Stadt der Zukunft
Viele Städte Europas wachsen rasch – doch ihre Bewohner werden immer unzufriedener. Die Gründe sind vielfältig. Was braucht die Stadt der Zukunft?
Es waren einmal zwei visionäre Bauprojekte. Sie entstanden zur selben Zeit, unter demselben Bauherrn, mit ähnlich großem architektonischem Enthusiasmus und ausreichend finanziellen Mitteln. Die beiden Kommunalbauten stehen nun seit fast 50 Jahren in Sichtweite zueinander, aber ihre Geschichte könnte unterschiedlicher nicht sein: Der Wiener Wohnpark Alterlaa mit seinen bis zu 27 Stockwerken hohen Wohntürmen wurde bei seiner Eröffnung von führenden Architekten wie Gustav Peichl und Roland Rainer als Ausgeburt des Brutalismus kritisiert, zeigt aber bis heute die höchsten Zufriedenheitswerte unter seinen Bewohnern. Die Gemeindeanlage Am Schöpfwerk wurde einst für architektonische Empathie und Vielfalt gefeiert, heute ist sie ein sozialer Brennpunkt mit hoher Fluktuation unter den Mietern.
Das Beispiel zeigt, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse in der Stadtplanung sein kann, selbst unter besten Voraussetzungen. Expertenmeinungen können weit auseinandergehen, und manche Prognose erweist sich nach einigen Jahren als schlichtweg falsch. Solche Unsicherheiten plagen Stadtplaner, die allein in Österreich einiges abzuarbeiten haben: zu viel Beton in der Wiener Seestadt Aspern, zu wenig soziales Leben im Wiener Nordbahnviertel, der Schwund an Grünflächen durch Nachverdichtung in Graz, investorenhörige Konzepte in Linz oder der völlig misslungene Verkehrsplan für Salzburg.
Städte sollten das stein- und betongewordene Ideal vom guten Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum darstellen. Doch sie sind schwer zu planen und noch schwerer zu entwickeln. Neue Konzepte sollen helfen, sie zukunftsfit und lebenswert zu machen.
Best Practice
Der Wiener Wohnpark Alterlaa wurde bei seiner Eröffnung von prominenten Architekten angefeindet, erreicht aber 50 Jahre später noch immer sehr hohe Zufriedenheitsraten bei den Bewohnern.
Worst Practice
Zeitgleich entstanden in Sichtweite die Wohnanlagen „Am Schöpfwerk“ im 12. Wiener Gemeindebezirk, die sich zum sozialen Brennpunkt mit hoher Fluktuation unter den Mietern entwickelt hat.
Geliebt, gehasst
Tatsache ist, dass es die Menschen mit geradezu magischer Anziehungskraft in die Städte zieht, sie dort aber nicht unbedingt glücklicher leben. Das gilt im reichen Österreich, und es gilt noch mehr in den Slums von Lagos, Jakarta oder Mumbai, wo die Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen leben müssen.
Im SORA-Städtebarometer aus dem Jahr 2022 gaben die Befragten an, dass sie die Lebensqualität in Städten für schlechter einschätzten als jene auf dem Land. Vor allem bei Attributen wie „kinderfreundlich“, „seniorenfreundlich“, „frauenfreundlich“, „sauber“, „umweltfreundlich“ und „leistbar“ schneiden kleinere Gemeinden besser ab.
Selbst unter optimalen Bedingungen versagt die Stadtplanung also bei ihrem Vorhaben, die Bewohner zufriedenzustellen. Dabei darf gerade Wien als geradezu vorbildlich gelten, liegt die Hauptstadt in Rankings der weltweit lebenswertesten Städte doch stets ganz vorn.
Aber eine Vielzahl von Einzelinteressen, ein zunehmend schwindender gesellschaftlicher Konsens und nicht zuletzt politische Geplänkel legen immer öfter die Grenzen der Machbarkeit offen.
