Europa, zurück zum Binnenmarkt bitte
Die EU sollte sich auf die noch bestehenden Lücken im Binnenmarkt konzentrieren, statt unrealistische geopolitische Ambitionen zu verfolgen.
Auf den Punkt gebracht
- Moment der Einheit. Der Krieg in der Ukraine hat die EU-Staaten dazu gebracht, ungewöhnlich schnell eine gemeinsame außenpolitische Linie zu finden.
- Keine Großmacht. Diese Einigkeit war durchaus wichtig. Allerdings wurde die EU nicht dazu konzipiert, ein eigenständiger geopolitischer Akteur zu sein.
- Brüssel-Effekt. Die wahre Stärke der Union liegt in ihrem Binnenmarkt, dessen Standards selbst von internationalen Handelspartnern übernommen werden.
- Stärken ausbauen. Eine weitere Vertiefung dieses Binnenmarkts würde der EU global mehr Einfluss verschaffen und ihren Lebensstandard noch attraktiver machen.
Zweifellos kann die Europäische Union auf viele Errungenschaften verweisen, aber geopolitisches Handeln gehört bisher nicht dazu. Als Russland sich auf den Angriff auf die Ukraine vorbereitete, war die EU nur am Rande daran beteiligt, die gefährlichste und destruktivste Konfrontation auf dem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg zu verhindern.
Mehr im Dossier 5 Ideen für Europa
- Katja Gentinetta: Europa, mehr Union bitte
- Rainer Münz: Europa, bitte weiter wursteln
- Christoph Leitl: Europa, besinn’ Dich auf Deinen Kern bitte
- Hans-Hermann Hoppe: Europa, einfach auflösen bitte
Der Kreml verhandelt lieber direkt mit Berlin, Paris, Rom und Co. statt über die EU. Moskau ignoriert Brüssel, beleidigt hochrangige EU-Vertreter, unterstützt extremistische, euroskeptische Politiker und schürt die Spaltung der Union. Hacker, deren Ursprung nach Russland zurückverfolgt wurde, unterstützten die Brexit-Kampagne, die zum EU-Austritt der Briten führte.
Fehlgeleitete Visionen
Der Ukraine-Krieg stellte viele Annahmen auf den Kopf, darunter auch die Wirksamkeit der für die EU typischen „Soft Power“, die Diktatoren von militärischen Aktionen abhalten sollte. Die Entscheidung Deutschlands, seine Militärausgaben deutlich zu erhöhen, die offensichtliche Bereitschaft der EU-Länder, Rüstungsgüter für die Ukraine zu finanzieren, und die Verhängung drastischer Sanktionen durch die EU haben Visionen von der Union als strategischem Akteur wiederbelebt.
Zahlen & Fakten
Doch dieses Vorhaben steht vor enormen Hürden: Die Mitgliedsstaaten sind nach wie vor nicht bereit, Entscheidungen über wichtige Fragen wie Krieg und Frieden zu delegieren. Die europäischen Regierungen distanzierten sich schnell von der Forderung aus Brüssel, ukrainischen Piloten zu erlauben, Kampfjets von Flugplätzen in EU-Ländern zu ihren Heimatbasen zu fliegen. Gemäß EU-Verträgen dürfen europäische Gelder nicht für den Kauf von Rüstungsgütern verwendet werden.
EU-Diplomatie bewusst geschwächt
Im Jahr 2010 wurde die angesehene Abteilung für Außenbeziehungen der Kommission abgeschafft, um die nationale Kontrolle über die EU-Maßnahmen im Ausland zu stärken. Diese Abteilung wickelte Handelsverträge geschickt ab und verwaltete das zweitgrößte Netz diplomatischer Vertretungen der Welt. Sie wurde von einem hybriden „europäischen diplomatischen Dienst“ abgelöst, in dem ein Drittel des Personals aus nationalen Beamten und Diplomaten besteht und der von einem „Hohen Vertreter“ geleitet wird.
Die EU war nie dazu gedacht, ein wichtiger außenpolitischer Akteur zu sein.
