Landkarten der versuchten Auslöschung

Die Sowjetunion wollte die Krymtataren nicht nur physisch, sondern auch symbolisch auslöschen, indem sie Ortsnamen auf der Krym umschrieb.

Volodymyr Donatovych Orlovskyi (1842-1914), Die Krym, Berglandschaft mit Fluss, 1868. Orlovskyi stammte aus Kiew und malte für die Petersburger Aristokratie, die die Krym als mythischen Sehnsuchts- und Touristenort für sich entdeckt hatten. Krymtataren in traditoneller Kleidung sollen in dieser Darstellung die Idylle folkloristisch verstärken.
Volodymyr Donatovych Orlovskyi (1842-1914), Die Krym, Berglandschaft mit Fluss, 1868. Orlovskyi stammte aus Kiew und malte für die Petersburger Aristokratie, die die Krym als mythischen Sehnsuchts- und Touristenort für sich entdeckt hatte. Krymtataren (eine Frau mit Kind) in traditioneller Kleidung sollen in dieser Darstellung die Idylle folkloristisch verstärken. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Symbolisch. Unter Stalin begann in den 1940er Jahren eine Russifizierungskampagne auf der Krym. Die Umbenennung von Orten war ein Teil davon.
  • Politisch. Die politische Wirksamkeit der Politik mit der Sprache hängt davon ab, wie wissend und kritisch die Gegenwart ist – und von konkreten politischen Interessen.
  • Vieldeutig. Landkarten sind vieldeutige Quellen, eingeschrieben ist die Geschichte. Im Fall der Krym, die Geschichte einer Russifizierung.
  • Unvollständig. Trotz der wiederholten Vertreibungen ist die Auslöschung der krymtatarischen Kultur nicht vollständig gelungen. Die Spuren sind immer noch da.

Krym – ein Name, der 2014 in die internationalen Schlagzeilen geriet und heute den Beginn des militärischen Krieges von Russland gegen die Ukraine markiert. Nur wenige Orte stehen in ähnlicher Weise für geopolitische Spannungen wie diese Halbinsel an der Nordküste des Schwarzen Meeres.

In Gurzuf an der Küste, circa 1909. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Geschichte der Krym und die Krymtataren.
In Gurzuf an der Küste, circa 1909. © Getty Images

Wäre die Geschichte der Krym ein Buch, so wären nur sechs Prozent davon Teil eines russischen Kapitels und dennoch ist der Mythos von der Krym als „urrussischem“ Gebiet so stark, dass er einige westliche Politiker dazu verleitet, sich für die Anerkennung der Krym als russisches Gebiet einzusetzen.

2018 zum Beispiel erklärte der damalige US-Präsident Donald Trump gegenüber den Staats- und Regierungschefs der G7: „Die Krym ist russisch, weil jeder, der dort lebt, russisch spricht.“ Fast sieben Jahre später betrat Trump erneut das Weiße Haus mit einer kühnen Erklärung, den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden zu beenden – eine Frist, die sich bald auf 100 Tage und dann auf sechs Monate verlängerte. Die Frage bleibt: Wird sich seine Sichtweise auf die Krym ebenso schnell ändern wie seine Zeitvorgaben für die Beendigung des Krieges?

Marine Le Pen erklärte in ähnlicher Weise: „Die Krym war immer russisch“, während Matteo Salvini bestritt, dass das Referendum von 2014 eine Fälschung war, und behauptete, es gebe „historisch russische Gebiete mit russischer Kultur und Tradition“.
 
Abgesehen von der naheliegenden Frage, warum die Ukraine ihre rechtmäßigen Gebiete aufgeben sollte und aus welchen Gründen sie international als russisch anerkannt werden sollten, scheint es ebenso folgerichtig zu fragen: Warum finden diese Behauptungen überhaupt so großen Anklang?

Landkarten der Macht

Landkarten sind in der Politik mehr sind als Geografie – sie sind Werkzeuge einer Erzählung. Schauen wir genauer hin: Welche Sprache spricht die Landkarte der Krym? Es ist russisch. Die Namen von Orten und Gegenden scheinen die russischen Behauptungen zu belegen, während die wichtigste Bevölkerungsgruppe der Halbinsel zum Schweigen gebracht ist: die Krymtataren, die dieses Land seit Jahrhunderten ihr Zuhause nennen.