Die Vergangenheit zeigt, dass beim Thema Stadtplanung viel auf dem Spiel steht. Wenn es richtig schiefläuft, kann das soziale Gefüge außer Kontrolle geraten, wie es etwa in der deutschen Trabantenstadt Kölnberg passierte: Ursprünglich geplant als Luxusquartier für Besserverdienende am Stadtrand von Köln, sorgten zu wenig Infrastruktur und eine schlechte Verkehrsanbindung dafür, dass die erwünschten Mieter ausblieben. Stattdessen zogen eher finanzschwache Familien ein. Heute liegt der Migrantenanteil bei über 60 Prozent, und die Hochhausanlage gilt als sozialer Brennpunkt, der von Drogen, Gewalt und Perspektivlosigkeit beherrscht wird.
Manchmal muss die Politik kapitulieren und ganze Stadtteile wieder abreißen (siehe Geschichte der Stadtplanung). Läuft es dagegen gut, entstehen blühende Viertel mit hoher Lebensqualität wie etwa in den sogenannten Superblocks in Barcelona.
Worauf bei der Stadt der Zukunft zu achten ist
Die Aufgaben der Stadtplaner und Architekten waren bereits in der Vergangenheit komplex, nun gilt es auch noch die aktuellen Problemstellungen zu berücksichtigen. Bodenverbrauch, Wasserhaushalt, Hitzeschutz, Energieeffizienz, Gentrifizierung, sich wandelnde Altersstruktur, Verkehrswende und soziale Integration von Migranten: Die Stadt von morgen muss sich um viele Baustellen zugleich kümmern.
Wie funktioniert Stadtplanung? Was darf bleiben, was muss gehen? Lässt sich überhaupt noch ein allgemeiner Konsens für das Gemeinwohl finden? Wir haben Experten um Antworten auf die wichtigsten Fragen gebeten.
Wie funktioniert Stadtplanung überhaupt?
Rüdiger Lainer darf als einer der führenden Experten des Landes bezeichnet werden. Er war Vorsitzender des Fachbeirats für Stadtplanung unter anderem von Wien und Graz. Aus seinem Architekturbüro stammt das Konzept für einen intensiv begrünten, zentralen Freiraum in der Seestadt Aspern – das zu seinem großen Missfallen nur zum Teil umgesetzt wurde. Er steckt zunächst einmal sein Fachgebiet ab:
„In der Öffentlichkeit herrscht ein generelles Missverständnis: Stadtplanung ist kein architektonischer Entwurf, sondern die Steuerung eines Entwicklungsprozesses. Wir Architekten können eigentlich nur Regeln festlegen, die soziale und räumliche Qualitäten erzeugen. Das historische Erbe einer Stadt, die vielen Facetten, die gewachsenen Unterschiede zwischen den Bezirken und Vierteln lassen sich nicht auf dem Reißbrett entwerfen. Deshalb muss diese Substanz geschützt werden. Der Grundgedanke einer hohen Differenzierung kann aber auf Neubaugebiete übertragen werden, was leider nicht immer passiert.
Viele Projekte sind zu starr strukturiert, es fehlt an Abwechslung im Volumen und in den Gebäudehöhen. Es geht um das Spiel mit Dichte und Offenheit, introvertierten und extrovertierten Zonen. Gelingt das, kann ein Stadtgefüge entstehen, das auch jene interessanten Widersprüchlichkeiten generiert, die wir an historischen Städten so schätzen.“
Was macht eine lebenswerte Stadt aus?
Adrienne Grêt-Regamey leitet das Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung an der ETH Zürich und ist Mitglied des Schweizer Wissenschaftsrats. Die Expertin hat eine überraschende Antwort, die weniger von architektonischen Details als von Emotionen bestimmt wird.
