Gott regiert mit

Die Rolle der Religion in der Geopolitik wurde in den vergangenen Jahrzehnten größer. Sie wird weiter wachsen, weil die Welt frommer wird.

Die Welt als Schachbrett der Religion
Die Welt als Schachbrett der Religionen © Claudia Meitert
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Auf den Punkt gebracht

  • Westfälische Ordnung. Nach 1648 galt Religion als Privatsache, Staaten handelten nach Interessen.
  • Rückkehr des Glaubens. Spätestens seit der Islamischen Revolution spielt Religion wieder eine geopolitische Rolle.
  • Instrumentalisierung. Staaten nutzen Religion strategisch – oft mit unerwarteten Folgen.
  • Bescheidene Außenpolitik. Wer Religion in die Diplomatie einbindet, muss vorsichtig agieren.

Religion ist in den vergangenen Jahrzehnten wieder ein dominierender Faktor in der Geopolitik geworden. Die Reaktionen darauf sind gespalten: Während die einen darin eine positive Entwicklung sehen, fühlen sich andere an die Zeit des Dreißigjährigen Krieges erinnert und haben Angst, dass es wie damals zu einem verheerenden Religionskrieg kommen könnte. Ich glaube, beide Seiten irren sich.

Wenn wir auf die bisherigen Bemühungen von Staaten blicken, die Kraft der Religion in ihrer Außenpolitik zu kanalisieren, sehen wir vor allem eine Reihe unbeabsichtigter und unerwarteter Auswirkungen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die führenden Politiker der Welt diese Bemühungen aufgeben sollten, sondern nur, dass sie in ihren Absichten bescheiden und in der Umsetzung vorsichtig sein sollten.

Die Westfälische Ordnung

Die Geschichte der internationalen Beziehungen beginnt für viele mit dem Westfälischen Frieden. Diese Reihe von Verträgen beendete den Dreißigjährigen Krieg und gestaltete die europäische Geopolitik neu. Zuvor hatten die Staatsoberhäupter mit dem Papst um die Autorität konkurriert, und staatliche Handlungen mussten religiös begründet werden. Nun wurde die Autorität der religiösen Führer eingeschränkt. Die Staatsoberhäupter hatten die ausschließliche Souveränität über ihre Länder, deren Politik auf engen staatlichen Interessen beruhte. Dies führte zu dem, was im Bereich der internationalen Beziehungen die Westfälische Ordnung genannt wird.

Natürlich ist die Geschichte in Wahrheit komplizierter. Die Religion blieb eine wichtige Kraft im Leben des Einzelnen und stellte die staatliche Legitimation weiterhin in Frage. Und die Religion beeinflusste zuweilen auch die Außenpolitik. Trotzdem: Nach dem Westfälischen Frieden beherrschten starke, zentralisierte Staaten das internationale System und handelten nach ihren wechselnden Interessen. Wenn Moral eine Rolle zu spielen schien, dann nur als Instrument für diese grund-legenden Interessen. Selbst als sich im Gefolge der Weltkriege liberale Normen ausbreiteten, wurden die politischen Entscheidungsträger stets gewarnt, sich vor Idealismus zu hüten. Die Welt funktioniere jetzt nach den Interessen des Staates, wurde ihnen gesagt. Staaten können in die richtige Richtung gedrängt werden, aber das ist alles, was man erwarten kann.

Die Religion ist zurück

In der Mitte des 20. Jahrhunderts schien sich jedoch etwas zu ändern. Die Religion wurde wieder zu einer stärkeren Kraft in der Politik und verdrängte in einigen Staaten die zuvor dominierenden säkularen Ideologien wie etwa den Nationalismus. Länder, die nach den Regeln der Westfälischen Ordnung agierten, wurden von dieser Entwicklung überrumpelt.

Die Vereinigten Staaten und andere westliche Mächte wussten zwar von al-Qaida, sahen das Netzwerk aber nicht als eine große Bedrohung an.

Das bekannteste Beispiel dafür ist die Islamische Revolution im Iran. Der Schah in Teheran war lange Zeit ein Verbündeter der USA gewesen und hatte als mächtige stabilisierende Kraft im Nahen Osten gewirkt. Die Vereinigten Staaten waren auf die Unmittelbarkeit seines Sturzes nicht vorbereitet. An der Revolution war zwar ein breites Spektrum iranischer Akteure beteiligt, aber es ist unbestritten, dass die Organisationskraft des Ayatollah Chomeini und seine auf dem Glauben basierenden Angriffe auf das Regime ganz wesentlich zum Erfolg des Umsturzes beitrugen.

