Mit China leben – aber wie?

Die gute Nachricht: Zwischen den USA und China wird es auch in Zukunft keinen Krieg geben. Die weniger gute: Europa hat noch keine klare Strategie gegenüber Peking – die wird aber dringend gebraucht.

Chinesische Fahne vor Schiffscontainern
Chinas wirtschaftliche Eroberung der Welt stellt die USA und Europa zunehmend vor Herausforderungen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • The „Grand Strategy“. Die Entkoppelung (Decoupling) der USA vom chinesischen Markt soll das Reich der Mitte in die Knie zwingen.
  • China reagiert. Die chinesische Führung richtet ihre wirtschaftliche und politische Planung auf mehr Unabhängigkeit aus.
  • Schwierige Aufgabe. China ist aber zugleich Antagonist und Partner. Westliche Industriestaaten müssen China im Sinne eines fairen Welthandels disziplinieren.
  • Realistischer Zugang. Wirtschaftsnationalismus ist nicht die Lösung. China in die Welt einzubinden, ist gewiss nicht einfach, aber notwendig.

Der US-Botschafter in einem asiatischen Wirtschaftszentrum schrieb unmissverständlich an seinen Außenminister in Washington: „Kappen Sie nicht alle Verbindungen. Geben Sie ihnen einen wirtschaftlichen Spielraum, oder sie werden gezwungen sein, mit Gewalt ein eigenes Wirtschaftsimperium aufzubauen.“ Die Warnung des Botschafters blieb ungehört. Denn die amerikanische Politik befand sich im Kampf gegen einen großen Wirtschaftsaufschwung und war okkupiert von harten Verfechtern des Wirtschaftsnationalismus. Keine 10 Jahre später befanden sich beide Länder im Krieg.

Die Geschichte entspringt keiner düsteren Zukunftsprognose über die Rivalitäten zwischen den USA und China, sondern spielte sich 1935 ab. Sie schildert die Versuche des US-Botschafters in Tokio, Joseph Grew, den wachsenden Spannungen zwischen Japan und den USA zu begegnen. Der Rest ist bekannt: Japans Bedarf an Rohstoffen führte zur Besetzung der Mandschurei und später zur Schaffung der „Greater East Asia Co-Prosperity Sphere“, die Botschafter Grew in den 1930er Jahren so beunruhigte. Wenige Jahre später waren beide Länder in einen Krieg verwickelt.

Die „Grand Strategy“

Natürlich stehen wir im Pazifik nicht vor einem Krieg der Vereinigten Staaten gegen China. Aber die politischen Konzeptionen, die damals die Spannungen verursachten, ähneln sich doch sehr. Heute sind amerikanische Politiker beider politischer Lager von der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und geopolitischen Konfrontation mit dem chinesischen Schwergewicht überzeugt. Die Strategie der Einbindung Chinas, nach der man hoffte, der wirtschaftlichen Öffnung würde eine politische folgen, gilt als gescheitert. Und die chinesische Politik liefert ausreichend Gründe für diese Annahme. Das Land ist weit entfernt davon, tatsächlich den Status einer Marktwirtschaft zu besitzen. Im Gegenteil, der staatliche Einfluss ist in den letzten Jahren eher noch gestiegen. Die „Neue Seidenstraße“ erzeugt keine Handels- und Investitionspartner auf Augenhöhe, sondern neue Abhängigkeiten. Und die digitalen Strategien des Landes zielen mindestens als Nebeneffekt auch immer auf den Ausbau staatlicher Kontrolle.

Das Reich der Mitte soll in die Knie gezwungen werden.

Nun also ist China der strategische Rivale der Vereinigten Staaten und wie in den 1930er Jahren gilt die wirtschaftliche Entkoppelung der USA vom chinesischen Markt als „Grand Strategy“. Damit soll in diesem Konflikt das Reich der Mitte in die Knie gezwungen werden. Und das nicht nur in den USA. Matthias Döpfner, der CEO des größten deutschen Medienhauses, dem Axel Springer Verlag, plädierte dafür, dass Europa „eine klare Linie in den Sand ziehen“ solle und der Führung der USA bei der Rückführung der Wirtschaftsbeziehungen mit China folgen müsse. „Wenn es uns nicht gelingt, uns zu behaupten, könnte Europa ein ähnliches Schicksal erleiden wie Afrika, wenn es allmählich zu einer chinesischen Kolonie wird“, schrieb Mathias Döpfner.