„Wohnqualität hat viel mit Heimatgefühl zu tun. Es geht nicht nur um die Form und Funktion von Orten, sondern auch um deren Wahrnehmung. Ein Problem ist, dass viele Wohnquartiere heute überall gleich aussehen. In einer Wohnhausanlage weiß man nicht, ob man sich in Berlin, Wien, Brüssel oder Zürich befindet. In ganz Europa hat eine Homogenisierung der Stadtbilder stattgefunden. Ähnliche Materialien werden in standardisierte Bauformen eingesetzt. Aber unsere Forschung zeigt: Je gleichförmiger eine Umgebung, desto weniger Menschen werden bereit sein, sich in der Quartierentwicklung zu engagieren.
Dabei ist die persönliche Verantwortung für die Entwicklung eines Ortes enorm wichtig. Ein Investor kann technisch alles richtig machen; wenn dann die Menschen fehlen, die diese Möglichkeiten nutzen, wird das Projekt trotzdem scheitern. Ohne persönlichen Bezug entsteht kein Heimatgefühl.“
Warum geht vieles schief?
Reißbrettideen funktionieren in der Realität also nur bedingt. Zudem dauert die Entwicklung neuer Viertel Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Jedenfalls zu lange, um mit dem rapiden Wandel der Gesellschaft mitzuhalten. Rüdiger Lainer:
„Es ist wichtig, eine gewisse Variabilität vorwegnehmen und zuzulassen. Die Zeiten ändern sich rasant, es wird immer schwerer vorhersehbar, was in fünf oder zehn Jahren sein wird. Bestes Beispiel sind die Veränderungen, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben haben. Der Homeoffice-Boom wird langfristig großen Einfluss auf die Anforderungen an den Wohnraum und den Büroflächenbedarf haben.“
Auch die Politik spielt eine entscheidende, aber nicht immer positive Rolle. In Frankfurt haben Politiker aus unterschiedlichen Lagern mit einer Mischung aus Sendungsbewusstsein und Größenwahn das Milliardenprojekt Europaviertel zum Kippen gebracht. Wie so oft, wenn wissenschaftliche Fakten auf Ideologie treffen, besteht das Risiko, dass die These des amerikanischen Ökonomen Thomas Sowell eintritt: „Es gibt kaum eine dümmere und gefährlichere Art, Entscheidungen zu treffen, als sie in die Hände jener zu legen, die den Preis nicht zahlen müssen, wenn sie falsch liegen.“
Aber ist dadurch der gewerbliche Wohnbau der öffentlichen Hand über legen? Nicht unbedingt. Während in Wien der soziale Wohnbau eine lange Tradition hat, wurden in Berlin die DDR-Plattenbauten an private Gesellschaften verkauft, was aufgrund mangelnder Initiative und Investitionen zu Wohnungsnot und langsamer Verslumung führte.
Ernst Gruber ist Architekt, lehrt an der Technischen Universität Wien und führt gemeinsam mit Daniela S. Fiedler wohnbund:consult, ein Büro für Stadtentwicklung:
„Eine Studie zum Niveau des gewerblichen Wohnbaus in Wien hat er geben, dass es stark auf die Instrumente der Qualitätssicherung ankommt. Höflich formuliert tendiert der Markt zum Mittelmaß. Die wenigsten bauen mit mehr Qualität als unbedingt notwendig. Es kommt also auf die Rahmenbedingungen an. Wenn für gewerbliche und gemeinnützige Bauträger ähnliche Standards gelten, können sich die beiden Systeme gut ergänzen.“
Allerdings lässt sich kaum vermeiden, dass die guten sozialen Absichten von den Kräften des freien Markts konterkariert werden. Matthias Groß leitet das Department für Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig:
„An unserem Institut ist der empirische Nachweis gelungen, dass gut gemeinte Begrünungen und andere Aufwertungsmaßnahmen in Gebieten der unteren sozialen Schichten dafür sorgen, dass eine ungewollte ‚grüne‘ Gentrifizierung stattfindet. Die höhere Attraktivität sorgt dafür, dass vorbehaltlos positiv gedachte Maßnahmen zu neuer sozialer Ungerechtigkeit führen können.“
Kurz: Besserverdienende Bewohner verdrängen sozial schwächere, sorgen aber für stabilere Wohngemeinschaften. Damit wäre auch der Großteil der Unterschiede unseres Eingangsbeispiels Alterlaa / Am Schöpfwerk erklärt. Außerdem nimmt die Genossenschaftslösung von Alterlaa die Bewohner direkt in die Verantwortung. Allein aufgrund der Migrationsproblematik wird die soziale Durchmischung von Groß anlagen zu einem immer schwieriger zu lösenden Kernproblem. Wenn die Stimmung kippt, flüchten jene, die es sich leisten können. Matthias Groß stellt allerdings das Dogma der sozialen Durchmischung infrage:
„Gruppenbildung muss per se nichts Schlechtes sein. Manchmal ist es besser, wenn unterschiedliche Gruppen für sich leben, solange genügend gegenseitiger Respekt vor der Lebensweise der anderen vorhanden ist. Aber auf die Migration der letzten Jahre waren wir einfach nicht vorbereitet. Das war ein Fehler. Man kann nicht x-beliebige Menschen ins Land lassen und ihnen dann vorwerfen, dass sie ihresgleichen suchen.
