Die Tiefsee – schützen oder ausbeuten?
Die Tiefsee ist ein noch fast unberührter und nahezu gänzlich unbekannter Ort. Die Menschheit muss sich jetzt entscheiden: Soll sie geschützt oder ausgebeutet werden?
Auf den Punkt gebracht
- Einzigartig. Die Tiefsee ist ein einzigartiger Lebensraum, dessen Lebewesen komplexe ökologische Netzwerke bilden, die voneinander abhängen.
- Unbekannt. 95 Prozent der Tiefsee-Ebenen sind dem Menschen gänzlich unbekannt. Erst kürzlich wurde zudem entdeckt, dass es auch in der Erdkruste Leben gibt.
- Unscheinbar. Die Bedeutung der Tiefen der Ozeane als Lebensraum wird oft verkannt. Sie sind aber Ursprung und Grundlage des Lebens auf der Erde.
- Bedroht. Wissenschaftler beeilen sich, das Leben der Tiefsee zu erforschen, bevor der Abbau von Rohstoffen beginnt, der dieses Leben wahrscheinlich zerstört.
Dies ist der dritte Beitrag unseres Schwerpunkts zu den Ozeanen und den Folgen des Tiefseebergbaus – jeden Donnerstag bzw. Freitag im Oktober. Den ersten Beitrag über Ozean und Klima lesen Sie hier, den zweiten über die wirtschaftlichen Risiken des Tiefseebergbaus hier.
Die Tiefsee galt lange Zeit als die letzte unberührte Wildnis unseres Planeten. Doch selbst in diesen entlegenen Tiefen sind die Spuren menschlicher Aktivitäten unübersehbar: Plastikverschmutzung, Fischerei und der Klimawandel setzen den empfindlichen Ökosystemen erheblich zu. In den letzten Jahren ist der mögliche kommerzielle Abbau mineralischer Rohstoffe in der Tiefsee einer Realisierung näher gerückt. Dies wirft die dringende Frage auf: Wie wird diese über lange Zeiträume ungestörte und äußerst fragile Welt der Tiefsee auf den potenziellen Rohstoffabbau reagieren?
Mehr Meer
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Dunkel, kalt, unwirtlich – diese Vorstellungen der Tiefsee erwecken leicht den Eindruck einer leblosen Einöde. Doch die Realität ist eine andere. Bereits ab einer Tiefe von 200 Metern beginnt die Tiefsee, die sich bis zu fast 11.000 Metern Tiefe erstreckt.
Hier, fernab des Sonnenlichts, entfaltet sich eine erstaunliche biologische Vielfalt. Wie auch an Land unterschiedliche Lebensräume existieren – von kargen Wüsten, üppigen Regenwäldern bis hin zu alpinen Berglandschaften – so auch in der Tiefsee. Hier reicht das Spektrum von steil abfallenden Kontinentalhängen und unzähligen Seebergen bis hin zu den extremen Bedingungen der heißen hydrothermalen Quellen.
Selbst die weitläufigen, von Sedimenten bedeckten Tiefseeebenen, die zunächst wie Wüsten erscheinen, offenbaren eine Fülle an Leben. In den tiefsten Regionen unseres Planeten, den Tiefseegräben, haben Organismen bemerkenswerte Anpassungen entwickelt, um in einer Umgebung zu überleben, die von Nahrungsknappheit, immensem Wasserdruck und konstant niedrigen Temperaturen geprägt ist.
Zusammen bilden all diese Lebensräume der Tiefsee-Ebenen ein komplexes und dynamisches Netzwerk – die größte Ökoregion der Erde, die mehr als 60 Prozent der Erdoberfläche einnimmt. Doch gerade auch aufgrund ihrer enormen Größe und Vielfalt bleibt unser Wissen über die Tiefsee sehr begrenzt. Denn trotz modernster Technologien bleibt Tiefseeforschung eine enorme logistische Herausforderung. Bis heute sind weniger als fünf Prozent dieses riesigen Gebiets vollständig erforscht. Diese Wissenslücken erschweren es, die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Biodiversität der Tiefsee angemessen zu bewerten.
Rohstoffe am Ursprung des Lebens
Die Tiefsee ist nicht nur ein Ort außergewöhnlicher biologischer Vielfalt, sondern auch reich an mineralischen Rohstoffen. Hier finden sich zum Beispiel so genannte Manganknollen, Massivsulfide oder kobaltreiche Krusten, die wertvolle Metalle wie Mangan, Nickel, Kupfer und Kobalt enthalten – Metalle, die derzeit für die Herstellung von Batterien, etwa für E-Mobilität, benötigt werden.