Ein tartarisches Mädchen. Das Foto erschien in dem Band Peoples of the World in Pictures von Harold Wheelers. Das Foto-Projekt sollte die Vielfalt der Menschheit zeigen. Es wurde 1936 in London publiziert.
Ein tartarisches Mädchen auf der Krym. Das Foto erschien in dem Band Peoples of the World in Pictures von Harold Wheelers. Das Foto-Projekt sollte die Vielfalt der Menschheit zeigen. Es wurde 1936 in London publiziert. © Getty Images

Vor dem Hintergrund der Verhandlungen über einen Waffenstillstand steht auch die Frage der Zukunft der Krym wieder im Raum. Wenn Moskau und Washington Kiew bei diesen Gesprächen außen vor lassen, was bedeutet dies für die ursprünglichen Einwohner der Krym, die seit Jahrhunderten unter der Verfolgung durch die kolonisierenden Moskauer Behörden leiden? Was bedeuten die Zugeständnisse, auf denen die USA so kühn beharren, für sie? Bedeutet es, dass diese ethnische Gruppe letztendlich in Vergessenheit geraten wird?

Um sich in diesen Gesprächen zurechtzufinden, ist es wichtig, die historischen Entwicklungen zu verstehen, die die heutige Realität der Krym geprägt haben. Dabei bleiben die Stimmen der Krymtataren zumeist ungehört.

Die heutigen Ortsnamen der Krym wurden durch die sowjetische Politik der gezielten Auslöschung von ursprünglichen Toponymen in die Landschaft eingebrannt. In den 1940er Jahren wurde so der größte Teil der Geschichte der Halbinsel zum Verstummen gebracht. Doch wie wurde die Geographie der Krim zu einem Instrument der Auslöschung und Manipulation?

Kampf um Identität

Die Krymtataren, eine türkischsprachige, sunnitische muslimische Gruppe, können ihre Wurzeln auf der Halbinsel bis in die vormongolische Zeit zurückverfolgen – trotz sowjetischer Erzählungen, die sie als Außenseiter darzustellen versuchten.

Ihre Identität als eigenständige ethnische Gruppe wurde während des Krym-Khanats gefestigt, einem Staat, der ab dem 15. Jahrhundert florierte. Im 18. Jahrhundert jedoch nahm die Geschichte der Krymtataren eine dunkle Wendung, als das Krym-Khanat zunächst vom Russischen Reich besetzt und später annektiert wurde. Die tatarische Verwaltung wurde vertrieben, ihr Land wurde beschlagnahmt, und viele Tataren wurden in die Leibeigenschaft gezwungen. Verwüstungen, Hungersnöte und erzwungene Auswanderung führten dazu, dass sie in ihrer Heimat zu einer Minderheit wurden.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebten die Tataren der Krym einen kurzen Aufschwung, als 1921 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Krym gegründet wurde. Zu dieser Zeit machten sie noch 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung aus, und ihr Einfluss auf die Namen der Orte der Halbinsel war nach wie vor groß: Über 80 Prozent der Ortsnamen spiegelten ihre Kultur und Sprache wider.

Die deutsche Wehrmacht in Jalta im November 1941. Zwei Soldaten blicken auf die Bucht von Jalta. Einer der beiden deutet Richtung Meer. Auf der Krym verübten SS und Wehrmacht grausame Massaker. In der Ukraine wurden fünf Millionen Menschen Opfer der Besatzung, 1,5 Millionen davon Juden und Jüdinnen. Der „Generalplan Ost“ von 1942/43 sah die Vertreibung von 60 Millionen Menschen und die Ausbeutung der Rohstoffe, insbesondere von Kohle und Öl, vor. „Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt“, formulierte Adolf Hitler. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Geschichte der Krym.
Die deutsche Wehrmacht in Jalta im November 1941. „Die Schönheit der Krim, uns erschlossen durch eine Autobahn: der deutsche Süden. Wir werden ein Getreide-Exportland sein für alle in Europa. In der Krim haben wir Südfrüchte, Gummipflanzen, Baumwolle. Die Pripjet-Sümpfe geben uns Schilf. Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt“, formulierte Adolf Hitler. In der Ukraine wurden fünf Millionen Menschen Opfer der Besatzung, 1,5 Millionen davon Juden und Jüdinnen. Der „Generalplan Ost“ von 1942/43 sah die Vertreibung von 60 Millionen Menschen vor. © Getty Images

Während des Zweiten Weltkriegs beschuldigten die sowjetischen Behörden die Krymtataren zu Unrecht der massenhaften Kollaboration mit den Nazis, obwohl sie einen bedeutenden Beitrag zur Roten Armee leisteten.