Es ist auch nachvollziehbar, dass sie versuchen, ihre Vorstellungen von Kultur und Recht zu leben, weil sie ja gar nichts anderes kennen. Das wusste man vorher, hat es aber ignoriert. Deshalb ist es jetzt wichtig, das Tempo der Integration deutlich zu erhöhen, und das fängt bei jüngeren Migranten bei der Schulbildung an, aber auch allgemein hinsichtlich der Bildung aller Migranten.“
Müssen wir die Städte neu bauen?
Eine naheliegende Frage, angesichts der Problemstellungen des modernen Wohnbaus. Fakt ist, dass die historisch gewachsenen Stadtkerne nur unzureichend auf die Energiewende und die künftig wohl öfter auftretenden Wetterextreme vorbereitet sind. Der Architekt Ernst Gruber meint dazu:
„Manchmal wird die Stadtplanung von der Zeit überholt. Die Herausforderungen durch den Klimawandel waren vor 15 Jahren bei weitem noch nicht so konkret, wie sie es heute sind, zum Beispiel die Überhitzung der öffentlichen Flächen und die deutlich größeren Wassermengen bei Stark regen. Hier muss nachgebessert werden, was ja auch passiert.“
Eine der bereits bewährten Gegenmaßnahmen ist das Konzept der Schwammstadt, das in einigen österreichischen Gemeinden wie St. Pölten oder Dornbirn bereits umgesetzt wird. Dabei wird versucht, die Oberflächen so zu gestalten, dass das Regenwasser zum Großteil versickern kann und nur ein geringer Teil in der Kanalisation verloren geht. Als weiterer positiver Aspekt verbessert sich das Stadtklima durch eine dichtere Begrünung und deren ausgleichende Wirkung.
Zahlen & Fakten
Schwamm drunter
Das Prinzip der Schwammstadt hilft, Trockenheit, Starkregen und Hitze besser zu bewältigen.
Statt das Regenwasser abzuleiten, wird es in einem neu geschaffenen Unterbau des öffentlichen Bereichs gespeichert. So wird die Gefahr von Überflutungen vermindert und das Mikroklima verbessert.
Die Gebäudestruktur ließe sich allerdings nur mit sehr hohem Aufwand an die aktuellen Standards von Energieverbrauch und Wohnkomfort anpassen. Hier wäre grundsätzliches Umdenken gefragt, meint Rüdiger Lainer:
„Die gewachsene Bausubstanz ist besser als ihr Ruf. Eine Außendämmung kommt in vielen Fällen nicht infrage, weil damit jede Stadt ihr historisches Gesicht verlieren würde. Innendämmung ließe sich nur in leer stehenden Gebäuden verwirklichen, wo dann vermutlich ein Abriss rentabler wäre. Deshalb muss das Thema Sanierung weniger technokratisch und mehr als System gesehen werden. Das Ziel dürfen nicht nur maximale Dämmwerte sein, sondern auch innovative An sätze, wie etwa die benötigte Wärme ressourcenschonend mittels Fern wärme, PVAnlagen oder Wärmepumpen zu erzeugen.“
Werden unsere Städte immer voller und enger?