Diese Ressourcen kommen in verschiedenen Regionen der Weltmeere vor, oft weit entfernt von den Küsten und in internationalen Gewässern. Besonders hervorzuheben ist die Clarion-Clipperton-Bruchzone im tropischen Nordpazifik, ein Gebiet von der Größe Europas, das sich von Hawaii bis kurz vor Mexiko erstreckt und derzeit als eines der Hauptziele für den Abbau Manganknollen gilt.
Während die verlockenden Rohstoffvorkommen der Tiefsee angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen an Land fast greifbar erscheinen, birgt ihr Abbau ein wesentliches Problem: Die Rohstoffvorkommen und Lebensräume sind untrennbar miteinander verwoben.
Grundsätzlich finden wir in der Tiefsee zwei Hauptarten von Untergründen: den weichen, sedimentären Boden und die harten Flächen, wie Manganknollen, Felsen oder lebende Strukturen wie Korallen. Der weiche Boden bietet Lebensraum für bestimmte Organismen, während die harten Flächen andere Arten unterstützen, die auf solche stabilen Oberflächen angewiesen sind.
Manganknollen zum Beispiel bieten Schwämmen, Moostierchen oder Anemonen einen festen Halt, den sie im weichen Sediment nicht finden können. Diese Organismen dienen wiederum selbst als Lebensraum. Schwämme etwa können eine große Anzahl von Lebewesen in ihrem Inneren beherbergen. Durch das Zusammenspiel von weichen und harten Untergründen wird die Vielfalt der Tiefsee also enorm gesteigert, indem zusätzliche Lebensräume geschaffen werden. Da bedeutet im Umkehrschluss: Der Abbau von Rohstoffen wird zu einem erheblichen Verlust an Lebensräumen führen und damit zu einem Rückgang der Vielfalt.
Ökologische Konsequenzen des Abbaus
Tiefseebergbau könnte sehr bald Realität werden – Norwegen hat kürzlich grünes Licht für den Abbau in seinen Hoheitsgewässern gegeben, und auch andere Nationen stehen in den Startlöchern für den Abbau in internationalen Gewässern. Es zeigt sich jedoch bereits jetzt, dass dieser Eingriff erhebliche Risiken birgt und langfristige, möglicherweise irreversible Schäden an den betroffenen Ökosystemen verursachen könnte.
Der Abbau kann zur Zerstörung und Zerstückelung von Lebensräumen führen, die Beschaffenheit des Bodens verändern und diesen durch den Einsatz schwerer Maschinen verdichten. Die Zusammensetzung des Bodens ist aber entscheidend dafür, welche Organismen dort leben können. Veränderungen in dieser Zusammensetzung wirken sich daher erheblich auf die Artenvielfalt aus und können die Lebensbedingungen für viele Meeresbewohner drastisch verschlechtern.
Besonders problematisch sind die beim Abbau entstehenden Sedimentfahnen, die durch Rückstände aus Versorgungsschiffen noch verstärkt würden. Diese potenziell toxischen Sedimente können sich auf Meeresorganismen ablagern, ihre Lebensräume beeinträchtigen oder die Lebewesen sogar ersticken. Zudem stören Lärm und künstliche Beleuchtung während des Abbaus das Verhalten und die Physiologie vieler Tiefseeorganismen, die an völlige Dunkelheit angepasst sind.
Die ökologischen Folgen sind vermutlich weitreichend, doch ihr vollständiges Ausmaß ist noch schwer abzuschätzen. Die Fähigkeit der betroffenen Ökosysteme, sich von solchen Eingriffen zu erholen, ist stark eingeschränkt und variiert je nach Lebensraum. Während sich einige Gebiete möglicherweise innerhalb relativ kurzer Zeiträume regenerieren können, benötigen andere, insbesondere solche mit langsam wachsenden Organismen wie Tiefseekorallen, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, um sich zu erneuern – falls dies überhaupt möglich ist.
Besonders problematisch ist dies bei Strukturen wie Manganknollen und kobaltreichen Krusten, deren Wachstumsrate nur wenige Millimeter pro Million Jahre beträgt. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Bedingungen erscheint hier nahezu ausgeschlossen, was die Notwendigkeit eines umsichtigen Umgangs mit diesen Ressourcen unterstreicht. Die Auswirkungen unseres Handelns werden weit über unsere eigene Lebensspanne und die nachkommender Generationen hinausreichen.
Dringender Schutzbedarf
Die Tiefsee bleibt ein weitgehend unerforschtes Gebiet, dessen volle Komplexität uns noch immer entgeht. Dieses unzureichende Wissen führt zu einem gefährlichen „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Effekt im Naturschutz, der durch den zunehmenden menschlichen Eingriff in diese fragilen Ökosysteme verstärkt wird.