Als der Terror politisch wurde

Ein weiteres Beispiel waren zwei Jahrzehnte später die Anschläge vom 11. September 2001. Natürlich hatten sich die politischen Entscheidungsträger schon früher mit dem Terrorismus befasst, aber dabei handelte es sich in der Regel um eine andere Art von Anschlägen – durchgeführt von Gruppierungen, die man kontrollieren konnte. Die Zerschlagung der Rote-Armee-Fraktion in Deutschland oder die Friedensverhandlungen des Vereinigten Königreichs mit der Irisch-Republikanischen Armee galten als Paradigma für eine erfolgreiche Terrorismusbekämpfung.

Die Vereinigten Staaten und andere westliche Mächte wussten zwar von al-Qaida, sahen das Netzwerk aber nicht als eine große Bedrohung an. Was für ein schrecklicher Irrtum das war, zeigte sich mit den Anschlägen von 9/11.

Aber es gab auch positive Überraschungen. Die Gemeinschaft Sant’Egidio, eine römisch-katholische Laienorganisation, half Mitte der 1980er-Jahre bei der Vermittlung eines Friedensabkommens, das den seit 16 Jahren wütenden Bürgerkrieg in Mosambik beendete. Obwohl solche positiven Ereignisse weniger Aufmerksamkeit erregten als die gewalttätigen Vorfälle, veranlassten sie einige prominente Politiker – etwa Madeleine Albright, US-Außenministerin von 1997 bis 2001 – dazu, sich für eine Einbeziehung der Religion in die Außenpolitik einzusetzen.

Der realpolitische Nutzen des Glaubens

Viele Staaten erkannten, dass sie sich an diese neue Realität anpassen mussten. Dass sie aufhören mussten, Religion zu ignorieren, und auf deren Bedeutung für die Außenpolitik reagieren sollten. Es wurde klar, dass die Macht des Glaubens zur Durchsetzung von Interessen genutzt werden kann.

Sowohl der Iran als auch Saudi-Arabien begründeten die Existenz ihrer Regime mit dem Islam.

Einige machten die Religion zum Kernstück ihrer Politik. Sowohl der Iran als auch Saudi-Arabien begründeten die Existenz ihrer Regime mit dem Islam, Teheran mit dem revolutionären schiitischen Zweig, Riad mit dem konservativen salafistischen sunnitischen Islam. Der ungarische Premier Viktor Orbán erklärte sich selbst zum „Verfechter christlicher Werte“. Der russische Präsident Wladimir Putin ließ das orthodoxe Christentum in die Sicherheitspolitik seines Staates einfließen, etwa durch die Segnung neuer Atomraketen. Die indische Regierungspartei glaubt, dass ihre interne Umarmung des Hindu-Nationalismus zu einem größeren Ansehen Indiens im internationalen System führen könne. Und natürlich spielt die Religion häufig eine Rolle in der US-Außenpolitik, von Ronald Reagans christlicher Rhetorik bis hin zu Donald Trumps Eintreten für die internationale Religionsfreiheit.

Nützliches Instrument

Der Hintergedanke war stets, dass Religion ein nützliches Instrument zur Durchsetzung nationaler Interessen sein könnte. Während des Krieges gegen den Terror versuchten die Vereinigten Staaten, „gemäßigte“ muslimische Akteure zu unterstützen, um der Anziehungskraft von al-Qaida entgegenzuwirken. Russlands Appelle an das orthodoxe Christentum zielten teilweise darauf ab, bei rechtsextremen Kräften in Europa und den Vereinigten Staaten Unterstützung für die russische Außenpolitik zu gewinnen. Die Vereinigten Arabischen Emirate erhoben die religiöse Toleranz zu einem Kernstück ihrer Außenpolitik, indem sie beispielsweise internationale religiöse Konferenzen ausrichten und 2019 den Papst einluden, die Papstmesse auf der Arabischen Halbinsel zu halten.

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Zahlen & Fakten

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Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat die Religion also die Geopolitik neu gestaltet. Die Westfälische Ordnung, in der die Religion auf den persönlichen Glauben reduziert und staatliche Politik von engen nationalen Interessen geleitet wird, ist unhaltbar geworden. Wenn politische Entscheidungsträger ihre Interessen wirksam durchsetzen wollen, müssen sie die religiösen Gefühle und Organisationen sowohl im eigenen Land als auch weltweit berücksichtigen. Viele Experten im Bereich der internationalen Beziehungen haben diese Realität vielleicht noch nicht erkannt, aber sie werden sich zunehmend anpassen müssen.

Was bedeutet das für die Zukunft?