650.000. Um diese Zahl an Menschen ist Österreichs Bevölkerung in den letzten zehn Jahren gewachsen. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Graz, Linz und Salzburg zusammen, der drei nach Wien größten Städte des Landes. Und der Löwen anteil dieses Wachstums findet in den Städten statt.
Mehr Menschen brauchen mehr Platz, Expansion ist also notwendig. Im Weg stehen allerdings lauter werdende Diskussionen über städtische Öko systeme und Bodenverbrauch. Außerdem muss heute nahezu jedes Neubauprojekt mit bremsenden Bürgerinitiativen rechnen. Ist gesundes Wachstum in den Städten überhaupt noch möglich? Die Schweizer Expertin Adrienne Grêt-Regamey:
„Eine der wichtigsten Herausforderungen der Zukunft besteht darin, die vorhandenen Stadtgebiete effizienter zu nutzen, damit nicht noch mehr Bodensubstanz verbraucht wird. Zuerst müssen Siedlungen optimiert werden, etwa durch Aufstocken oder mehr Flexibilität innerhalb des Bestandes. Unsere Gesellschaft wird älter, und vielleicht ist man ab einer gewissen Lebensphase in einer kleineren Wohnung sogar glücklicher. Ziel wäre, eine Verdichtung bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensqualität zu schaffen.“
Luft nach oben gebe es durchaus, wie ein Vergleich zeigt: Die Bevölkerungsdichte von Manhattan ist sechsmal höher als in Wien und elfmal höher als in Graz. Klar: Wien kann nicht Manhattan werden. Dennoch wird noch immer zu verschwenderisch mit den knappen Platzressourcen umgegangen. Daniela S. Fiedler von wohnbund:consult:
„Stadtentwicklung ist nie fertig. In der Aufwertung des Bestandes stecken mindestens ebenso große Chancen wie in Neubauquartieren. Ein gutes Beispiel sind monofunktionale Einkaufszentren in Gemeinden oder die Schuhschachtelfilialen von Lebensmittelketten in den Außenbezirken, die viel Platz einnehmen. Auf der gleichen Fläche könnten Geschäfte mit Wohnungen darüber entstehen, was zusätzlich die Erdgeschoßzone beleben würde. Gemischt genutzte Strukturen sind komplexer, haben aber auch viele Vorteile, die von Investoren noch zu entdecken sind.“
Brauchen Städte mehr Chaos?
Die Politik reagiert auf Schwierigkeiten jeglicher Art gern mit noch mehr Bürokratie und zusätzlichen Vorschriften. Im Bauwesen führte dies zu überlangen Planungsphasen und einer enormen Verteuerung von neuen Projekten. Stadtplaner Rüdiger Lainer:
„Es bräuchte fantasievollere Lösungen, um e!zient bauen zu können, als das missionarische Aneinanderreihen von Vorschriften. Es existiert inzwischen kaum noch Raum für architektonische Experimente.“
Der Stadt- und Umweltsoziologe Matthias Groß vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig sieht darin eine klare Fehlentwicklung:
„Ich glaube nicht, dass sich Fehler in der Stadtplanung grundsätzlich vermeiden lassen, dazu ist das Thema viel zu komplex. Zusätzlich ist die Entwicklung und Eigendynamik des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht vorausberechenbar. Ohne Planung läuft natürlich nichts, aber danach sollte man akzeptieren, dass Stadtplanung ein permanenter, experimenteller Prozess ist, bei dem nicht immer sofort klar ist, was in Zukunft als Gut oder Böse angesehen wird. Vorbereitet sein auf das Scheitern und ein wenig eingepreistes Chaos sollten eigentlich schon Teil des Planes sein.“
Eine logisch und vernünftig klingende These. Aber welcher Politiker hätte den Mut, dies offen anzukündigen, und wie wäre das Medienecho darauf?