Da die Krymtataren historisch gesehen der Türkei nahe standen, glaubten die sowjetischen Behörden, dass die Halbinsel zu einem Landekopf für einen möglichen Zusammenstoß werden könnte. Aus Angst vor Saboteuren und Verrätern unter den Tataren veranlasste Stalin 1944 deren Massendeportation.

Über 238.500 Tataren wurden gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. Die Familien hatten weniger als eine Stunde Zeit, um ihre Sachen zu packen, und wurden unter entsetzlichen Bedingungen in die östlichen Regionen der Sowjetunion transportiert. Fast die Hälfte von ihnen starb innerhalb der ersten Jahre an Hunger, Krankheiten und den brutalen Lebensbedingungen.

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Zahlen & Fakten

Eine belebte Promenade in Jalta am Schwarzen Meer. Viele Menschen gehen in Sommerkleidung, blicken auf das Meer und essen Eis.
Die Promenade in Jalta in den 1970er Jahren. © Getty Images

Eine sehr kurze Geschichte der Krym

  • Von Skelett-Funden in der Nähe von Semferopol, in der Kiik Koba Höhle, weiß man, dass das Gebiet seit mindestens 73.000 Jahren besiedelt ist. Von griechischen Siedlungen an den Küsten sind heute noch Ruinen erhalten, zum Beispiel Chersonesos und Pantikapaion – diese wurden wie die meisten Städte bzw. Siedlungen auf der Krym nicht von den Griechen gegründet, sondern durch die von den Griechen als „Skythen“ bezeichneten Gruppen. Mythologische Namen der Krym sind Tavria, Tauris beziehungsweise Taurien. Immer wieder versuchte man, diese Bezeichnungen wiederzubeleben, was aber nie gelang.
  • Teile der Krym gehörten kurzfristig zur Peripherie des Römischen Reiches, Hunnen wie Goten siedelten sich an oder zogen durch. Alle hinterließen Spuren.
  • Die Krym von Byzanz war multireligiös: Es gab bald jüdische, später christliche und noch später auch muslimische Gemeinden. Im 13. Jahrhundert bestimmte die Goldene Horde über die Krym, nach ihrem Zerfall entstand um 1430 das Krym-Khanat der Krym-Tataren, das weite Teile der heutigen Ukraine umfasste, 1475 aber ein Vasallenstaat des Osmanischen Reichs wurde.
  • Erst im 18. und 19. Jahrhundert setzten Versuche der Homogenesierung der bunten Krym ein. Katharina II. erklärt nach dem russisch-türkischen Krieg die Halbinsel 1783 als russisch. Die Physiokratin treibt Militarisierung und Industrialisierung, insbesondere von der Landwirtschaft, voran. Ihre Politik verdrängt die Tataren durch Anwerbung von Italienern, Griechen und Bulgaren.
  • 1918, nach 1. Weltkrieg und Oktoberrevolution, erklärt sich die Ukraine für unabhängig, auf der Krym regiert kurzfristig eine provisorische Regierung. 1921 wird die Ukraine in die UdSSR eingegliedert.
  • Zwischen 1941 und 1944 ermordeten die deutsche Wehrmacht und SS mit Unterstützung der rumänischen Verbündeten die gesamte jüdische Bevölkerung der Halbinsel sowie Sinti und Romni.
  • 1944 und 1945 ordnete Stalin die Deportation von 200.000 Krym-Tartaren in den Osten der Sowjetunion. Das Trauma heißt in der kollektiven Erinnerung sürgün.
  • Die Krym erhielt innerhalb der Ukraine eine gewisse Autonomie. 1992 verabschiedete das Parlament eine eigene Verfassung. Der Hafen von Sewastopol wurde 1997 auf zehn Jahre an die Russische Föderation verpachtet – und spielt eine Rolle in diversen Gasstreits.
  • 2014 annektiert Russland das ukrainische Territorium und schafft das Parlament ab.

