Sanierungsfall EU

Verbrenner-Aus, explodierende Energiekosten, Bürokratie statt Nachhaltigkeit: Die EU tut alles, um bei der Wettbewerbsfähigkeit weiter abzusacken.

EU-Flagge auf einer Mauer mit Rissen
Risse im Gebilde? Zumindest im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit hat die EU akuten Handlungsbedarf. © Getty Images

Die EU steht angesichts steigender Energiepreise und drohender Versorgungsengpässe bei Gas mit dem Rücken zur Wand. Für die Unternehmen in der Union, die seit Jahrzehnten unter hohen Abgaben, planwirtschaftlichen Eingriffen und Überregulierung leiden, kommt es damit zu einer weiteren Belastung. Der zusätzliche Standortnachteil wird die EU wohl weiter im internationalen Konzert zurückwerfen. Das hat mittlerweile schon Tradition.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Wert der hergestellten Waren und Dienstleistungen in einem Staat, mag kein perfekter Indikator sein, aber es bietet aufgrund des langen Erhebungszeitraums zumindest einen ersten Ansatzpunkt für den Vergleich verschiedener Wirtschaftsräume. Schauen wir also einmal hin: Zu Beginn der 2000er Jahre lag der Anteil des BIP aller EU-Länder an der Weltwirtschaft bei 25 Prozent, gleichauf mit den USA. Inzwischen ist er auf 18 Prozent gesunken, die US-Wirtschaft bleibt bei 25 Prozent. Zeitgleich ist der Anteil Chinas von drei auf 17 Prozent gewachsen. Die EU fällt also hinter die USA zurück, während China rasant aufholt.

Noch düsterer schaut es bei den Investitionen aus: Der Anteil der EU an den weltweiten Bruttoinvestitionen liegt bei nur 15 Prozent, in den USA sind es 20 und in China gar 29 Prozent. Der Anteil der Patente fällt in der EU ebenfalls seit Jahren zurück: Er liegt aktuell bei nur 18 Prozent verglichen mit 30 Prozent im Jahr 1999. Die neusten Entwicklungen in Europa haben zwar mittelfristig das Potenzial, der Wirtschaft einen Innovationsschub zu geben – bekanntlich führen hohe Preise zu ressourcenschonenden und innovativen Produktionsprozessen – aber der Weg dorthin wird wohl ziemlich ungemütlich ausfallen.

Preisexplosion in Europa

Der Krieg in der Ukraine hat die Preise für wichtige Rohstoffe und Gas beziehungsweise elektrische Energie massiv ansteigen lassen. Nickel ist nun um etwa 15 Prozent teurer als zu Beginn des Jahres, Weizen um mehr als 20 Prozent. Der Preis für verschiedene Düngemittel hat sich vervielfacht. Noch dramatischer sind die Preise für Erdgas und der damit verbundene Strompreis. Während bis Mitte 2021 eine MWh Gas etwa 20 Euro gekostet hat, lag der Preis am sogenannten Day-Ahead-Market Ende Juli bei mehr als 220 Euro – das Zehnfache. Der Preis am Terminmarkt bleibt mindestens für die Wintersaison 2022/23 bei über 200 Euro.

Gleichzeitig, und hier steckt das große Problem für die europäische Wettbewerbsfähigkeit, sind die Preise auf anderen Märkten längst nicht so stark gestiegen: Am Henry Hub in Louisiana handelte eine Megawattstunde Erdgas Ende Juli für etwa 30 Euro. Gasintensive Industrieunternehmen, die in den USA produzieren, haben aktuell – und aller Voraussicht nach auch noch für längere Zeit – große Kosten- und Preisvorteile.

Auch die elektrische Energie ist teurer geworden: Im Schnitt der letzten Jahre zahlten Unternehmen in Österreich an der Börse etwa 50 Euro für eine MWh elektrischer Energie, derzeit liegt der Basispreis bei fast 500 Euro, für die Peakload-Belastung in Spitzenzeiten bei 520 Euro. Die Aussichten auf die Heizsaison, in der das Gas noch einmal teurer werden wird, erhöhen auch den Preis für den Peak-Strom in den Wintermonaten auf unglaubliche 700 Euro. Das führt zu einem riesigen Wettbewerbsproblem, nicht nur für einen kleinen Teil der Wirtschaft, sondern für alle Unternehmen, die Strom beziehen.

Mehr Erneuerbare, mehr Flexibilität

Keine moderne Volkswirtschaft kommt ohne günstige Energie aus. Das Vereinigte Königreich hat die industrielle Revolution für sich entschieden, weil man dort Zugang zur billigen Kohle hatte. Heute sind erneuerbare Energieträger günstiger als andere Quellen. Ihr schneller und unbürokratischer Ausbau muss deshalb Priorität haben. Das bedeutet nicht, dass Tirol und Salzburg mit Windrädern zugepflastert werden sollen (wobei das auch nicht schaden würde), sondern dass wir die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung nutzen: mit Offshore-Anlagen an der Nordsee und einem massiven Photovoltaik-Ausbau in den südlichen Regionen Europas.

Die vier Grundfreiheiten der EU gehören um eine fünfte ergänzt: Die Freiheit der Energiemobilität.

Die so gewonnene Energie müsste mit hochpotenten Leitungen durch den Kontinent geleitet und Elektrizitätsmärkte weiter integriert werden. Dafür braucht es allerdings einen massiven Ausbau der Netzkapazitäten. Bisher wurde das unterlassen. Nun zeigt sich auch hier: In der langen Frist schadet Protektionismus uns allen. Die vier Grundfreiheiten der EU gehören deshalb um eine fünfte ergänzt: Die Freiheit der Energiemobilität.

Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit

Schon vor der Energiekrise hatten europäische Unternehmen mit Belastungen zu kämpfen, die ihnen im internationalen Wettbewerb Nachteile gegenüber Konkurrenten aus den USA oder Asien einbrachten. Der Erhalt und Ausbau einer langfristigen Wettbewerbsfähigkeit wurde in der EU zu lange vernachlässigt. Die Fähigkeit von Unternehmen, sich durch Innovationen, die Steuerung von Wertschöpfungsketten, eine steigende Faktorproduktivität sowie institutionelle und strategische Entscheidungen auf globalen Märkten in eine vorteilhafte Position zu bringen, reicht nicht aus.

Wir halten nicht Schritt mit der weltweiten Entwicklung, dabei wäre mehr drin. Doch die EU bleibt unter ihren Möglichkeiten dank ineffizienter Finanzstrukturen, falscher Regulierungen, mangelhafter Infrastruktur, institutioneller Barrieren und verkrusteter Märkte. Der Fachkräftemangel setzt Unternehmen zusätzlich unter Druck und verursacht weitere Umsatzeinbußen.

Ineffizienter Klimaschutz

Hinzu kommt das Engagement zur CO2-Reduktion im Rahmen des Green Deals. Es ist richtig, sich dafür anzustrengen, dass die Folgen des Klimawandels so überschaubar wie nur irgendwie möglich bleiben. Aber das muss auch in einer Art und Weise passieren, die möglichst effizient ist und unsere Standortqualität nicht noch weiter gefährdet. Europa mit knapp acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen kann die Welt nicht alleine retten. Wir können lediglich versuchen, Vorbild zu sein. Das wird uns aber nur gelingen, wenn wir zeigen, dass die Reduktion von CO2 nicht bedeutet, dass die Wirtschaft an Kraft verliert – auch deshalb, weil wir kein Recht darauf haben, Verzicht zu predigen während große Teile der Welt noch immer sehr arm sind.

Europa kann die Welt nicht alleine retten. Wir können lediglich versuchen, Vorbild zu sein.

„Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Wenn es nach der Krisendefinition von Max Frisch geht, könnte Europa die aktuelle Situation also dazu nutzen, sich zum Besseren zu verändern. Wir sollten uns aber nicht nur darum bemühen, den Beigeschmack der Katastrophe aus der Welt zu schaffen, sondern vor allem strukturelle Hindernisse beiseite räumen.

Ein Beispiel: Die aktuellen Energiepreise bieten ohnehin einen hohen Anreiz zur CO2-Reduktion. Warum sich die EU trotzdem dafür entschieden hat, die aufwendige sogenannte Taxonomie einzuführen, mit der öffentliche und private Finanzströme in CO2-neutrale Investitionen gelenkt werden sollen, ist nicht nachvollziehbar. Derartige Instrumente fügen eine Ineffizienz ein und sind überflüssig, weil die Preise die Ressourcen ohnehin gut lenken.

Auch der CO2-Grenzsteuerausgleich bringt zusätzliche Belastungen: Eigentlich soll damit die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Unternehmen geschützt werden – durch einen Klimazoll werden Importe mit dem gleichen Preis für CO2 belastet wie heimische Unternehmen, Exporte aus der EU hingegen entlastet. Kompliziertere Wertschöpfungsketten, wie sie in höher entwickelten Ländern eher Regel als Ausnahme sind, bleiben bis dato aber unberücksichtigt und müssten den CO2-Preis mehrfach bezahlen. Exporte aus der EU in die Welt wären so nicht mehr konkurrenzfähig.

Vertrauen in die eigene Innovationskraft

Auch planwirtschaftliche Verbote werden nicht weiterhelfen. Sogar ein Verbrennungsmotor kann sich zu einem umweltfreundlichen Produkt entwickeln, wenn man es zulässt. Die Theorie der „Güterräume“ zeigt uns, dass sich bestehende Potenziale leichter in neue Produkte in derselben Gruppe umwandeln lassen.

Diese Erkenntnis sollten wir nutzen. Die österreichische Industrie ist unter anderem auf die Herstellung von Autoteilen spezialisiert und stark mit der deutschen Automobilindustrie als Abnehmer verbunden. Es wäre vorteilhaft, sich auf die Bemühungen der deutschen Automobilindustrie um einen grünen Wandel zu konzentrieren, Lücken in Bezug auf entsprechende Technologien in der Automobilindustrie zu schließen und alte Nachteile in neue Vorteile zu verwandeln. Dies kann aber nicht geschehen, wenn man ganze Industriezweige ex lege einfach schließt.

Gute Rahmenbedingungen für ein Umfeld, in dem Besseres entstehen kann, sind gefragt.

Die europäische Wettbewerbsfähigkeit leidet seit Jahren und steht nun vor einer besonders schwierigen Herausforderung. Wir können das schaffen. Aber dafür braucht es eine konsequente Abkehr von vielen liebgewonnenen Gewohnheiten in der EU: Deregulierung statt Bürokratie, Integration statt Abschottung, Entlastung statt neuer Abgaben. Wirtschaft darf nicht zentral gesteuert werden, wenn sie langfristig erfolgreich sein soll. Technologieoffenheit und Vertrauen in die Innovationskraft der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen, gute Rahmenbedingungen für ein Umfeld, in dem Besseres entstehen kann, sind gefragt – nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht.