So funktioniert Russlands Propaganda

Russlands Propaganda arbeitet nicht mit Ideologie, sondern systematischer Verwirrung. Ein Blick hinter die Kulissen eines perfektionierten Systems der Desinformation.

Titelbild zu einem Beitrag über Russlands Propaganda: Poster an Moskauer U-Bahn-Waggon: Russischer Soldat mit "V"-Symbol und Text "Wir werden zusammen siegen", 13. Dezember 2024.
„Wir werden zusammen siegen“, heißt es auf der Moskauer U-Bahn. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Widersprüche: Die Ukraine wird bewusst als „schwacher Vasall“ und „übermächtiger Aggressor“ oder „Bruderstaat“ dargestellt.
  • Schweige-Spirale: Massive Verluste, Prigoschins Meuterei und Angriffe auf Russland werden totgeschwiegen.
  • Post-Ideologisch: Russlands Propaganda setzt nicht mehr auf ein in sich geschlossenes ideologisches System.
  • Vernebelung: Das Mantra „Es ist alles nicht so eindeutig“ soll die Bevölkerung kognitiv lähmen statt überzeugen.

Wenn in Russland zur besten Sendezeit über die Ukraine gesprochen wird, gleicht das einem choreographierten Ritual. Mal sind es Loblieder auf Erfolge russischer Streitkräfte, mal martialische Drohungen gegen den Westen, mal hysterische Warnungen vor „Nazi-Horden“. Dieses scheinbare Chaos hat System: es soll den Krieg rechtfertigen und eine alternative Realität schaffen. Denn über allem steht das in Russland gängige, resignative Mantra: „Es ist alles nicht so eindeutig.


Ebenen der Propaganda

Die Desinformation des Kremls basiert auf der sogenannten Propagandapyramide. Damit sollen Wahrnehmung, Denken und Emotionen der Bevölkerung systematisch gesteuert werden:

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Zahlen & Fakten

Das Fundament der Pyramide bildet eine Mischung aus Falschinformationen und selektiven Fakten. Nur Ereignisse, die das staatliche Narrativ stützen, werden erwähnt – kritische Fakten werden ausgeblendet. Auf diesen gefilterten Fakten fußt die vermeintlich neutrale Berichterstattung. Doch Neutralität ist in diesem System Illusion: Die Berichterstattung wird bewusst mit Emotionen aufgeladen, etwa durch Musik, suggestive Bildmontagen oder sprachlicher Deutungsrahmen, die das Publikum in eine bestimmte Richtung lenken sollen.

Das Weltbild wird nicht argumentativ verteidigt, sondern durch ständige Wiederholung verankert.

Die nächste Ebene bilden Expertenmeinungen, auch aus dem westlichen Ausland, deren Interpretation der Kriegsursachen ins Narrativ des Kreml passen – darunter Jeffrey Sachs oder John Mearsheimer, die seit jeher die These vertreten, Russland sei durch die NATO-Erweiterung provoziert worden. Diese selektive Auswahl an Experten stützt den staatlichen Deutungsrahmen. So entsteht ein Scheindiskurs.

An der Spitze der Pyramide verdichtet sich dieses orchestrierte Zusammenspiel zu einem geschlossenen Weltbild: Russland erscheint als „schuldlos belagerte Festung“ im Kampf für die Multipolarität gegen die Hegemonie der USA, der Westen als „moralisch verfallener Aggressor“, die Ukraine als „faschistoider Vasallenstaat des westlichen Imperialismus“. Dieses Weltbild wird nicht argumentativ verteidigt, sondern durch ständige Wiederholung verankert.

So entsteht ein in sich geschlossenes System, das nicht über Tatsachen informiert, sondern gegen Tatsachen immunisieren soll – gegen Zweifel, gegen Kritik und gegen jede Form alternativer Wirklichkeit.

Die Flexibilität der Wahrheit

Bemerkenswert ist, dass die russische Propaganda kein in sich geschlossenes ideologisches System mehr benötigt. Im Gegenteil: Dass sich Narrative widersprechen ist Teil der Medienstrategie. Mal wird die Ukraine als „schwacher Vasall des Westens“ dargestellt, mal als „übermächtiger Aggressor“. Mal gilt es, das „ukrainische Brudervolk“ vor „Willkürherrschaft nationalistischer Eliten“ zu schützen, mal wird die Vernichtung der ukrainischen Zivilbevölkerung gefordert. So kann sich jeder das passende Narrativ heraussuchen – Hauptsache, man bleibt loyal gegenüber Putin. Die russische Propaganda schafft dermaßen viel Unschärfe, dass selbst offenkundige Fakten als Teil eines größeren Komplotts abgetan werden können.