Drei aufeinanderfolgende leichtgewichtige Besetzungen für den EU-Chefdiplomaten haben dazu geführt, dass der Dienst weder eine Richtung noch einen Corpsgeist entwickelte. Auch der geopolitische Einfluss einzelner EU-Mitglieder schwindet, da Moskau und Peking es vorziehen, über ihre Köpfe hinweg mit Washington zu sprechen. In Wahrheit war die EU nie dazu gedacht, ein wichtiger außen- und sicherheitspolitischer Akteur zu sein. Trotz neuer Strukturen bleibt sie im Wesentlichen eine zivile Organisation. Ihr Einfluss ergibt sich aus ihrem großen Binnenmarkt, der Attraktivität ihres hohen Lebensstandards, ihrem Sozial- und Wirtschaftsmodell und der Ausstrahlung ihrer internen Errungenschaften nach außen.
Binnenmarkt mit Strahlkraft
Die finnisch-amerikanische Wissenschaftlerin Anu Bradford hat diese Art von Einfluss als „Brüssel-Effekt“ bezeichnet. Regierungen und Unternehmen weltweit müssen EU-Standards einhalten, wenn sie Waren und Dienstleistungen an die 450 Millionen Verbraucher in der EU verkaufen wollen. Selbst China hat Elemente der EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in seine eigenen Vorschriften für Datendienste übernommen. Die Briten haben ihre neu gewonnene Selbständigkeit auch noch nicht dazu verwendet, um spürbar von EU-Standards abzuweichen, stärkt doch der große Binnenmarkt der EU ihren Einfluss in einer multipolaren Welt.
Und jetzt? Wege aus dem Brexit-Blues
Die Mitglieder des Europäischen Parlaments haben die EU aufgefordert, Freihandelsabkommen aktiver zu nutzen, um Veränderungen in Ländern in den Bereichen Kinderarbeit, Klimawandel, gute Regierungsführung und nachhaltige Entwicklung auf der ganzen Welt zu bewirken. Und Frankreich drängt darauf, dass die EU auf politisch motivierte Sanktionen mit Gegenmaßnahmen im Rahmen der Handelspolitik reagiert.
Letzte Lücken der Wirtschaftsunion schließen
Die derzeitige Energiekrise, durch den Ukraine-Krieg verschlimmert, wäre weit weniger belastend, wenn die EU den Energiebinnenmarkt bereits vollendet und die notwendigen Verbindungsleitungen geschaffen hätte. So verfügt Spanien beispielsweise über die meisten Anlagen, um Flüssiggas, das mit Tankern geliefert wird, für das kontinentale Netz aufzubereiten. Leider kann das Gas mangels Pipelines nicht in andere EU-Länder gelangen. Ein ähnliches Problem haben Investitionsfonds, die vielversprechende Projekte in der EU nicht verfolgen, weil es keine Kapitalmarktunion gibt. Die Bankenunion, eine der Säulen der Eurozone, ist ebenfalls unvollständig.
Die EU täte besser daran, sich auf die Schließung solcher Lücken im Binnenmarkt zu konzentrieren, als großspurige, aber schwer fassbare Verteidigungs- oder Sicherheitsunionen zu fordern. Ihr internationales Durchsetzungsvermögen hängt nicht von zaghaften Vorstößen in der Außenpolitik ab. Vielmehr entspringt Brüssels Einfluss dem großen Binnenmarkt.
Conclusio
Die EU-Institutionen spielen in der Außen- und Sicherheitspolitik keine wesentliche Rolle. Ihre Stärke ist es, den gemeinsamen Markt zu pflegen. Dabei gibt es noch einiges zu tun, etwa indem der Energiemarkt ausgebaut oder der Kapitalmarkt attraktiver gestaltet wird. Wie die EU-Länder jüngst bewiesen haben, können sie sich in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen auch ohne Brüssel koordinieren. Die EU sollte ihren Fokus zurück auf den Binnenmarkt und dessen globale Strahlkraft richten.