Spiegelleben: Gefährliche Neugier
Molekularbiologen stehen vor der künstlichen Erschaffung von Spiegelleben. Solche Organismen wären der Natur fremd und könnten unkalkulierbare Risiken bergen.

Auf den Punkt gebracht
- Durchbruch. Gentechnik eröffnete vor 50 Jahren Chancen, brachte aber auch unvorhersehbare Risiken.
- Warnung. Paul Berg und Kollegen forderten damals Selbstbeschränkung, um Gefahren zu vermeiden.
- Spiegelleben. Neue Forschung will spiegelbildliche Organismen erschaffen – mit enormem Risikopotenzial.
- Konsens. Nobelpreisträger und Fachgemeinschaft fordern: Spiegelleben darf derzeit nicht geschaffen werden.
Vor etwas mehr als 50 Jahren gelang es Molekularbiologen, die ersten Werkzeuge der Gentechnik zu entwickeln. Das war ein wissenschaftlicher Durchbruch, wie es davor nicht sehr viele gegeben hatte. Mit den Werkzeugen der Gentechnik entstand die Möglichkeit, den genetischen Code umzuschreiben und in Reagenzgläsern Organismen zu erschaffen, die nie zuvor existiert hatten.
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Das Verfahren eröffnete beispiellose Chancen, brachte aber auch erhebliche Risiken mit sich. Ein Kommentator schrieb damals, dass es schien, „als hätten Molekularbiologen den Rand eines experimentellen Abgrunds erreicht, der letztlich demjenigen gleichkommen könnte, vor dem die Kernphysiker in den Jahren vor der Atombombe standen“.
Der Berg-Brief und seine Folgen
Der Biochemiker und spätere Nobelpreisträger Paul Berg von der Stanford University sah das einst genauso. Gemeinsam mit fast einem Dutzend führender Molekularbiologen verfasste er einen offenen Brief, in dem er vor der „Schaffung neuartiger infektiöser DNA-Elemente mit biologischen Eigenschaften, die im Voraus nicht vollständig vorhersehbar sind“, warnte.
Der „Berg-Brief“ forderte einen sofortigen Stopp bestimmter Klassen genetischer Experimente aufgrund der „ernsten Besorgnis, dass einige dieser künstlichen rekombinanten DNA-Moleküle biologisch gefährlich sein könnten“. Paul Berg war 1975 auch einer der Organisatoren einer Konferenz im kalifornischen Badeort Asilomar, bei der kontrovers über die Chancen und Risiken von rekombinanter DNA diskutiert wurde. Die Teilnehmer beschlossen damals, an manchen Dingen nicht zu forschen, weil die Gefahr negativer Konsequenzen zu groß schien.
Gespiegeltes Leben
Gibt es dieses Verantwortungsbewusstsein in der Wissenschaft auch heute noch? Oder geht es nur darum, schneller als alle anderen neue Verfahren zu entwickeln – ohne Rücksicht auf deren potenziell gefährliche Folgen? Diese Fragen stellen sich insbesondere in einer besonders riskanten Forschungsrichtung der Molekularbiologie: der Herstellung von sogenanntem Spiegelleben.
Gemeint sind damit Lebensformen, die vollständig aus spiegelbildlichen biologischen Molekülen aufgebaut sind. In der Natur bestehen etwa Nukleinsäuren immer aus rechtsdrehenden Bausteinen, Proteine immer aus linksdrehenden. Bei Spiegelleben wäre es genau umgekehrt, und Wissenschaftler sind heute zunehmend in der Lage, solche spiegelbildlichen Biomoleküle zu synthetisieren.
Jüngste Fortschritte ermöglichen die chemische Synthese spiegelbildlicher Nukleinsäuren im Kilobasenbereich und großer funktionaler Proteine. Die Synthese solcher Moleküle an sich ist nicht problematisch und könnte sogar einen wissenschaftlichen Nutzen haben. Die Sorge richtet sich vielmehr auf spiegelbildliche Nukleinsäuren und Proteine, die gezielt zur Schaffung vollständiger spiegelbildlicher Organismen verwendet werden sollen.
