Fällen fanden wir Informationen über die moralische Bedeutung dieser Regeln. Fast immer, nämlich zu 99,9 Prozent, wurden sie als moralisch gut eingestuft. Tatsächlich gab es nur eine Ausnahme, die von einer abgelegenen Insel in Mikronesien stammte, wo offenes Stehlen als lobenswert angesehen wurde.
Moral ohne Götter
Wir haben also einen aussagekräftigen Beweis dafür, dass die Menschen überall die gleichen moralischen Intuitionen haben, unabhängig davon, welche Art von religiösem Glauben sie haben oder nicht. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass niemand an Gott glauben muss, um sich moralisch einwandfrei zu verhalten. Das soll jedoch nicht heißen, dass Religion in der modernen Welt keine moralische Bedeutung habe.
Im Gegenteil, Religionen gehören zu den mächtigsten kulturellen Systemen, die wir haben, um unsere natürlichen moralischen Intuitionen in eine Richtung zu lenken, die Zusammenarbeit fördert. Religion ist wohl schlecht für die Menschheit, wenn sie unsere Loyalität zu Gruppen in tribalistisches Säbelrasseln kanalisiert. Sie ist aber gut für die Menschheit, wenn sie unsere natürlichen Neigungen zu Fairness und Gegenseitigkeit nutzbar macht. Welche Seite dieser Medaille wir wählen, liegt letztlich an uns – nicht an den Göttern.
Conclusio
Universell. Moral existierte schon vor den Religionen und basiert auf universellen Prinzipien der Zusammenarbeit.
Gemeinschaftlich. Moralisierende Götter entstanden erst mit komplexeren Gesellschaften, um gemeinschaftliches Verhalten zu steuern.
Vielfältig. Religion kann spalten oder verbinden – es liegt an uns, sie für das Gemeinwohl zu nutzen.