Nach der Deportation blieb die Mehrdeutigkeit: Mehr als 90 Prozent der Ortsnamen waren krymtatarischen Ursprungs, architektonische Zeugnisse und andere Artefakte der materiellen Kultur waren erhalten geblieben, und die Krymtataren und ihre Sprache blieben im Gedächtnis ihrer Nachbarn un der Bevölkerung erhalten.

All dies war verwirrend für die Kolonisten, die gerade erst auf der Krym angekommen waren. So sahen sich die sowjetischen Behörden mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert, die reale Vergangenheit der Krym mit der kommunistischen Propaganda in Einklang zu bringen, und diese Versöhnung fiel natürlich nicht zugunsten der wahren Vergangenheit aus.

Weizen, Panzer, Hermelin

Der nächste Schritt der Auslöschung betraf die einzigen Spuren, die von der einst lebendigen und blühenden Kultur übrig geblieben waren – die Toponyme.
 
In Rekordzeit wurden über 1.300 Ortsnamen geändert, um russische beziehungsweise sowjetische Narrative widerzuspiegeln und das jahrhundertealte tatarische Kulturerbe zu ersetzen. Die Änderung sollte durch die Übersetzung des tatarischen Namens ins Russische erfolgen, aber wenn die Übersetzungen nicht übereinstimmten, wurden neue Namen auf der Grundlage lokaler Merkmale, prominenter sowjetischer Persönlichkeiten oder ideologischer Symbole vergeben.

So wurde beispielsweise das Dorf Kiçkene („Baby“ auf Tatarisch) in Malen'koe („klein“ auf Russisch) umbenannt, während Aqköz („weißes Auge“) zu Beloglazovo wurde. In anderen Fällen wurden tatarische Namen durch phonetisch ähnliche russische Namen ersetzt, wie zum Beispiel Çüyke durch Chaykino („Möwe“).

Als diese Möglichkeiten ausgeschöpft waren, wurden Namen aus dem Bereich der Landwirtschaft und des Militärs gewählt, was zu Orten mit Namen wie Pshenichnoye („Weizen“), Gvardeyskoye („Wachen“) und Tankovoye („Panzer“) führte. Eine beträchtliche Anzahl von Orten wurde mit Begriffen aus dem Standardrepertoire der Sowjetunion neu benannt, wie etwa Leninskoe, Oktyabrskoe (Oktoberrevolution) und Krasnogvardiyskoe (Rote Garde), wodurch die sowjetische Ideologie in der Krymlandschaft verankert wurde.
 
Die Eile mit der die sowjetische Umbenennung der krymtatarischen Toponyme erfolgte, führte zu formelhaften und manchmal willkürlichen Namen. So wurde beispielsweise ein Dorf in Gornostaivka („Hermelin“) umbenannt, obwohl Hermeline auf der Krim nie heimisch waren.

Eine Frau in roter Jacke mit einer roten Plastiktüte in der Hand geht an einer Reihe Soldaten vorbei. Russische Soldaten in Sewastopol am 19. März 2014: Die Annexion der Krym markiert den Beginn des Ukraine-Krieges.
Russische Soldaten in Sewastopol am 19. März 2014: Die Annexion der Krym markiert den Beginn des Ukraine-Krieges. © Getty Images

Eine weitere Folge dieser massenhaften Umbenennung war die Wiederholung von Namen in mehreren Siedlungen. Bis 1960 gab es auf der kleinen Halbinsel fünf Dörfer mit dem Namen Vasilevka, sechs mit dem Namen Shirokoe und sieben mit dem Namen Kalinovka.

Politik der Ortsnamen

Diese systematische Umbenennung war mehr als ein bloßer Verwaltungsakt. Sie war ein gezielter Versuch, die Geschichte neu zu schreiben. Ortsnamen sind mehr als bloße Bezeichnungen; sie sind Träger von Erinnerung, Identität und Kultur. Toponyme können Gemeinschaften mit ihrer Vergangenheit verbinden, das kollektive Gedächtnis prägen und Identität an einem bestimmten Ort verankern.