Die Frage ist also, was diese neu gestaltete Geopolitik für die Welt bedeutet. Eine wachsende Rolle der Religion in globalen Angelegenheiten kann den politischen Entscheidungsträgern helfen, bei der Formulierung ihrer Ziele über engstirnige Eigeninteressen hinauszugehen und seit langem bestehende Konflikte durch die Gemeinsamkeiten zu lösen, die allen gläubigen Menschen zu eigen sind.

Es kann aber auch bedeuten, dass es zu mehr internationalen Feindseligkeiten und möglicherweise sogar zu einem weitreichenden Konflikt wie dem Dreißigjährigen Krieg kommt. Beispielsweise deutet die Eroberung von Gebieten im Nahen Osten durch die Terrorgruppe Islamischer Staat auf einen langen Kampf hin, der die Westfälische Ordnung ändern würde. Dazu kommt, dass die IS-Erfolge Terroristen in aller Welt inspirieren.

Klar ist: Die Welt wird durch die größere Rolle der Religion in der Geopolitik komplizierter und schwerer vorhersehbar.

Bisher hatten die Versuche einzelner Staaten, Religion als geopolitisches Instrument einzusetzen, durchaus Auswirkungen auf die Welt – aber es waren selten die von den Staaten eigentlich erwünschten Effekte. So konnten religiöse Appelle bei der Terrorismusbekämpfung durch die USA zwar einige Spannungen mit muslimischen Staaten ausgleichen. Sie ermöglichten es autoritären Staaten aber auch, Unterdrückung als Maßnahme gegen Extremismus zu rechtfertigen, und ließen Bedenken aufkommen, dass sich die Vereinigten Staaten in interne islamische Debatten einmischen würden.

Russlands Appelle an „traditionelle“ Werte haben dessen Popularität bei rechtsextremen Kräften erhöht, aber sie verstärkten auch das Misstrauen gegenüber Russland und der russisch-orthodoxen Kirche im Allgemeinen. Selbst die Bemühungen der Vereinigten Arabischen Emirate um religiöse Toleranz führten zu einigen Komplikationen, weil sich der Staat dadurch dem Vorwurf der Heuchelei ausgesetzt sieht.

Ein Aufruf zur Bescheidenheit

Warum also sollte man riskieren, Religion in die Außenpolitik einzubeziehen, wenn deren Wirkung so unberechenbar ist? Leider ist es für diese Frage zu spät. Während in Europa, den Vereinigten Staaten und China die Frömmigkeit abnimmt, sind einige der am schnellsten wachsenden Länder der Welt zugleich jene, in denen die Religion einen besonders hohen Stellenwert genießt. Deshalb wird sich der Wandel in der Geopolitik durch Religion wahrscheinlich nicht verlangsamen, und Staaten, die sich nicht damit auseinandersetzen, werden es schwer haben.

Was also tun? Die Antwort könnte ironischerweise von einigen der gleichen Gelehrten kommen, die einst vor zu viel Idealismus gewarnt hatten.

Dies gilt insbesondere für europäische Staaten und die Europäische Union. Deren politische Entscheidungsträger müssen sich mehr mit religiösen Überzeugungen und religiösen Akteuren auseinandersetzen, wenn sie sicher durch den Rest des 21. Jahrhunderts navigieren wollen. Aber sie müssen sich auch davor hüten, die Fehler der Vereinigten Staaten zu begehen.

Was also tun? Die Antwort könnte ironischerweise von einigen der gleichen Gelehrten kommen, die einst vor zu viel Idealismus gewarnt hatten. Von Reinhold Niebuhr etwa, einem lutherischen Theologen und Kommentator der US-Außenpolitik zur Zeit des Kalten Krieges, stammt die Erkenntnis, dass große Ambitionen „Tugend in Laster“ verwandeln können.

Dies ist ein nützlicher Rat: Integrieren Sie religiöse Fragen in Ihre Außenpolitik, aber tun Sie es vorsichtig und bescheiden.

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Conclusio

Rückkehr. Spätestens seit der Islamischen Revolution 1979 im Iran ist die Religion wieder ein stärkerer Faktor in der Geopolitik geworden; Aber auch Ungarn, Russland, Indien und zahlreiche arabische Länder verbinden Außenpolitik mit Glauben. 

Realpolitik. Viele Staaten waren der Ansicht, dass Religion in ihrer Außenpolitik keine Rolle spielen sollte, aber es ist eine Anpassung an die Gegebenheiten notwendig: Religion spielt eine Rolle, ob man das gut findet oder nicht.

Resümee. Religion in der Politik kann verbindend und mäßigend wirken. Es besteht aber auch die Gefahr, dass Feindseligkeiten im Namen Gottes zunehmen – die Ambitionen des Islamischen Staats sind ein deutliches Anzeichen dafür.

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