Der Kern der Propaganda ist die Behauptung, dass man die Wahrheit ohnehin niemals erfahren werde – alles sei zu kompliziert, zu widersprüchlich, zu undurchschaubar.

Die gängige Floskel „Es ist alles nicht so eindeutig“ hat sich dabei zu einer gesellschaftlichen Abwehrformel entwickelt. Der Kern der Propaganda ist die Behauptung, dass man die Wahrheit ohnehin niemals erfahren werde – alles sei zu kompliziert, zu widersprüchlich, zu undurchschaubar. Diese Einstellung ist das Produkt jahrzehntelanger Desorientierung der Gesellschaft durch mediale Überreizung, strategische Desinformation und selektive Wahrnehmung.

Hybride Medienlandschaft

Selbst in sozialen Netzwerken wie Telegram, die lange als Nischenorte des Widerstands galten, dominiert heute ein erheblicher Anteil radikal-propagandistischer Inhalte. Russische Pro-Kriegs-Blogger, sogenannte „Voenkory“ (Kriegsberichterstatter), genießen dort hohe Reichweiten und treiben eine oft noch radikalere Agenda als die offiziellen Kanäle. Zu den einflussreichsten zählen dabei Rybar, WarGonzo und Alexander Kots, die täglich Frontberichte, strategische Einschätzungen und explizit prorussische Propaganda veröffentlichen.

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Zahlen & Fakten

Die wichtigsten Propaganda-Blogger

Der russische Militärblogger Mikhail Zvinchuk, der den Telegram-Kanal „Rybar“ betreibt, wird von der Washington Post interviewt.
Der russische Militärblogger Mikhail Zvinchuk wird von der Washington Post interviewt. © Getty Images

Rybar: Einer der größten Kanäle, veröffentlicht taktische Karten und Kriegspropaganda.

WarGonzo: Frontnaher Kriegsblogger mit hoher Reichweite, häufig Vorwürfe gegen das Verteidigungsministerium.

Alexander Kots: Kriegskorrespondent mit Zugang zu russischen Streitkräften, teilweise auch regierungskritisch in der Methodik, nicht in der Zielsetzung.

Bemerkenswert ist, dass innerhalb dieser Szene das russische Regime regelmäßig kritisiert wird – allerdings nicht wegen des Krieges selbst, sondern meist mit der Forderung nach härterem, brutalerem Vorgehen – zunehmend auch wegen der schlechten Behandlung russischer Soldaten. Diese systemkonforme Radikalität wird von den russischen Sicherheitsbehörden bislang weitgehend toleriert. Die Blogger schaffen ein propagandistisches Korrektiv von unten, das den Eindruck von Pluralität erzeugt, jedoch in Wahrheit die Grenzen des Sagbaren stabilisiert.

Die rote Linie verläuft dort, wo die persönliche Autorität Wladimir Putins infrage gestellt oder an der Kriegsführung insgesamt gezweifelt wird. Solange sich die Kritik aber auf das operative Management und die Geschwindigkeit des Krieges beschränkt, bleiben selbst drastische Vorwürfe folgenlos.

Der Inlandsgeheimdienstes FSB überwacht die Kanäle genau, schränkt sie aber nicht systematisch ein. Über die Voenkory wird Frustration kanalisiert, militärische Erfolge werden heroisiert. Das scheinbar unkontrollierte digitale Kriegsgeheul ist damit Teil einer flexiblen Machterhaltungsstrategie.

Die klassische Zweiteilung – hier das regimetreue Fernsehen, dort das regierungskritische Internet – ist also zu einem Teil überholt. In Russland ist der digitale Raum heute ebenso durchdrungen von staatlicher Propaganda und Kriegsrhetorik wie das Fernsehen.

Timing der Drohungen

Die schärfsten Drohungen gegen den Westen – insbesondere nukleare – erfolgen nicht willkürlich, sondern stehen regelmäßig in direktem Zusammenhang mit außenpolitischen Ereignissen. Die atomare Keule wird gezückt, wenn entscheidende westliche Waffenlieferungen bevorstehen, neue Sanktionspakete verhandelt werden oder symbolisch aufgeladene westliche Gipfeltreffen stattfinden.

Besonders deutlich zeigte sich dieses Muster bei den Ankündigungen über die Lieferung westlicher Kampfpanzer und später von F-16-Kampfflugzeugen an die Ukraine. Solche rhetorischen Spitzen erfüllen mehrere Zwecke: Sie dienen der Einschüchterung des Westens, der Mobilisierung der eigenen Bevölkerung und der Stabilisierung des innenpolitischen Diskurses, indem sie den Krieg als unausweichliche Abwehrschlacht gegen äußere Feinde inszenieren.

