Der Untergangsprophet
Peter Turchin glaubt, dass die Geschichte mathematischen Regeln folgt, anhand derer sich die Zukunft wie das Wetter vorhersagen lässt – Kliodynamik nennt er diese Idee. Und er hat schlechte Nachrichten für die USA.

Das mit den Vorhersagen ist so eine Sache, sagt Peter Turchin. Manchmal sind sie einfach, aber wenig hilfreich. „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Ihrer Zelle und für den Sonnenaufgang ist Ihre Hinrichtung geplant. Es ist sehr einfach, die Zukunft für Sie vorherzusagen – sie werden bald hingerichtet. Aber Sie können nichts daran ändern.“
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Deshalb blickt Peter Turchin nicht nur in die Zukunft, er will auch verstehen, wie wir sie ändern können. Um den Katastrophen zu entgehen, die er sieht. In den vergangenen Jahren hat er sich von einem belächelten wissenschaftlichen Außenseiter zu einem international gefragten Intellektuellen gemausert. Und das ist durchaus erstaunlich für einen Mann, der behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können – und dabei nicht einmal Historiker ist. Turchin wuchs in Russland auf, 1977 musste sein Vater in die USA flüchten. Der Sohn studierte Biologie, dissertierte über den Mexikanischen Bohnenkäfer und publizierte über Lemminge, Maulwürfe und Kiefernkäfer.
Kliodynamik: Für eine neue Geschichte
Irgendwann wurde ihm das zu langweilig. In seiner Midlife-Crisis, so beschreibt er es, habe er nicht seine Frau, sondern seine Wissenschaft verlassen. Und gründete im Grunde seine eigene, die er Kliodynamik nennt, nach der griechischen Göttin für Geschichte. Kliodynamik beruht auf der kühnen Behauptung, dass der Menschheitsgeschichte komplexe mathematische Regeln zugrunde liegen, die es erlauben, Voraussagen für die Zukunft von Staaten oder Zivilisationen zu treffen.
Peter Turchin sitzt in seinem Büro im Wiener Complexity Science Hub, wo er forscht und lehrt, und erklärt die Grundlagen seiner Arbeit anhand von Seshat. Das ist nicht nur die ägyptische Göttin der Buchhaltung und des Schreibens, sondern auch der Name von Turchins gigantischer Datenbank, in die er die vergangenen 10.000 Jahre menschlicher Zivilisation zu pressen versucht. Alle Datenpunkte, die er dazu sammeln kann. Sie umfasst 839 Politys, das sind politische Strukturen oder Einheiten, seien es Staaten, Königreiche oder Stämme. „Die frühen Gesellschaften waren natürlich nicht sehr komplex, da gibt es keine Institutionen oder auch nur Berufe“, sagt er. Mit Fortschreiten der Geschichte werden die Gesellschaften und damit auch die Daten komplexer.
Wir wollen wissen, wie Zivilisationen so komplex wurden, aber auch, wie widerstandsfähig oder fragil sie sind.
Er öffnet einen willkürlichen Datensatz, die Hethiter, ein nahezu in Vergessenheit geratenes Volk, das um rund 1.000 vor Christus in Anatolien lebte. Alles, was wir über die Struktur ihrer Gesellschaft wissen, ist in Seshat vermerkt: Gab es Priester (ja), gab es Soldaten (unbekannt), existierte ein Markt (ja), waren die Siedlungen mit Mauern befestigt (ja), aus welchen Materialien bestanden sie (Holz und Stein) – und noch vieles mehr. Welche Zivilisation lösten sie ab, wer folgte auf sie? Seshat will die gesamte Menschheitsgeschichte in Daten aufdröseln und Turchin daraus ablesen lernen, nach welchen Regeln sich Zivilisationen entwickeln – oder zerfallen. „Wir wollen wissen, wie Zivilisationen so komplex wurden, aber auch, wie widerstandsfähig oder fragil sie sind.“ Warum zerfiel das Römische Reich, warum die Sowjetunion?
Was hätte die Kliodynamik zu Österreich zu sagen?
Oder auch: Was ist mit dem Habsburgerreich passiert? „Österreich wäre ein sehr interessanter Fall, es war ein riesiges Reich, nun ist es ein kleines Land. Es hat viel durchgemacht.“ Bloß: Trotz mehrerer Anläufe hat Turchin es hierzulande nicht geschafft, Förderungen zu bekommen. Historische Beispiele wie das Habsburger Reich helfen ihm, seine Hypothesen zu testen: Er versucht, an einem gewissen historischen Punkt vorherzusagen, welche Richtung eine Gesellschaft aufgrund seiner Hypothesen einschlagen sollte – und kann dann überprüfen, ob das wirklich so passiert ist.