Man darf auf die Schlagzeilen der Springer-Medien gespannt sein, wenn die deutsche Automobilindustrie als Folge einer solchen Entkoppelungsstrategie ihren Zugang zu China verlöre. Denn die wirtschaftliche Entkoppelung – das Decoupling – ist ja keine einseitige Strategie, die immer nur Folgen beim anderen hat. Am Ende dieser „Entkoppelung“ stehen vermutlich ein paar Millionen Menschen mehr als Arbeitslose in Deutschland und Europa auf der Straße. Es sind nicht nur die deutschen Automobilhersteller eng mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas verbunden, sondern vor allem auch ihre Zulieferbetriebe in der Slowakei, Tschechien, Ungarn oder Polen.

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Zahlen & Fakten

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Neue Gretchenfrage

Decoupling, also Entkoppelung, wird zum neuen Schlachtruf des Kalten Krieges 2.0 gegen das 1,4-Milliarden-Volk in Asien. Aber die chinesische Führung richtet bereits ihre wirtschaftliche und politische Planung auf mehr Unabhängigkeit und Resilienz gegenüber möglichen Sanktionen aus. Zu groß erscheint die Abhängigkeit von amerikanischen und europäischen Märkten und Zulieferern. Und es ist leicht, in der chinesischen Bevölkerung nationalistische Zustimmungswellen zu erzeugen. Die Kommunistische Partei erinnert einfach daran, dass China nie wieder zum Spielball alter und neuer Kolonialmächte werden dürfe. Das Land und der größte Teile seiner Bevölkerung dürften bereit sein, auch Einschränkungen und sogar Entbehrungen in Kauf zu nehmen. Alles, um seine Souveränität, Einheit und Unabhängigkeit zu wahren.

Für Deutschland und Europa wird dieser Konflikt zur Gretchenfrage im transatlantischen Verhältnis zu den USA: „Sag, wie hältst Du’s mit China?“. Mehr als der Streit über die NATO-Beiträge, den Iran oder Handelskonflikte wird die Haltung Europas zur zentralen Belastungsprobe für das transatlantische Verhältnis. Vor allem für Deutschland. Im Kalten Krieg 1.0 zwischen dem Westen und der Sowjetunion waren neben den politischen auch die ökonomischen Grenzen klar. Die Gegner standen fest: Hier die marktwirtschaftlichen Demokratien und dort die sowjetisch kontrollierten Planwirtschaften. Zwischen diesen beiden Blöcken gab es nur sehr begrenzte wirtschaftliche Kooperationsformen. Zudem waren sie meist klar asymmetrisch verteilt. Der technologisch oftmals überlegene und wirtschaftlich starke Westen unterhielt mit dem unterlegenen Osten Handelsbeziehungen. Das galt vor allem für uns Deutsche, die zudem die Systemgrenze physisch täglich vor Augen hatten.

Antagonist und Partner

Heute ist die Grenzziehung weitaus komplizierter. Wir sehen nicht nur optisch keine Grenze, sondern China ist für uns weit widersprüchlicher als es die alte Sowjetunion war. China ist natürlich politischer Antagonist, eine Diktatur, mit deren gesellschaftlichen Vorstellungen wir nichts zu tun haben wollen. Schon deshalb kann es keine Äquidistanz Deutschlands oder Europas zu China und den USA geben. Aber China ist eben zugleich Partner, Markt und preiswerter Zulieferer.

Gerade der deutsche wirtschaftliche Erfolg – und damit auch der soziale und ökologische – besteht darin, eine der offensten Volkswirtschaften der Welt zu sein. (Fast) jeder kann bei uns investieren, wir aber tun es in noch viel größeren Maße auch überall in der Welt. So hat China zuletzt etwa vier Milliarden Euro in Deutschland investiert, wir dagegen in China mehr als 20 Milliarden Euro. Wir beziehen Rohstoffe aus aller Welt, haben global überall Fertigungsstätten und eine High-End-Produktion bei uns zuhause. Das nennt man wohl Globalisierung, deren eindeutiger Gewinner wir Deutschen sind. De-Globalisierung, Autarkie und Decoupling sind Schlachtrufe, die diesen Erfolg der deutschen (und europäischen) Volkswirtschaft massiv untergraben würden. Europa steht also vor der schwierigen Aufgabe, eine eigene und möglichst einheitliche Haltung zu diesem Konflikt zu entwickeln.

Die eindeutigen Gewinner der Globalisierung sind die Deutschen.