Auffälliges Schweigen

Ebenso aufschlussreich wie das, was gesagt wird, ist in Russland das, was verschwiegen wird. Die Meuterei Jewgeni Prigoschins wurde medial zunächst totgeschwiegen, später bagatellisiert und schließlich als Konflikt unter Patrioten ohne staatsfeindliche Absicht eingeordnet. Bis heute wird Prigoschins Marsch auf Moskau nicht als Symptom einer tiefen Krise behandelt, sondern als abgeschlossenes Kapitel, das die Einheit des Staates am Ende sogar gestärkt habe.

Ähnlich verfahren die russischen Medien bei Angriffen innerhalb Russlands. Zunächst wird versucht, die Angriffe zu leugnen oder herunterzuspielen. Erst wenn sich die Fakten nicht mehr verbergen lassen, werden die Ereignisse in das bestehende Deutungsmuster eingepasst: als „feiger Terrorismus“, als „Sabotage westlicher Geheimdienste“, als Beweis für die „Niedertracht der Ukraine“.

Die unsichtbaren Toten

Der Umgang mit den eigenen Verlusten ist besonders perfide. Der Krieg hat Hunderttausende Tote und Verletzte gefordert – doch in der russischen Öffentlichkeit sind diese Opfer weitgehend unsichtbar. Offizielle Zahlen werden kaum genannt, Beerdigungen finden im medialen Abseits statt. Der Tod wird individualisiert und entpolitisiert – er erscheint als Schicksal, nicht als Folge staatlicher Entscheidungen. Gleichzeitig wird der Krieg als patriotischer Akt verklärt, als Prüfung für die „große russische Zivilisation“.

Die Abwesenheit der Opfer in der medialen Wahrnehmung schützt das Regime vor gesellschaftlicher Erosion.

Denn das gesellschaftliche Gedächtnis formt sich nicht durch das Ereignis, sondern durch das, was kollektiv erinnert oder gezielt verdrängt wird. Die Abwesenheit der Opfer in der medialen Wahrnehmung schützt das Regime vor gesellschaftlicher Erosion.

Blumen für Trump

Das russische Narrativ über die USA ist nicht konsistent feindlich. Donald Trump wird überwiegend wohlwollend dargestellt – nicht als Feind, sondern als potenzieller Partner. Wenn Trump sich kritisch zu ukrainischen Angriffen oder US-Waffenlieferungen äußert, wird dies von russischen Medien mit Genugtuung aufgenommen. Trump gilt als Stimme der Vernunft im „kranken Westen“, als Politiker, der den Krieg unnötig finde und sich von der „aggressiven NATO“ distanzieren wolle. Dabei ist auffällig, wie selektiv Trumps Aussagen medial verwertet werden.

Die USA seien ein gespaltenes Land, das unter der Führung der Demokraten den Krieg begonnen habe, während „Patrioten“ wie Trump den Frieden suchen würden. Diese selektive Rezeption dient dazu, die moralische Legitimität des russischen Vorgehens zu untermauern und den Westen als zerstritten darzustellen.

Russlands Propaganda des Schweigens

Russlands Propaganda zielt letztlich nicht darauf ab, die Bevölkerung geschlossen hinter einem ideologischen Banner zu versammeln. Sie immunisiert die Gesellschaft gegen Kritik, erzeugt kognitive Trägheit und emotionale Erschöpfung. Widersprüche werden bewusst produziert, um eine allgegenwärtige Lähmung zu erzeugen. Der Glaube an die Wahrheit hat zu schwinden und der einzig wahrhaften Lösung „Es ist alles nicht so eindeutig“ zu weichen.

In diesem Sinne ist die russische Propaganda ein System der Desorientierung – eine industriell organisierte Produktion von Ambiguität. Wer sie durchschauen möchte, muss also weniger auf das achten, was ausgesprochen wird, sondern auf das, was unerwähnt bleibt. Denn die gefährlichste Waffe des Systems ist nicht das Wort – es ist das Schweigen.

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Conclusio

Pyramidenspiel. Russlands Propaganda funktioniert als Desorientierung, die über eine Pyramide aus selektiven Fakten, emotionaler Aufladung und Scheindebatten eine alternative Realität schafft. So werden Widersprüche bewusst produziert. Das Mantra „Es ist alles nicht so eindeutig“ erstickt jede Wahrheitssuche.

Feindbild. Der Westen wird der Bevölkerung als gespalten und dekadent verkauft, wobei einzelne Experten und Politiker wie Donald Trump zur Bestätigung des Narrativs herangezogen werden.

Realitätsverweigerung. Diese Strategie zielt nicht auf ideologische Überzeugung, sondern auf kognitive Lähmung und gesellschaftliche Immunisierung gegen Kritik ab.

Weiterführende Links

Video-Bericht auf DW über russische Berichterstattung über Donald Trump (Englisch)

Mehr über russische Einflussnahme

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