Wo bleibt der Fortschritt?

Die Menschheit machte seit der Industriellen Revolution fantastischen technologischen Fortschritt. Doch seit Jahrzehnten nimmt unsere Innovationskraft ab. Was ist geschehen?

Illustration von Menschen, die in einem ehemaligen Kühlturm eines Atomkraftwerks baden.
Technologischer Fortschritt genießt keine hohe gesellschaftliche Priorität mehr – Bereiche wie Kernkraft stagnieren seit Jahrzehnten. © Francesco Ciccolella
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Auf den Punkt gebracht

  • Science-Fiction. Einige große Erfindungen, die von Futuristen vor rund 70 Jahren vorhergesagt wurden, sind heute Realität.
  • Weniger erfinderisch. Jedoch sind bahnbrechende wissenschaftliche Publikationen und Patente seit 1950 um drei Viertel zurückgegangen.
  • Energiemangel. Vor allem im Energiesektor blieb die Menschheit hinter den Erwartungen für ein zweites Atomzeitalter zurück.
  • Visionen. Ein neuer Fortschrittsglaube könnte die Potenziale etwa in der Kernphysik oder Nanotechnologie ausschöpfen.

Hat die menschliche Innovationskraft im letzten halben Jahrhundert deutlich nachgelassen? Die globale Wirtschaft hat sicherlich nicht stagniert, große Volkswirtschaften wie China und Indien machten enorme Fortschritte, um industrialisiert und wohlhabend zu werden. Aber ein wesentlicher Teil dieses Fortschritts bestand darin, dieselben Methoden und Technologien zu übernehmen, die bereits im Westen etabliert waren: Stahlwerke, Kohlekraftwerke, Autofabriken, Autobahnen, Eisenbahnen, Schiffe und Millionen von Lastwagen.

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Einerseits haben die letzten 50 Jahre natürlich einige Innovationen hervorgebracht: Computer und digitale Kommunikation stechen besonders hervor. Mobiltelefone von heute übertreffen das, was Science-Fiction-Autoren der 1960er-Jahre sich vorgestellt hatten. Wir können jetzt Videoanrufe tätigen und auf einem Bildschirm shoppen. Andererseits haben wir keine fliegenden Autos bekommen. Oder imposante Raumstationen, oder Kolonien auf dem Mond oder Mars. Wir haben auch keine Roboter-Butler und Dienstmädchen.

Weniger Innovation

Der Mangel an Fortschritt ist kein Phänomen, das nur die Verbraucherprodukte betrifft. Zum Beispiel beschreibt eine kürzlich im renommierten Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie was die Autoren als „Disruptions-Index“ in wissenschaftlichen Beiträgen und Patenten von den 1950er bis 2010er Jahren bezeichnen. Sie bewerten, ob ein wissenschaftliches Ergebnis oder eine Erfindung wirklich innovativ ist und unsere Vorstellungen oder Fähigkeiten auf unerwartete Weise wesentlich verändert oder nur kleine Fortschritte aufweist, die leicht vorhergesehen werden konnten. Sie stellen fest, dass diese „Disruption“ in dem Zeitraum nach ihren Maßstäben um etwa drei Viertel zurückgegangen ist. Was ist geschehen?

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Zahlen & Fakten

Viele Vorhersagen für die Technologie des 21. Jahrhunderts, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts gemacht wurden, haben sich bewahrheitet. Viele andere Prognosen waren falsch. Lässt sich bei den falschen Prognosen ein Muster erkennen, können wir erahnen, warum sich die Futuristen geirrt haben.

Falsch vorhergesehen?

Vorweg, es gibt zwei Arten von Fehlern bei Vorhersagen, und wir müssen darauf achten, sie zu unterscheiden. Stellen wir uns vor, jemand sagt voraus: „Smith wird das Rennen gewinnen, da er schneller ist als Jones.“ Jetzt nehmen wir an, Jones gewinnt. Es könnte der Fehler des Vorhersagers sein, der vielleicht dachte, dass Smith ein besserer Läufer als Jones sei, jedoch in Wirklichkeit ist Jones schneller. Das wäre ein Vorhersagefehler.

Allerdings könnte Smith tatsächlich der bessere der beiden gewesen sein, aber er ist während des Rennens gestolpert oder hat sich einfach nicht wirklich angestrengt. In diesem Fall lag der Fehler nicht beim Vorhersager, sondern bei Smith. Diesen Fehler nennen wir Leistungsfehler.

Es wird oft angenommen, dass die Unterschiede zwischen der Welt von heute und derjenigen, die sich Science-Fiction-Autoren und Futuristen der 1950er und 1960er Jahre vorgestellt hatten, Vorhersagefehler waren. Ich bin jedoch der Ansicht, dass ein erheblicher Teil von ihnen tatsächlich Leistungsfehler waren: ein Versagen der Menschheit, unsere Fähigkeiten wirklich auszuschöpfen und die Dinge zu tun, die wir wirklich hätten tun können.

Auffälliges Muster

Ein Grund für diese Annahme ist, dass es ein auffälliges Muster bei den Fehlern gibt. Wenn man vorhergesagte Technologien danach einteilt, ob sie realisiert wurden und den dafür notwendigen Energiebedarf berücksichtigt, erkennt man folgendes: keine Zukunftsvision, die über zehn Kilowattstunden pro Kopf erfordert, ist heute Realität (das entspricht einem Jahresverbrauch pro US-Einwohner von 87.660 Kwh). Innerhalb der realisierten Erfindungen gibt es Abweichungen von den Vorhersagen, die auf verschiedene Fehlerquellen hindeutet, etwa die Prognosen für stromsparende Technologie, die sogar zu zaghaft waren!

Unser Energieverbrauch flacht ab den 1970er Jahren bei etwa zehn Kilowattstunden pro Kopf ab.

Mit anderen Worten, alle Prognostiker gingen davon aus, dass wir heute mehr Energie zur Verfügung haben und verbrauchen würden als tatsächlich der Fall ist. Wie konnten sie alle denselben Fehler machen? Sie setzten einen historischen Trend von exponentiell wachsender Energieverfügbarkeit fort, der bis zu den Anfängen der Industriellen Revolution zurückreicht und den wir nach dem Historiker, der ihn 1910 zum ersten Mal beschrieb, die Henry-Adams-Kurve nennen können. Was die Vorhersager nicht wissen konnten: der Energieverbrauch flacht ab den 1970er Jahren bei etwa zehn Kilowattstunden pro Kopf ab.

Das gilt für die fortgeschrittenen westlichen Volkswirtschaften; Entwicklungsländer mit einem niedrigeren Stromverbrauch haben ihn entlang verspäteter Versionen der Henry-Adams-Kurve weiter ausgebaut. Es gibt vielfältige Gründe für das Abflachen; es würde ein ganzes Buch brauchen, um sie zu untersuchen und die Gründe zu erläutern, warum sie alle in den 1960er und 1970er Jahren schlagend wurden.

Fortschrittsmüde

Klar ist, dass wir heute mit etwa einem Drittel der Energie auskommen müssen, die uns laut historischem Trend zur Verfügung gestanden wäre. Wenn wir uns die Zivilisation als ein Flugzeug vorstellen, waren unsere Motoren bis etwa 1970 in Betrieb und wir waren im Aufstieg begriffen. Dann stotterten sie und starben ab und wir gleiten seither dahin. Wir stehen keineswegs vor einem Absturz; man kann aus einer guten Höhe sehr weit gleiten. Aber jede Minute ohne Motor beschränkt die Möglichkeiten, wo wir letztendlich landen werden. Es könnte daher eine gute Idee sein, die Motoren neu zu starten. Wie können wir das erreichen?

Eine große Anzahl von Menschen hat die Errungenschaften der Zivilisation als selbstverständlich angesehen und ihre Anstrengungen auf andere Ziele konzentriert.

Die Antwort ist zugleich einfach und komplex: Wir müssen es wollen. Viele Menschen erachten die Errungenschaften der Zivilisation als selbstverständlich und fokussiert sich auf andere Ziele. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Vorzüge der Modernisierung – angefangen bei der Tatsache, dass wir in kalten Winternächten nicht im Dunkeln frieren müssen – durch lebenslange Bemühungen über viele Generationen entstanden sind. Wir dürfen sie nicht als selbstverständlich betrachtet. Jene Menschen, die versuchen, unsere Motoren neu zu starten, müssen unterstützt, geschätzt und nachgeahmt werden. Wir müssen unsere kollektive „Ergophobie“– die Angst vor der Arbeit – ablegen. Erst dann können wir zu den Details übergehen.

Ambitionierte Ziele setzen

Hier sind einige wenige Ideen, es gibt viele weitere: Wir sollten die Kernenergie nutzen, die seit einem halben Jahrhundert die sicherste, zuverlässigste und am wenigsten verschmutzende Form der großflächigen Energieproduktion ist. Wir wissen seit den 70er Jahren, wie man unseren gesamten Strombedarf aus Kernenergie produziert; die Technologie ist erprobt und bekannt.

Für die Zukunft ist es genauso wichtig, die Kernphysik als Wissenschaft wiederzubeleben. Es gibt viele Möglichkeiten, Energie aus Kernkraft zu gewinnen. Die Kettenreaktion, wie sie heute in Kraftwerken abläuft, ist umständlich und wenig flexibel. Der Mangel an bahnbrechenden Entdeckungen, die oben erwähnt wurden, ist nirgendwo so deutlich wie in der Kernphysik.

Zu diesem Zweck sollte die Bürokratie rund um die Finanzierung von Forschung abgebaut werden. Leo Szilard, der Physiker, der die Kettenreaktion entdeckte, schrieb einmal eine Kurzgeschichte darüber, wie man wissenschaftlichen Fortschritt vorsätzlich verhindern könnte:

„Erstmal ist wichtig, dass die besten Wissenschaftler nicht in ihren Laboren arbeiten, sondern in Komitees sitzen, die Anträge auf Finanzierung prüfen. Forscher, die auf Fördermittel angewiesen sind, würden sich auf Fragestellungen konzentrieren, die schnell zu Ergebnissen führen und sich leicht publizieren lassen. Für ein paar Jahre mag es einen großen Zuwachs an wissenschaftlichem Output geben; aber wenn man nur dem Offensichtlichen nachgeht, würde die Wissenschaft ziemlich bald austrocknen. Für ein paar Jahre mag es einen großen Zuwachs an wissenschaftlichem Output geben; aber wenn man dem Offensichtlichen nachgeht, würde die Wissenschaft ziemlich bald austrocknen.“

Auf die Stagnation in der Kernphysik verwies auch Professor Carver Mead schon vom renommierten Caltech Institut zur Jahrtausendwende: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die letzten sieben Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als das dunkle Zeitalter der theoretischen Physik in die Geschichte eingehen werden.“

Vernachlässigte Technologien

Wir müssen nicht nur die Physik beleben, sondern auch jene Instrumente entwickeln, mit denen wir unsere neuen Entdeckungen und Erkenntnisse nutzen können. In diesem Bereich wissen wir seit 1960 in groben Zügen, wie wir eine Technologie aufbauen können, die uns die Kontrolle über die Struktur der Materie ermöglicht. Aber wir haben das Ziel aus den Augen verloren und es nicht getan.

Ein Techniker in einem sterilen Ganzkörperanzug wirft einen prüfenden Blick auf eine bunt schillernde Halbleiterplatte.
Ein Techniker in einem sterilen Ganzkörperanzug wirft einen prüfenden Blick auf einen Halbleiter-Wafer. Nanotechnologie ist essenziell für Computerchips, hätte jedoch noch viel mehr Potenzial. © Getty Images

Wir müssen die Nanotechnologie, wie sie von Robert E. Heinlein, Richard Feynman und Eric Drexler beschrieben wurde, in der Fertigung neuer Maschinen einführen. (Deren Idee: Wir bauen kleine Werkzeuge, mit denen wir noch kleinere Werkzeuge bauen können, usw. bis wir Moleküle direkt gestalten können). Dies wird uns in die Lage versetzen, Wissenschaft auf einem Niveau und mit einer Genauigkeit zu betreiben, die wir heute nicht erreichen können.

Wie sieht die Zukunft aus? Stellen Sie sich vor, dass es uns gelungen ist, das für den Rest des Jahrhunderts das von Futuristen vorhergesagte Programm einzuhalten. Wir werden viel mehr verstehen als heute und Maschinen bauen, die nach atomaren Spezifikationen mit perfekter Genauigkeit konstruiert sind. Was könnten wir bauen?

Fantastische Vision

Lassen wir uns spekulieren: Stellen Sie sich eine Maschine vor, die vielleicht die Größe eines Bakteriums hat. Sie ist dichter als ein Bakterium, das hauptsächlich aus Eiweiß und Wasser besteht, weil sie ein Kristall aus vielen Elementen ist. Er besteht hauptsächlich aus Festkörpern und enthält genügend mechanische Elemente, um unterschiedliche Moleküle in und aus dem Mechanismus zu transportieren. Der Rest der Struktur ist ein kompliziert Kristall, der mit unseren heutigen Halbleitern so viel zu tun hat wie mit einer Öllaterne. Jedes einzelne Atom der Maschine ist nach Position, Element und Isotop spezifiziert. Bauen wir eine „Batterie“ aus solchen Maschinen, wird sie weder aufgeladen müssen, noch braucht sie chemischen Treibstoff – nur etwas Luft. Jede Maschine auf der Welt könnte nahezu unsichtbar mit genügend Energie versorgt werden.

Vor einem halben Jahrhundert glaubten wir, wir befänden uns im „Atomzeitalter“, weil wir einen rudimentären Weg gefunden hatten, Energie aus Atomen zu gewinnen. In unserer Zukunft liegt, wenn wir danach streben, ein zweites Atomzeitalter, das auf atomar präzisen Maschinen und einem viel tieferen Verständnis der Atome beruht.

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Conclusio

Viele bahnbrechende Erfindungen wie der Computer wurden von Futuristen vorhergesehen. Andere vorhergesagte Innovationen, wie fliegende Autos oder Nano-Roboter, die uns den Alltag erleichtern, gibt es noch nicht. Im vergangenen halben Jahrhundert haben Wissenschaft und Forschung weniger bahnbrechende Entdeckungen geliefert als zuvor. Ein markanter Indikator ist, dass unser Energieverbrauch seit den 1970ern den langfristigen exponentiellen Trend verlassen hat. Um den Fortschritt zurück auf seinen historischen Pfad zu bringen, muss die Gesellschaft die Prioritäten neu ordnen.

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