Der Körper wäre chancenlos
Solche Spiegelorganismen können nicht aus bestehendem Leben hervorgehen. Auch das unabhängige Entstehen von Spiegelleben in der Natur ist extrem unwahrscheinlich. Doch mit wissenschaftlichem Fortschritt könnte ein solcher Organismus – etwa ein Bakterium – im Labor erschaffen werden. Dies wäre ein deutlich komplexerer biotechnologischer Schritt als alles bisher Dagewesene, ein radikaler Bruch.

Die Hauptsorge: Spiegelbakterien – und Spiegelleben allgemein – könnten, weil sie eben komplett anders aufgebaut sind, dem Immunsystem und anderen biologischen Abwehrmechanismen von Lebewesen entgehen und damit neuartige, potenziell extreme Risiken darstellen. Der Organismus hätte vermutlich keine Chance zur Abwehr solcher Bakterien, was sie extrem gefährlich machen kann. Dem gegenüber stehen kaum greifbare Vorteile. In erster Linie geht es um die Befriedigung wissenschaftlicher Neugier und persönlicher Ambitionen – Motive, die in normalen Fällen legitim sind, aber nicht, wenn die möglichen Schäden so groß sind wie bei Spiegelleben.
„Spiegelleben darf nicht erschaffen werden.“
Im Februar 2025 wurde ein Gipfeltreffen zum 50-jährigen Jubiläum der Asilomar-Konferenz einberufen – am gleichen Datum und auf demselben Konferenzgelände auf der Monterey-Halbinsel in Kalifornien. Etwa 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt erschienen, darunter auch einige, die bereits 1975 dabei gewesen waren. Vertreten waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, außerdem Naturschützer, Bioethiker, Juristen, ehemalige Regierungsbeamte, Sicherheitsexperten und Journalisten. Debattiert wurde die Frage, wie verantwortungsvolle Biowissenschaft heute aussehen soll.
Zahlen & Fakten
Was ist bei der Asimolar-Konferenz 1975 passiert?
Die Asilomar-Konferenz 1975 war ein historischer Moment in der Biowissenschaft. Etwa 140 führende Molekularbiologen, Mediziner, Juristen und Journalisten trafen sich im kalifornischen Konferenzzentrum Asilomar. Die zentrale Frage: Wie weit darf man bei der Schaffung neuer genetischer Kombinationen gehen, wenn deren Risiken für Umwelt und Gesundheit noch völlig unklar sind? Über mehrere Tage wurde kontrovers debattiert, ob wissenschaftliche Neugier Vorrang vor Vorsicht haben sollte. Am Ende beschlossen die Teilnehmenden freiwillige Sicherheitsauflagen, darunter die Einstufung von Experimenten in Risikoklassen sowie das vorläufige Verbot besonders riskanter Arbeiten, etwa mit krankheitserregenden Organismen. Diese Selbstbeschränkung war weltweit beispiellos und gilt bis heute als Musterbeispiel für verantwortungsvolle Selbstregulierung in der Wissenschaft – und als frühes Signal, dass Forschung nicht losgelöst von gesellschaftlichen Folgen betrieben werden darf.
Ein zentrales Thema der ursprünglichen Asilomar-Konferenz blieb dabei im Vordergrund: Gibt es Experimente, die so riskant sind, dass sie schlichtweg nicht durchgeführt werden sollten? Gibt es Technologien, die besser unerreichbar bleiben? In der Abwägung von Risiken und Nutzen kamen die Teilnehmer des Asilomar-Gipfels 2025 daher zu dem klaren Schluss: Die Erschaffung von Spiegelleben stellt derzeit eine rote Linie dar, die nicht über-schritten werden darf. Die Forderung der Teilnehmer: „Spiegelleben darf nicht erschaffen werden.“
Rote Linien können wandern
Allerdings enthielt diese Aussage einen Vorbehalt. Die Unterzeichner ergänzten ihr Manifest mit dem Zusatz: „Es sei denn, zukünftige Forschung zeigt überzeugend, dass dadurch keine schwerwiegenden Risiken entstehen“. Je nach Kontext könnten sich also auch rote Linien verschieben.
Die Gefahren des Spiegellebens sind keine völlig neue Erkenntnis. Molekulare Chiralität wurde bereits im Jahr 1848 von Louis Pasteur entdeckt, und schon damals wurde über spiegelbildliches Leben spekuliert. 1992 warnten Wissenschaftler in einem Brief an das Wissenschaftsmagazin Science, dass solche Organismen eine „eingebaute Immunität gegen ‚normales‘ Leben“ hätten und forderten, diese Fragen gründlich zu prüfen, bevor man mit entsprechender Forschung beginne. Ähnliche Warnungen erschienen 2010 im Magazin Wired.