Viele der in der Tiefsee lebenden Arten sind klein, farblos und auf den ersten Blick unscheinbar, was es schwer macht, symbolträchtige Botschafter für den Schutz dieser Lebensräume zu finden. Doch es gibt Ausnahmen.
Ein Beispiel ist die Schuppenfuß-Schnecke, die in der Nähe von hydrothermalen Quellen in Tiefen von 2.400 bis 2.900 Metern lebt. Diese Schnecke hebt sich durch eine außergewöhnliche Anpassung hervor: ihr Fuß ist mit Plättchen aus Eisensulfid gepanzert, und in ihrem Gehäuse sind dieselben mineralischen Substanzen eingelagert. Anstatt selbst Nahrung aufzunehmen, lebt sie in Symbiose mit Bakterien, die ihr die lebenswichtigen Nährstoffe liefern.
Bisher wurde die Schuppenfuß-Schnecke nur an drei winzigen Standorten im Indischen Ozean nachgewiesen, die zusammen weniger als die Fläche eines Fußballfeldes umfassen. Diese extrem isolierten „Inseln“ scheinen keinen genetischen Austausch miteinander zu haben, was bedeutet, dass der Verlust einer Population, etwa durch Tiefseebergbau, unwiderruflich zum Aussterben der Art führen könnte, da keine Wiederbesiedlung von anderen Standorten möglich ist. Aus diesem Grund wurde die Schuppenfuß-Schnecke als erste Tiefseeart auf die Rote Liste gefährdeter Arten gesetzt, die unmittelbar durch den Tiefseebergbau gefährdet ist.
Zahlen & Fakten
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Preisverfall bei Batterie-Rohstoffen
- Wie eine Analyse der Internationalen Energieagentur (IEA) zeigt, sinken die Preise für jene Rohstoffe, die für erneuerbare Energien gebraucht werden, zum Beispiel für Batterien (Lithium, Kobalt, Kupfer etc.), deutlich. Die IEA sieht auch das Potenzial für Recycling noch nicht ausgeschöpft und verweist für den zukünftigen Rohstoff-Bedarf auf die zunehmende Effizienz der Batterien. Nicht einberechnet hat die IEA dabei die technologische Weiterentwicklung, dass etwa Lithiumbatterien durch Natriumbatterien abgelöst werden.
Diese „Schnecke“ ist nur eine von möglicherweise Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Arten, die in der Tiefsee vermutet werden – die meisten davon noch unbekannt. Jede Art hat eine Aufgabe im Ökosystem. Wenn eine Art verschwindet, kann das die gesamte Funktionsweise des Ökosystems stören. Deshalb ist es entscheidend, unser Wissen über diese Arten zu erweitern, um ihre Lebensräume gezielt und wirksam schützen zu können.
Menschheit am Wendepunkt
Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt: Schon bald wird entschieden, ob wir die Tiefsee als Rohstoffquelle erschließen wollen – und vor allem, ob wir dies mit der nötigen Umsicht und Verantwortung tun können. Es stellen sich grundlegende ethische Fragen: Sollten wir wirklich in diese letzten unberührten Bereiche unseres Planeten eingreifen, die bislang in friedlicher Abgeschiedenheit existierten? Brauchen wir die Mineralien aus der Tiefsee für die dringend benötigte Energiewende, oder sollten wir alternative Ressourcen an Land nutzen, auch wenn diese oft in ebenso schützenswerten Lebensräumen wie Regenwäldern vorkommen?
Diese komplexen Fragen erfordern einen intensiven Diskurs. Die Entscheidung, die wir treffen, wird nicht nur die Zukunft dieser verborgenen Welten prägen, sondern auch darüber hinaus zeigen, ob wir als Menschheit in der Lage sind, den Wert und die Schutzwürdigkeit von Lebensräumen zu erkennen, die außerhalb unseres unmittelbaren Blickfeldes liegen.
Conclusio
Der Tiefseebergbau bietet zweifellos Chancen für die Rohstoffgewinnung, doch diese Chancen kommen zu einem hohen Preis. Ein tiefes Verständnis der komplexen Ökosysteme der Tiefsee sowie eine strenge, international abgestimmte Regulierung sind unerlässlich, um die Biodiversität und das ökologische Gleichgewicht dieser weitgehend unerforschten Lebensräume zu bewahren. Der Schutz der Tiefsee und ihrer Arten muss vorrangig behandelt werden, um irreversible Schäden an den letzten nahezu ungestörten Ökosystemen der Erde zu verhindern. Nur so können wir sicherstellen, dass diese einzigartigen Lebensräume und ihre Vielfalt auch für zukünftige Generationen erhalten bleiben.