Zahlen & Fakten
Ist die ideale Stadt überhaupt realisierbar?
Die klare Antwort lautet: nein. Dazu fehlt heute der gesellschaftliche Konsens zu den wichtigsten Themen. In einer zunehmend technik- und fortschrittsfeindlichen Atmosphäre driften die Meinungen über und die Anforderungen an die Stadt der Zukunft weit auseinander. Planung und Genehmigungen dauern immer länger. Die jüngere Vergangenheit zeigte, dass selbst für eine gesamte Region wichtige Infrastrukturprojekte über Jahrzehnte durch kleine und kleinste politische Gruppen blockiert werden können.
Ernst Gruber, der auch als Dozent an der TU Wien tätig ist, erzählt aus der inzwischen üblichen Praxis von städtebaulichen Großprojekten:
„Es gibt kaum ein Stadtentwicklungsprojekt, das nicht sofort eine oder gar mehrere Bürgerinitiativen hervorruft, um den Bau zu ver hindern. Letztlich stellt sich die Frage, inwieweit es legitim ist, wenn Einzelpersonen versuchen, den Bau von hunderten Wohnungen zu verhindern. Allerdings ist auch die Politik gefordert, vorhandene Flächen besser zu nutzen, bevor man neue Projekte beginnt.“
Widerstände aller Art und aus jeder Richtung werden also die Stadtplanung der Zukunft enorm beeinflussen – und zwar eher nicht im positiven Sinn. Alle Experten sind sich einig, dass die Mitsprache der betroffenen Bevölkerung wichtig ist, allerdings rücken die Grenzen des sinnvollen Diskurses näher.
In Sachen Mitsprache sieht der Soziologe Matthias Groß aber auch kaum überwindbare Grenzen:
„Die Diskussion ist ein wichtiger Teil der Demokratie. Es hat aber eine Romantisierung und Verklärung der Mitsprachemöglichkeiten stattgefunden. Wir leben heute in einem permanenten gesellschaftlichen Suchprozess, der den meisten Menschen keine Freude bereitet. Dieser Umstand trifft das Thema Stadt planung mit voller Wucht. Hier fließen die Interessen und Bedürfnisse der verschiedensten sozialen Schichten und Kulturen zusammen. Und durch die Mi gration und die Überalterung werden diese Prozesse noch beschleunigt.“
Wie sehen denn gute Beispiele aus?
Ja, es gelingen auch Stadtviertel, die ganz nah am Ideal des urbanen Paradieses liegen. Europaweit gelten die Superblocks von Barcelona als Best- Practice-Beispiele. In Wien-Favoriten entsteht bereits ein Viertel nach diesem Vorbild, hier Supergrätzel genannt. Allgemein versteht man darunter bereits existierende Stadtviertel, die sich durch Verkehrsberuhigung und mehr Aufenthaltsqualität von anderen abheben. Die Expertin Adrienne Grêt-Regamey von der ETH Zürich:
„Superblocks haben viele Vorteile. In einem überschaubaren Bereich von wenigen Straßenzügen wird alles abgedeckt, was die Einwohner zum Leben brauchen. Dabei spielen Kleinhandel und -gewerbe eine wichtige Rolle. Innerhalb der Blocks wird der Autoverkehr durch Einbahnsysteme und Durchfahrtsverbote stark eingeschränkt. Die gewonnenen Flächen werden für Begegnungszonen und zur Begrünung genutzt.“
Vielleicht ist das ja die Stadt der Zukunft: Superblocks als eng beieinanderliegende Kleinstädte. Dann wäre die soziale Durchmischung, die bisher als erstrebenswert galt, gar nicht mehr so wichtig. Ein starkes Heimatgefühl und kulturelle Vielfalt könnten innerhalb des eigenen Viertels entstehen. Und die andersdenkende, hoffentlich respektierte Nachbarschaft wäre nur einen Straßenzug entfernt. Neben allen anderen Vorteilen des Konzepts.