Nobelpreisträger warnen
Die Wissenschaftsgemeinde diskutiert also schon lange über dieses Thema. Doch solange die Realisierbarkeit nicht in greifbare Nähe rückte, wurde keine umfassende Risikoabschätzung vor-genommen. Beides hat sich geändert. Im Dezember 2024 veröffentlichten 38 führende Forscherinnen und Forscher aus Brasilien, China, Frankreich, Deutschland, Indien, Japan, Singapur, Großbritannien und den USA eine Analyse in Science, in der sie schwerwiegende potenzielle Risiken von Spiegelleben beschrieben.
Zu den Autoren gehörten zwei Nobelpreisträger sowie sechzehn Mitglieder nationaler Akademien. Die Veröffentlichung wurde von einem 300-seitigen technischen Bericht begleitet, der das Problem darlegte und die erste profunde Risikoanalyse enthielt.
Die Diskussionen in Asilomar und der daraus hervorgehende Appell stützten sich auf die Erkenntnisse dieses Berichts. Ziel des Science-Artikels war es jedoch nicht nur, vor Risiken zu warnen. Die Autoren wollten auch einen konstruktiven Weg aufzeigen. Ihrer Schätzung nach ist die Fähigkeit zur Erschaffung von Spiegelleben noch mindestens ein Jahrzehnt entfernt und würde erhebliche Investitionen sowie technische Innovationen erfordern.
Risiken reflektieren
Daraus ergibt sich ein Zeitfenster, in dem Risiken vorausschauend diskutiert und möglicherweise verhindert werden können. Die Autoren riefen daher alle relevanten Fachgemeinschaften auf, sich kritisch mit ihrer Analyse auseinanderzusetzen – und betonten ausdrücklich, dass sie „weitere Argumente und Belege zum Thema Spiegelleben, die sie möglicherweise noch nicht bedacht hatten“ willkommen hießen.
Der Artikel forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Risiken des Spiegellebens zu reflektieren und geeignete Governance-Mechanismen zu schaffen, die dessen Erschaffung verhindern, ohne sinnvolle Forschung zu behindern. Eine Serie öffentlicher Dialogveranstaltungen soll dabei behilflich sein. Die erste fand im Juni 2025 am Institut Pasteur in Paris statt. Weitere Veranstaltungen sind für September 2025 an der Universität Manchester und im Frühjahr 2026 an der National University of Singapore geplant.
Forschung mit Verantwortung
Das Kollektiv zum Spiegelleben ist ein vorbildliches Beispiel für verantwortungsvolle Wissenschaft. Es hat eine sorgfältige Analyse potenzieller Risiken initiiert, durchgeführt von einem interdisziplinären Expertenteam, publiziert in einer renommierten Fachzeitschrift und ergänzt durch sinnvolle Empfehlungen. Noch dazu wurde ein breites Spektrum von Interessengruppen – Politik, Forschung, Industrie und die Öffentlichkeit – zur Mitwirkung eingeladen.
Wie die Debatte weitergeht, bleibt abzuwarten. Doch die Botschaft aus dem Pariser Dialog war eindeutig: Auf Basis der aktuellen Erkenntnisse überwiegen die Risiken der Schaffung von Spiegelleben die möglichen Vorteile bei weitem – und die internationale Gemeinschaft sollte Maßnahmen ergreifen, um dessen Entstehung entschieden zu verhindern.
Conclusio
Grenzfall. Die Erschaffung von Spiegelleben würde eine dicke rote Linie in der Forschung überschreiten. Solche Organismen wären allen natürlichen Abwehrmechanismen entzogen – mit unvorhersehbaren Folgen.
Verantwortung. Wie schon vor 50 Jahren bei der Asilomar-Konferenz rückt die Frage in den
Fokus, welche Forschung nicht nur möglich, sondern auch vertretbar ist. Wissenschaft braucht klare ethische Leitplanken.
Risikoabschätzung. Spiegelleben ist zumindest für einige Jahre noch nicht Realität – das eröffnet ein Zeitfenster für vorausschauende Regulierung. Jetzt ist der Moment, Risiken ernst zu nehmen und
entschlossen gegenzusteuern.