Es ist eine Arbeitsweise, die sich von der von Historikern ganz grundsätzlich unterscheidet. Historiker schreiben nieder, was sie denken, aber „sie testen ihre Hypothesen nicht“, sagt Turchin. „Aber das ist die Essenz von Wissenschaft. Historiker sind sehr gut darin, Erklärungen für Ereignisse vorzuschlagen, aber sie testen sie nicht empirisch.“ Das ist natürlich eine Kriegserklärung an eine ganze Zunft: Da kommt ein Käferforscher und erklärt einer Disziplin, der er nicht angehört, dass sie die Sache komplett falsch angeht. Und dass er weiß, wie es eigentlich gehen würde.
Wie sehr hassen ihn Historiker? „Die meisten kümmert es nicht, was wir mit Kliodynamik machen und das ist okay für mich. Wir arbeiten aber auch mit über 150 Historikern zusammen, weil sie zumindest interessiert genug sind, uns Daten zur Verfügung zu stellen.“ Aber es gäbe durchaus eine laute Minderheit an Historikern, die die Idee von Kliodynamik ablehnt. „Und das ist ihr gutes Recht. Ich muss nicht von jedem gemocht werden“, sagt Turchin.
Die USA sind in einer revolutionären Situation
Vermutlich liegt seine Gelassenheit auch darin begründet, dass Turchin mittlerweile von vielen anderen ernst genommen wird. Das hat viel damit zu tun, dass er einen beachtlichen Erfolg vorweisen kann: Schon 2010 hat er anhand seiner Daten davor gewarnt, dass die USA in den 2020ern in eine Phase politischer Instabilität taumeln werden. Lange vor Donald Trump, lange vor dem Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021. Die Prognosen, wohin sich Staaten und Zivilisationen entwickeln werden, seien vergleichbar mit Wettervorhersagen, sagt Turchin: „Niemand kann vorhersagen, was bei einem Hurrikan passieren wird, aber man kann vorhersagen, dass es einen geben wird.“
In der Vergangenheit haben es nur zehn Prozent der Zivilisationen geschafft, sich friedlich, also ohne Revolution oder Bürgerkrieg, aus einer solchen Situation zu befreien.
Der Hurrikan in den USA, sagt er, nimmt weiter an Fahrt auf. „Die USA befinden sich in einem Zustand, den wir eine revolutionäre Situation nennen“, sagt er. Und wenn er sich die Daten zu vergangenen Zivilisationen oder Staaten ansieht, die in einer ähnlichen Situation waren, hat er eigentlich nur schlechte Nachrichten: „In der Vergangenheit haben es nur zehn Prozent der Zivilisationen geschafft, sich friedlich, also ohne Revolution oder Bürgerkrieg, aus einer solchen Situation zu befreien“, erzählt er.
Viele Menschen würden die Situation, in der sich die USA befinden, auf die Person Donald Trump reduzieren, aber Turchin widerspricht dieser Annahme: „Natürlich macht es einen Unterschied, ob er gewählt wird oder nicht, aber der Unterschied ist nicht wahnsinnig groß. Nur ein Beispiel: Trump hat vor seiner ersten Amtszeit groß angekündigt, eine Mauer zu Mexiko zu bauen. Die gibt es bis heute nicht. Wir neigen dazu, die Macht von Individuen zu überschätzen.“
Das Problem mit den Eliten
Das Problem in den USA sei ein anderes: „Die Gefahr für die US-amerikanische Demokratie ist, dass es unter den Eliten keinen Konsens mehr gibt.“ Ohne einen Grundkonsens unter Eliten sei es unmöglich, ein Land am Laufen zu halten. Eine Demokratie zu sein, sei kein Schutzschild gegen revolutionäre Tendenzen, auch das ist an der Geschichte der USA ablesbar: „Die USA waren im Jahr 1860 eine Demokratie, dieser Fakt konnte den Ausbruch des Bürgerkriegs ein Jahr später nicht verhindern“, erzählt Turchin.
Das führt Turchin zurück zu seinem Vergleich mit der Hinrichtung: Es reicht nicht, die Zukunft vorherzusagen. Niemand will Kriege, trotzdem gibt es sie, seit es die Menschen gibt. „Meine Hoffnung ist, dass wir durch Kliodynamik in der Zukunft besser und besser verstehen lernen, was die Faktoren sind, die zu Instabilität führen.“ Damit man frühzeitig gegensteuern kann. „Wenn das Schiff schon sinkt, ist es meistens zu spät.“ Und in den USA, fürchtet er, könnte dieser Punkt schon erreicht sein. „Es ist viel schwieriger, aus einem Loch herauszuklettern, als in eines zu fallen.“
Über diese Serie
Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast beim „Austrian Space Weather Office“ in Graz, bei Markus Hengstschläger, der gerade an Embryoiden forscht, beim ISTA in Klosterneuburg, wo Francesco Locatello an kausaler KI forscht und im Naturhistorischen Museum, wo am Bestand der Blatthornkäfer geforscht wird sowie bei Elisabeth Mertl vom OFI, die daran forscht, wie Tierversuche in Zukunft vermieden werden können.