Appeasement und Konfrontation

Denn bislang versuchen alle Länder im Alleingang ihre Verhältnisse mit dem Reich der Mitte zu regeln. Die nationalen Strategien reichen von Appeasement (Beschwichtigungspolitik) bis zur Konfrontation. Ein auf nationale Alleingänge der USA festgelegter amerikanische Präsident wie Donald Trump ist dabei sogar im Interesse der chinesischen Führung. Denn damit wird der alte Westen gespalten und weit weniger durchsetzungsfähig. Der neue US-Präsident Joe Biden versucht nicht zuletzt deshalb, alte Allianzen wie die NATO zu erneuern und neue wie das sogenannte „Quad Format“ mit den USA, Indien, Japan und Australien und demnächst auch mit Südkorea zu schaffen.

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Man kann ein 1,4-Milliarden-Volk nicht unter Hausarrest stellen, wie es sich offenbar die Strategen der Decoupling-Idee vorstellen. Aber gemeinsam könnten die USA, Europa, Japan, Südkorea, Australien und einige andere demokratische Industriestaaten China im Sinne eines fairen Welthandels durchaus disziplinieren. Dafür allerdings darf man die internationalen Institutionen wie die WTO oder WHO nicht verlassen oder handlungsunfähig machen, sondern muss sie einer grundlegenden Reform unterziehen. Und warum sollen die demokratischen Industriestaaten es nicht schaffen, mit der chinesischen Seidenstraße durch ein eigenes und gemeinsames Infrastrukturprojekt in den Wettbewerb zu gehen? Nicht wenige Entwicklungs- und Schwellenländer wären froh, eine Wahl zu haben. Joe Bidens Initiative „B3W“ („Build Back Better World") ist der erste Versuch, international und vor allem in Zentralasien und Afrika in den Wettbewerb mit China zu treten.

Die Corona-Pandemie ist nicht Auslöser, sondern Brandbeschleuniger dieser Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Es geht in den USA darum, die letzten 40 Jahre einer immer engeren wirtschaftlichen Beziehung zu China rückgängig zu machen. Viele Republikaner und Demokraten wollen zurück in die Zeit vor Richard Nixons Besuch bei Mao Zedong im Jahr 1972. Alles, was danach geschah, empfinden nicht wenige Amerikaner als stetig steigende Abhängigkeit der USA von chinesischen Fabriken, Firmen und Investitionen.

Bis zu diesem Zeitpunkt versuchten alle westlichen Länder, ihr Verhältnis zu China im Alleingang zu ordnen.

Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass die von US-Außenminister Henry Kissinger und US-Präsident Richard Nixon 1972 begonnene antagonistische Kooperation mit China – die wirtschaftliche Zusammenarbeit zweier ideologischer Gegner – natürlich das Ziel hatte, den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen. „Grand Strategy" hieß damals, den existierenden ideologischen und politischen Konflikt zwischen zwei sich kommunistisch nennenden Regimen – China und Sowjetunion – zu nutzen und wo immer möglich zu forcieren. Nicht Naivität gegenüber China trieben Nixon und Kissinger an, sondern das Ziel, eine neue „chinesische Mauer“ zu errichten – dieses Mal gegen den Einfluss aus Moskau.

Druck erzeugt Reaktion

Und auch heute verbindet China wenig mit Russland, zumal aus chinesischer Sicht Russland eher als zweitklassige Macht gilt. Aber die Sanktionspolitik und der wachsende Druck aus den USA führen bereits zur Annäherung der beiden großen Rivalen. Zum Beispiel in der Shanghai-Gruppe. Dort treffen sich viele Staaten, die ansonsten wenig bis nichts miteinander gemein haben – außer ihrer Gegnerschaft zur westlich dominierten „liberal order“ Welt.

Dong Wanxu, der CEO von Beijing Trans Eurasia International Logistics, winkt von einem Containerzug im Hafen von Rügen
Im November 2019 wurden die ersten 41 Container eines Testzuges der Seidenstraße-Initiative im Hafen Mukran auf Rügen entladen. © Getty Images

Die einstige Führungsmacht des Westens will sich dem autoritären China entgegenstellen. Denn eines unterschied die Supermacht USA bisher von China und Russland. Die beiden Länder hatten und haben keine verlässliche Partner oder Alliierte.