Durch die Änderung der Namen versuchte das sowjetische Regime, die Verbindung der Krymtataren zu ihrer Heimat zu kappen, und die Verbindung durch ein Narrativ des russischen Besitzes zu ersetzen. Bis 1949 ähnelte die Sprachlandschaft der Krym der des russischen Hinterlandes.
 
Die sowjetische Umbenennung von Straßen, Dörfern und Städten auf der Krym war kein isolierter Akt, sondern Teil einer umfassenderen Strategie in der gesamten UdSSR zur Durchsetzung kommunistischer Ideale. Die neuen Toponyme sollten sowjetische Helden und Ideologen verewigen und die Vision einer „idealen Welt“ verankern. Diese Politik zielte darauf ab, Bewusstsein und Unterbewusstsein der Einwohner zu beeinflussen und die Sprache in ein Propagandainstrument zu verwandeln.
 
Nach Michail Bachtins Konzept der „sozialen Sprache“ tragen Worte die Perspektive derer in sich, die sie nutzen und prägen nicht nur die Kommunikation, sondern auch das Denken. Auf der Krym wurden die neu geschaffenen Namen – durchtränkt mit UdSSR-Narrativen – zu mehr als geografischen Markierungen. Sie verbreiteten auf subtile Weise die sowjetische Ideologie, insbesondere unter den Siedlern, die diese politisierten Namen als Teil ihrer Identität annahmen.
 
Das Ergebnis war eine „Monokultur des Geistes“, in der das reiche und vielfältige Erbe der krymtatarischen Namen ausgelöscht wurde. Nach Ansicht der Namenforscherin Alexandra Superanskaya sind die neuen Namen wissenschaftlich uninteressant, da sie keinen echten toponymischen Wert haben.

Der Kampf um die Rückeroberung der Heimat

Die Massenvertreibung der Krymtataren durch die sowjetischen Behörden löschte die Träger dieser Toponyme aus, so dass die Siedler-Kolonisten mit den einheimischen Namen nicht vertraut waren. Das Ethnonym „Krymtataren“ selbst wurde verboten, und fast 40 Jahre lang wurden sie von Volkszählungen ausgeschlossen. Dies ermöglichte es dem Regime, die Geschichte der Krym seinen ideologischen Zielen anzupassen und stellte die Halbinsel als „urrussisches Land“ dar.

Am 50. Jahrestag der Deportationen 1994. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Geschichte der Krym und der Krymtataren.
Am 50. Jahrestag der Deportationen 1994. © Getty Images

In den späten 1940er Jahren behaupteten offizielle Darstellungen, die Russen hätten die Krym bereits im ersten Jahrhundert nach Christus besiedelt, wobei das Krym-Khanat als aggressiver Nachbar des russischen Reiches dargestellt wurde. Diese Geschichtsrevision legte den Grundstein für die Rechtfertigung der Annexion von 1783 und – Jahrhunderte später – für die Annexion der Krym durch Russland im Jahr 2014.

Als die Krymtataren 1989 endlich in ihre Heimat zurückkehren durften, fanden sie eine ihrer Geschichte beraubte Landschaft vor. Jahre der sowjetischen Auslöschung hatten sie zu Fremden in ihrem Land gemacht. Unter dem Vorwand der Überbevölkerung verweigerten die Behörden ihnen Land und die Registrierung von ihnen erworbener Häuser. In den Städten entstanden Zeltstädte, in denen die Tataren ihr Recht auf ein Leben in der angestammten Heimat auf Spruchbannern einforderten.

Die Rückkehrer mussten ihr Leben von Grund auf neu aufbauen und stießen auf zahlreiche Hindernisse. Als sich ihr Leben normalisiert hatte, wurden die gemachten Fortschritte durch die zweite Annexion der Krym 2014 wieder zunichte gemacht.

Die Krymtataren, die eine pro-ukrainische Haltung einnahmen, waren unter der russischen Besatzung schweren Repressionen ausgesetzt. Ihre politische Vertretung, die Mejlis, wurde als extremistische Organisation verboten, und viele wurden exiliert, inhaftiert oder zum Schweigen gebracht. Durch die Annexion wurden ihre Stimmen weiter an den Rand gedrängt, die kulturelle Auslöschung vertieft und die Dominanz der pro-russischen Narrative auf der gesamten Halbinsel verfestigt.

Nach jahrhundertelanger russischer Kolonisierung wurde die indigene Bevölkerung der Krim zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land. Bis 2024 waren etwa 50 000 Krymtataren gezwungen, die Krim zu verlassen; eine Bewegung, die sich verstärkte, als die russischen Besatzer die Mobilisierung für den Krieg ankündigten. Russland hat 500.000 bis 800.000 seiner eigenen Bürger illegal auf die Halbinsel umgesiedelt, wodurch sich die demographische Zusammensetzung der Halbinsel weiter verändert hat.

Historische Narrative, die die russischen Ansprüche auf die Krym begünstigen, dominieren nach wie vor den akademischen und populären Diskurs in Russland und spielen eine Schlüsselrolle bei der Rechtfertigung der Annexion von 2014.

In seiner berüchtigten Krym-Rede erklärte Wladimir Putin: „Alles auf der Krym spricht von unserer gemeinsamen Geschichte und unserem Stolz (…). Die Gräber der russischen Soldaten, deren Tapferkeit die Krym in das russische Reich brachte, befinden sich ebenfalls auf der Krym (…). In den Herzen und Köpfen der Menschen war die Krim immer ein untrennbarer Teil Russlands.“

Die von den sowjetischen Behörden erzwungene Einführung russischer Toponyme verstärkte diese Behauptungen noch, was die Verbreitung von Erzählungen über die Krym als „urrussisch“ erleichterte und wenig Raum ließ, diese Interpretationen in Frage zu stellen.
 
Der Kampf um die Toponyme der Krim spiegelt allgemeinere Fragen der kulturellen Erinnerung, Identität und Macht wider. Ortsnamen sind mehr als Symbole; sie sind Schlachtfelder historischer Narrative. Die sowjetische Umbenennung der Krym zeigt, wie Sprache als Waffe eingesetzt werden kann, um ein Volk auszulöschen und Geschichte neu zu schreiben.

Wolodymyr Selenskyj bei der Gedenkfeier für die vertriebenen Krymtataren in Kiew am 11. September 2024. Das Datum 1783 ist das Jahr der Annexion des Krym-Khanats durch Katharina II. Das Jahr 1944 ist das Jahr der Vertreibung und Ermordung der Tataren durch Stalin.
Wolodymyr Selenskyj bei der Gedenkfeier für die vertriebenen Krymtataren in Kiew am 11. September 2024. Das Datum 1783 ist das Jahr der Annexion des Krym-Khanats durch Katharina II. Das Jahr 1944 ist das Jahr der Vertreibung und Ermordung der Tataren durch Stalin. © Getty Images

Die Rückgewinnung historischer Namen ist ein Akt des Widerstands gegen koloniale und imperiale Narrative. Es ist ein Schritt zur Anerkennung der Widerstandsfähigkeit der Krymtataren und zur Sicherung ihres Platzes in der Zukunft der Krym.

Während die Weltgemeinschaft über den Status der Krym debattiert, dürfen die Stimmen der einheimischen Bevölkerung und die Namen, die sie ihrer Heimat gegeben haben nicht vergessen werden. Wie der ukrainische Journalist und Wissenschaftler Wachtang Kipiani meint, kann gerade die Wiederherstellung historischer Toponyme die Rechte der Krymtataren auf ihre Heimat verkünden und eine weitere Unterdrückung ihrer Ethnie verhindern.

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Conclusio

Machtpolitik. Ortsnamen können eine Geschichte erzählen, die so nie passiert ist. Daher ist die Umbenennung von Orten, wie sie in den 1940er Jahren auf der Krym geschah, mehr als Symbolpolitik. Sie schafft eine eigene Wirklichkeit.

Realpolitik. Noch heute ist die Umbenennung und Russifizierung von Orten auf der Krym wirksam, da auch westliche Politiker aufgrund von verschiedenen Interessenslagen die so geschaffene Wirklichkeit wissentlich und unwissentlich übernehmen.

Analyse. Um politische Zusammenhänge zu verstehen, ist die Erinnerung an Politiken wie die von Oleksandra Selina beschriebene, zentral. Ansonsten läuft das Urteil der Gegenwart Gefahr, Unrechtsverhältnisse zu perpetuieren.

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