Die Entkoppelungsstrategie von China ist also eine 180-Grad-Wende amerikanischer Geostrategie. Der US-Gesetzgeber und sein Verwaltungsapparat entwickeln eine Reihe von Maßnahmen, um Teile der beiden größten Volkswirtschaften der Welt zu spalten: Verbote einer Vielzahl sensibler Exporte, zusätzliche Zölle auf chinesische Waren, erzwungene Rückholung von US-Unternehmen (Re-Shoring). Die Zugbrücken sollen hochgezogen werden – und das nach dem Willen der USA nicht nur in Amerika, sondern auch bei all ihren politischen Alliierten, vor allem in Europa und Deutschland. Und von links bis rechts wird dies von einer politischen Stimmung begleitet, für die unsere beispiellose Globalisierung offenbar zu weit gegangen ist.

Chinas scharfe Antwort

China geht längst davon aus, dass sich diese Verschlechterungen in den Beziehungen mit den USA nicht mehr verhindern lassen. Außergewöhnlich ist dabei, dass selbst in China hochrangige Papiere in die Öffentlichkeit gelangen, in denen die chinesische Führung aufgefordert wird, sich auf militärische Konflikte vorzubereiten. Und auch die Kontroversen der chinesischen Regierung mit anderen Staaten und Nachbarn zeigen ein hohes Maß an Nervosität. Pekings Reaktion auf die Forderung der australischen Regierung nach einer Untersuchung des Coronavirus in China war besonders scharf. Heftige diplomatische Kritik wurde mit konkreten Maßnahem verbunden. Rindfleischimporte wurden ausgesetzt, Ermittlungen gegen australische Unternehmen eröffnet und Steuererhöhungen auf australische Gerste angedroht. Vor einer weiteren Eskalation mit den Vereinigten Staaten möchte die chinesische Regierung anderen Ländern absolut unmissverständlich eine Botschaft übermitteln: dass eine Unterstützung der amerikanischen Politik sich als sehr kostspielig erweisen wird.

Der chinesische Präsident Xi hat durch den großen wirtschaftlichen und politischen Aufstieg seines Landes sehr viel zu verlieren. Neben aller Nervosität und Härte, ist das auch der Grund, warum China gut kalkulierte Antworten auf die Herausforderungen geben will.

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Ungebremste oder erratische Reaktionen sind eher nicht zu erwarten. Die große Frage bleibt, wie der neue Präsident Joe Biden das Verhältnis entwickeln wird. Bleibt es bei einer konfliktorien­tierten Haltung, was angesichts der ­Stimmung unter Republikanern und Demokraten im Kongress nicht ausgeschlossen ist, stehen beide Länder vor einer potenziell historischen Zäsur. Dieser wäre vielleicht nur mit dem Bruch der ersten großen Globalisierungswelle im Jahr 1914 zu vergleichen. Dabei stürzten Volkswirtschaften wie Großbritannien und Deutschland und später die Vereinigten Staaten in einen wirtschaftlichen Nationalismus, der dreißig Jahre lang nicht aufhörte.

Auch wenn heute nicht unmittelbar ein militärischer Konflikt droht, bleibt die Sorge, dass dieser Rückfall in den Wirtschaftsnationalismus auch katastrophale Folgen haben wird. Denn wie sollen die großen Menschheitsfragen des Klimaschutzes, der wachsenden Proliferation nuklearer Waffen, Pandemien oder Hunger und Armut ohne eine Zusammenarbeit mit China bewältigt werden? China einzubinden in eine faire internationale Ordnung ist gewiss nicht leicht. Das nicht zu versuchen, dürfte aber deutlich schwierigere Zeiten zur Folge haben.

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Conclusio

Die Hoffnung des Westens ist geplatzt: Eine politische Öffnung Chinas mittels wirtschaftlicher Einbindung ist gescheitert. Das Land ist immer noch weit von einer freien Marktwirtschaft entfernt. Pekings Prestigeprojekt, die „Neue Seidenstraße“, erzeugt keine Beziehungen auf Augenhöhe, sondern Abhängigkeiten. Die USA sehen China zunehmend als strategischen Rivalen. Mit der wirtschaftlichen Entkoppelung der Vereinigten Staaten vom chinesischen Markt soll Peking in die Knie gezwungen werden. Europa steht dabei zwischen den Stühlen, denn China ist Antagonist und Partner zugleich. Eines ist klar: Die großen Menschheitsfragen unserer Zeit können nicht ohne China gelöst werden. Das „Reich der Mitte“ in eine regelbasierte und faire internationale Ordnung einzubinden wird nicht einfach. Es nicht einmal zu versuchen würde die Lage verschlechtern: Die Folge wären noch ungleichere und schwierigere Beziehungen mit der neuen Supermacht.